Alice Kirchner geb. Levy

Verlegeort
Havensteinstr. 18
Historischer Name
Havensteinstr. 16e
Bezirk/Ortsteil
Lankwitz
Verlegedatum
27. April 2012
Geboren
09. Februar 1896 in Saarlois
Beruf
Lehrerin
Verhaftet
18. Juli 1942 in Berlin
Verhaftet
Juli 1942 bis April 1943 im "Arbeitserziehungslager" Fehrbellin
Deportation
im April 1943 nach Auschwitz
Ermordet
30. April 1943 in Auschwitz

Alice Kirchners Tochter Marianne erinnert sich unter der Überschrift „Es geschah im Sommer 1942“:<br />
<br />
„Schon seit einem Jahr war ich bei meinen Großeltern väterlicherseits in Bad Homburg v.d.H., da meine Mutter (eigentlich Lehrerin) gezwungen war, in einer Fabrik zu arbeiten. Folglich war sie den ganzen Tag nicht da, und meine Verwandten waren der Meinung, dass ich nicht allein sein konnte und bei meinen Großeltern besser aufgehoben war.<br />
<br />
Als die Sommerferien begannen, wollte ich unbedingt wenigstens für die Zeit der Ferien zu meiner Mutter nach Berlin. Meine Großeltern waren absolut dagegen; sie hielten es für zu gefährlich, um so mehr, da ich hätte allein reisen müssen, und wohl auch, weil sie besser als ich über die Judenverfolgungen informiert waren. Um meinen Willen durchzusetzen, habe ich schließlich einen Hungerstreik begonnen, und so gaben meine Großeltern nach.<br />
<br />
Als letztes gab mir mein Großvater meinen Taufschein mit dem Befehl, diesen sofort meiner Mutter auszuhändigen. Die Fahrt in den maßvoll überfüllten Zügen war recht abenteuerlich, aber ich kam gut an und meine Mutter erwartete mich am Anhalter Bahnhof. Unsere Freude, wieder zusammen zu sein, war unendlich. Vermutlich war es meiner Mutter gelungen, ein paar Tage frei zu sein, denn wir verbrachten die Tage wie gewohnt: mit vielen Spaziergängen.<br />
<br />
Es waren genau zwei Wochen seit meiner Ankunft vergangen, als Samstag morgens sehr früh zwei Herren in Zivil bei uns klingelten und sich als Gestapo qualifizierten, mit der Aufgabe eine Hausdurchsuchung durchzuführen.<br />
<br />
Was sie suchten, weiß man nicht und sie fanden wohl auch nichts; wunderten sich nur, dass bei den vielen Büchern noch meines Vaters sich auch ein Band von Hitlers „Mein Kampf“ befand. Während dieser Durchsuchung, die über Stunden ging, rief mich einer der beiden in die Küche und sagte mir, meine Mutter müsse mit ihnen kommen und frug mich, was ich tun wolle, ob mit ihr gehen oder zu den Bekannten gebracht zu werden, wie meine Mutter ihnen gesagt hatte. Meine Antwort war natürlich: „Ich gehe mit meiner Mutter!“ Meine Mutter hörte meine Antwort, riss die Tür auf und sagte: „Das Kind geht zu den Bekannten“. Die beiden Gestapoleute fragten sie, wie sie so etwas sagen können und sie antwortete nur: „Das Kind ist getauft“, und übergab ihnen meinen Taufschein. Und so mussten sie nachgeben. Zum letzten Mal bereitete meine Mutter mir das Frühstück.<br />
<br />
Inzwischen war auch ein dritter Gestapomann erschienen. Zwei von ihnen waren bereit, mich zu begleiten, einer blieb bei meiner Mutter. Zum Abschied (meine Mutter wusste sicher, dass es für immer war; ich natürlich nicht) sagte sie mir nur: „Kind, bleib immer brav.“<br />
<br />
Ich blieb bis Ende der Ferien bei unseren Bekannten. Während dieser Zeit hatte ich immer die Hoffnung, meine Mutter wieder zu sehen, aber dann musste ich zurück nach Bad Homburg, denn die Schule begann. Kaum war ein Monat vergangen, dass ich im Gymnasium war, als der Direktor meine Großeltern wissen liess, dass ich als Halbjude die Schule nicht besuchen dürfe, und so musste ich in die Volksschule zurück. Es war wohl der traurigste Sommer in meinem Leben!“<br />
<br />
Frau Kirchner wurde am 18. Juli 1942 verhaftet und in das Arbeitslager Fehrbellin gebracht. Von dort wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.<br />
<br />
Die ursprüngliche Wohnadresse lautet Havensteinstraße 16e.<br />
<br />
Das Haus und viele umliegende Gebäude wurden im Krieg zerstört und in den 1950er Jahren völlig anders wieder aufgebaut. Die Adresse entspricht in etwa der heutigen Hausnummer 18.

Alice Kirchners Tochter Marianne erinnert sich unter der Überschrift „Es geschah im Sommer 1942“:

„Schon seit einem Jahr war ich bei meinen Großeltern väterlicherseits in Bad Homburg v.d.H., da meine Mutter (eigentlich Lehrerin) gezwungen war, in einer Fabrik zu arbeiten. Folglich war sie den ganzen Tag nicht da, und meine Verwandten waren der Meinung, dass ich nicht allein sein konnte und bei meinen Großeltern besser aufgehoben war.

Als die Sommerferien begannen, wollte ich unbedingt wenigstens für die Zeit der Ferien zu meiner Mutter nach Berlin. Meine Großeltern waren absolut dagegen; sie hielten es für zu gefährlich, um so mehr, da ich hätte allein reisen müssen, und wohl auch, weil sie besser als ich über die Judenverfolgungen informiert waren. Um meinen Willen durchzusetzen, habe ich schließlich einen Hungerstreik begonnen, und so gaben meine Großeltern nach.

Als letztes gab mir mein Großvater meinen Taufschein mit dem Befehl, diesen sofort meiner Mutter auszuhändigen. Die Fahrt in den maßvoll überfüllten Zügen war recht abenteuerlich, aber ich kam gut an und meine Mutter erwartete mich am Anhalter Bahnhof. Unsere Freude, wieder zusammen zu sein, war unendlich. Vermutlich war es meiner Mutter gelungen, ein paar Tage frei zu sein, denn wir verbrachten die Tage wie gewohnt: mit vielen Spaziergängen.

Es waren genau zwei Wochen seit meiner Ankunft vergangen, als Samstag morgens sehr früh zwei Herren in Zivil bei uns klingelten und sich als Gestapo qualifizierten, mit der Aufgabe eine Hausdurchsuchung durchzuführen.

Was sie suchten, weiß man nicht und sie fanden wohl auch nichts; wunderten sich nur, dass bei den vielen Büchern noch meines Vaters sich auch ein Band von Hitlers „Mein Kampf“ befand. Während dieser Durchsuchung, die über Stunden ging, rief mich einer der beiden in die Küche und sagte mir, meine Mutter müsse mit ihnen kommen und frug mich, was ich tun wolle, ob mit ihr gehen oder zu den Bekannten gebracht zu werden, wie meine Mutter ihnen gesagt hatte. Meine Antwort war natürlich: „Ich gehe mit meiner Mutter!“ Meine Mutter hörte meine Antwort, riss die Tür auf und sagte: „Das Kind geht zu den Bekannten“. Die beiden Gestapoleute fragten sie, wie sie so etwas sagen können und sie antwortete nur: „Das Kind ist getauft“, und übergab ihnen meinen Taufschein. Und so mussten sie nachgeben. Zum letzten Mal bereitete meine Mutter mir das Frühstück.

Inzwischen war auch ein dritter Gestapomann erschienen. Zwei von ihnen waren bereit, mich zu begleiten, einer blieb bei meiner Mutter. Zum Abschied (meine Mutter wusste sicher, dass es für immer war; ich natürlich nicht) sagte sie mir nur: „Kind, bleib immer brav.“

Ich blieb bis Ende der Ferien bei unseren Bekannten. Während dieser Zeit hatte ich immer die Hoffnung, meine Mutter wieder zu sehen, aber dann musste ich zurück nach Bad Homburg, denn die Schule begann. Kaum war ein Monat vergangen, dass ich im Gymnasium war, als der Direktor meine Großeltern wissen liess, dass ich als Halbjude die Schule nicht besuchen dürfe, und so musste ich in die Volksschule zurück. Es war wohl der traurigste Sommer in meinem Leben!“

Frau Kirchner wurde am 18. Juli 1942 verhaftet und in das Arbeitslager Fehrbellin gebracht. Von dort wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Die ursprüngliche Wohnadresse lautet Havensteinstraße 16e.

Das Haus und viele umliegende Gebäude wurden im Krieg zerstört und in den 1950er Jahren völlig anders wieder aufgebaut. Die Adresse entspricht in etwa der heutigen Hausnummer 18.