Selma Silberstein

Verlegeort
Blücherstr. 61 b
Historischer Name
Urbanstr. 188
Bezirk/Ortsteil
Kreuzberg
Geboren
12. März 1881 in Czempin (Posen) / Czempiń
Deportation
am 01. März 1943 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Selma Silberstein wurde am 12. März 1881 in Czempin in der damaligen preußischen Provinz Posen (dem heutigen Czempiń in Polen) geboren. Die Ortschaft liegt etwa 30 Kilometer südwestlich der Stadt Posen (Poznań). Ihre Eltern, der Kaufmann Hermann Silberstein (1847–1911) und Marie Silberstein, geborene Machol (1852–1922), hatten 1876 in Czempin geheiratet und sich in der Stadt niedergelassen. Selma hatte mindestens vier Geschwister: Ihre älteren Geschwister Karl und Luise waren 1877 und 1879 geboren worden; ihre jüngeren Brüder Julius und Hugo kamen 1882 und 1884 zur Welt. Im Jahr 1903 erwarb ihr Vater Hermann Silberstein ein Grundstück an der Adresse Grüner Markt 7 (plac Zielony Rynek) in Czempin, ließ dort zwischen 1904 und 1907 Mietshäuser errichten und richtete sich ein Ladengeschäft für Haushaltswaren ein. Leider haben sich keine weiteren Quellen zum Elternhaus, der Kindheit und Jugend von Luise Silberstein und ihren Geschwistern in Czempin erhalten. Ihre Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde der Stadt, zu der zum Zeitpunkt von Selmas Geburt etwa 200 der rund 2200 Einwohner Czempins zählten.

Es ist nicht bekannt, ob und welche Ausbildung Selma Silberstein nach ihrem Schulabschluss erhielt. Ihre Brüder Karl, Julius und Hugo absolvierten kaufmännische Lehren. Anfang der 1910er-Jahren heiratete ihre Schwester Luise den aus Murowana Goslin (Murowana Goślina) stammenden Kaufmann Philipp Cohn, der den Familienbetrieb am Grünen Markt als Kolonialwarengeschäft übernahm. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Philipp Cohn genauso wie Selmas Brüder Hugo und Julius Silberstein rekrutiert beziehungsweise als Kriegsfreiwilliger eingezogen. Julius Silberstein war Soldat beim Infanterie-Regiment 141. Er wurde bei Gefechten seines Regiments im August 1915 bei der französischen Gemeinde Gury getötet. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde Czempin aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages 1920 polnisch. Die Familie verkaufte den Besitz am Grünen Markt – die Mietshäuser samt dem Ladengeschäft – und Selma Silberstein, ihre verwitwete Mutter Marie, das Ehepaar Cohn und deren zwei Töchter Thea (*1913) und Hertha (*1919) zogen zunächst nach Leesen (Leźno) bei Danzig an die Adresse Neuer Marktplatz 38 (Nowy Rynek) und von dort nach Berlin, wo im April 1921 Selmas Neffe Siegbert geboren wurde und im März 1922 ihre Mutter Marie verstarb. Ihre beiden Brüder Karl und Hugo Silberstein hatten sich bereits zuvor mit ihren Ehefrauen in Berlin niedergelassen. Selma lebte in Berlin mit ihrer Schwester Luise und deren Ehemann in der Lindenstraße 113 in Kreuzberg unweit des Belle-Alliance-Platzes (heute Mehringplatz). Leider haben sich keine weiteren Zeugnisse erhalten, die einen Einblick in das Leben von Selma Silberstein im Berlin der Weimarer Republik geben könnten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Selma Silberstein und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden und Anfang der 1930er-Jahre hatte die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zugenommen. Ab 1933 institutionalisierte sich der Rassismus mit Hilfe staatlicher Autorität. Gesetze und Sondererlasse drängten Selma Silberstein und ihre Familienangehörigen zunehmend in die Position von Rechtlosen. 1934 zog sie mit ihrer Schwester Luise, deren Mann und deren Kindern in eine Wohnung in der Urbanstraße 188 an der Kreuzung zur Blücherstraße in Kreuzberg. Selmas Nichte Thea arbeitete Mitte der 1930er-Jahre bei einer jüdischen Vereinigung, die Auswanderungen insbesondere Jugendlicher vorbereitete und organisierte. Dort lernte Thea ihren späteren Ehemann Alex Deutsch kennen, den sie im Juni 1938 heiratete. Ob auch Selma Silberstein oder Theas Eltern Pläne verfolgten, in den 1930er-Jahren das Land zu verlassen, ist nicht bekannt. Sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. Ende der 1930er-Jahre konnte Luises Ehemann nicht mehr als Kaufmann tätig sein. Mehrere Haushaltsmitglieder mussten Zwangsarbeit leisten: Selmas Neffe Siegbert als Arbeiter, Theas Ehemann Alex Deutsch und der 60-jährige Philipp Cohn als Arbeiter beim Bau und auch Selma Silberstein, die zuletzt Arbeiterin beim Wernerwerk F für Fernmeldetechnik in Berlin-Siemensstadt war. In der Wohnung in der Urbanstraße lebten Anfang der 1940er-Jahre die alleinstehende Selma Silberstein, ihre Schwester Luise und deren Ehemann Philipp Cohn mit ihren Kindern Hertha, Siegbert und Thea sowie Theas Ehemann Alex Deutsch und deren im Oktober 1940 geborener Sohn Denny. Spätestens Anfang der 1940er-Jahre war das Leben für die Familienmitglieder in Berlin zum Existenzkampf geworden. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Im Herbst 1942 wurde die Familie in der Urbanstraße 188 gewaltsam auseinandergerissen, als Luise und Philipp Cohn zusammen mit ihren Kindern Hertha und Siegbert den Deportationsbescheid erhielten. Sie wurden, nachdem sie in einem der Berliner Sammellager interniert wurden, am 29. November 1942 mit dem „23. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort – vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft – ermordet. Selma Silberstein sowie Thea, Alex und Denny Deutsch lebten noch bis ins Frühjahr 1943 in der Wohnung in der Urbanstraße. Im Februar 1943 wurde Selma Silberstein genauso wie Thea und Alex Deutsch im Zuge der „Fabrik-Aktion“, bei der die letzten offiziell in der Hauptstadt verbliebenen Juden deportiert werden sollten, in Berlin verhaftet und in eines der Berliner Sammellager verschleppt. Von dort wurde Selma Silberstein am 1. März 1943 mit dem „31. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Selma Silberstein war zum Zeitpunkt der Deportation 61 Jahre alt.

Nut wenige ihrer Familienangehörigen überlebten die NS-Verfolgung: Ihr Bruder Karl Silberstein, der in den 1910er- und 1920er-Jahren in Berlin als Bankbeamter gearbeitet hatte und mit seiner Ehefrau Erna Silberstein, geborene Gallewski, und dem gemeinsamen Sohn Heinz (*1920) zuletzt in der Isoldestraße 6 wohnte, war mit seiner Frau am 13. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet worden. Ihr Neffe Heinz war am 2. April 1942 in das Ghetto Warschau deportiert worden und entweder dort oder in einem Vernichtungslager ermordet worden. Er gehörte jedenfalls nicht zu den wenigen Überlebenden des Warschauer Ghettos. Luises Bruder Hugo Silberstein war in den 1930er-Jahren Kaufmann in Berlin-Dahlem gewesen. Ihm gelang es mit seiner Ehefrau Else Silberstein, geborene Jacheles, und ihrer Tochter Inge (*1917) Mitte der 1930er-Jahre aus Deutschland zu entkommen. Sie lebten später in Spanien. Thea und Denny Deutsch wurden einen Tag nach Selma am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Alex Deutsch, der am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, wurde als Häftling in das Lager Auschwitz-Monowitz selektiert, wo er schwerste körperliche Zwangsarbeit verrichten musste („Vernichtung durch Arbeit“). Im Januar 1945 verließ er Auschwitz auf dem Todesmarsch nach Gleiwitz (Gliwice). Von dort aus wurde er in das KZ Buchenwald weiterdeportiert und kam anschließend in das Außenlager Langenstein-Zwieberge in der Nähe von Halberstadt, wo er Ende April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit wurde.