Martin Schlesinger

Verlegeort
Bartningallee 3
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
23. Mai 2014
Geboren
07. April 1926 in Berlin
Deportation
am 09. Dezember 1942 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Martin Schlesinger wurde am 7. April 1926 in Berlin geboren. Er war der zweitälteste Sohn des Lehrers und Schuldirektors Dr. Nachman Schlesinger (*1883 in Hamburg). Seine Mutter Käthe Schlesinger, geborene Bauer (*1898 in Hamburg), stammte aus einer wohlhabenden Hamburger Familie; sein Vater aus einer Hamburger Lehrer- und Kaufmannsfamilie. Martins Vater hatte an der Universität Berlin studiert und promoviert, ab Ende der 1900er-Jahre die Tachkemoni-Mittelschule in Jaffa geleitet und Ende der 1910er-Jahre einen Rektorenposten in Kaunas bekleidet. Anfang der 1920er-Jahre war er von der Israelitischen Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel nach Berlin berufen worden, wo er das dortige Schulwerk der Gemeinde mitaufbaute. Drei Jahre vor Martins Geburt hatten seine Eltern 1923 in Hamburg geheiratet und sich nach der Hochzeit einen gemeinsamen Haushalt in Berlin eingerichtet, wo zwischen 1924 und 1934 neben Martin auch dessen acht Geschwister David (*1924), Hanna (*1924), Fanny (*1927), Rosa (*1929), Samuel (*1930), Rahel (*1931), Betty (*1933) und Michael (*1934) zur Welt kamen. Die Familie bewohnte Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre eine Wohnung in der Levetzowstraße 16a in Moabit unweit der Synagoge der Jüdischen Gemeinde. 1933/1934 zogen die Schlesingers in eine Sechseinhalbzimmer-Wohnung in der Wullenweberstraße 4–5 und 1938 schließlich in eine Wohnung in der Lessingstraße 13 (heutige Bartningallee 3) im Hansaviertel.

Spätere Berichte von Bekannten der Familie, die in der Entschädigungsakte enthalten sind, vermitteln einen groben Eindruck von der Familienwohnung in der Wullenweberstraße zur Zeit der Weimarer Republik. So war die Wohnung im Berliner Westen nach übereinstimmenden Berichten gutbürgerlich eingerichtet. Zur Unterstützung bei der Kindesbetreuung halfen Kindermädchen, im Esszimmer befand sich ein Klavier, an dem musiziert wurde, ganz besonderen Eindruck machte aber die Bibliothek von Nachman Schlesinger im Herrenzimmer mit mehr als 2000 Werken – darunter seltenen Judaica, Hebraica, eine große Sammlung deutscher Klassiker sowie französische und englische Fachliteratur. Die mit der Familie befreundete Oberschullehrerin Rahel Lehmann berichtete: „Die Bibliothek umfasste die Wände des großen Herrenzimmers bis hoch hinauf an die Decke. Dieses Zimmer war sein [Dr. Schlesingers] Heiligtum. Doch immer bewunderte ich im Hause Schlesinger die geistige Atmosphäre, die auch durch die feinsinnige Gattin des Verstorbenen geschaffen wurde.“ Dr. Schlesinger war mit Pädagogen wie Joseph Carlebach (1883–1942) und Leo Deutschländer (1889–1935) einer der wichtigsten deutsch-(neo-)orthodoxen Lehrer seiner Zeit und die Verbindung von traditionellem Judentum und moderner weltlicher Zugewandtheit („Torah im Derech Eretz“-Ideal), der Verbindung von Religiosität, akademischer Bildung und deutsch-jüdischer Identität prägte sicher das Leben jedes einzelnen Angehörigen der Familie Schlesinger im Berlin der Weimarer Republik. Martin Schlesinger war Schüler des Schulwerks der Gemeinde Adass Jisroel am Siegmundshof im Tiergarten (Grund- und Volksschule sowie Gymnasium und Lyzeum), an deren Volksschule sein Vater ab Mitte der 1920er-Jahre als Oberlehrer Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtete und ab 1930 das dortige Reformrealgymnasium und Oberlyzeum als Rektor leitete.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen Martin Schlesinger und seine Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Bildungs- und Berufsleben. Martin und seine Geschwister erfuhren als Heranwachsende Rassismus und antijüdische Gesetze unmittelbar in der NS-Bildungspolitik: Bereits Ende April 1933 war dem Siebenjährigen mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ generell der Zugang zu höherer Schulbildung versperrt worden. Die Trennung von jüdischen und nichtjüdischen Schülern ab 1935 und das Verbot des Besuchs öffentlicher Schulen ab 1938 traf die Schülerschaft des Schulwerks der Gemeinde Adass Jisroel zwar nicht unmittelbar, veränderte aber Charakter und Ausrichtung der Schulen, die zunehmend als Schutzräume innerhalb einer feindlichen Umgebung dienten und ihre Schüler auf Emigration und ein Leben im Exil vorbereiteten. Ob auch die Schlesingers mit ihren Kindern in den 1930er-Jahren Pläne verfolgten, aus Deutschland zu entkommen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. Nach der erzwungenen Schließung der Schulen von Adass Jisroel im März 1939, wechselte der damals zwölfjährige Martin an eine Schule der Jüdischen Gemeinde, wo er formal bis April 1942 angemeldet war. Sein Vater, der mit den Schulschließungen seinen Posten als Direktor verloren hatte, fand noch eine Anstellung als einfache Lehrkraft an der Oberschule der jüdischen Religionsgemeinde in Berlin. Martin Schlesinger war zuletzt als jugendlicher Helfer bei der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland tätig. Spätestens Anfang der 1940er-Jahre war das Leben für die Familienmitglieder in Berlin zum Existenzkampf geworden. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Nachdem auch die Oberschule der Jüdischen Gemeinde im Juli 1942 geschlossen worden war, erkrankte Martins Vater schwer. Er wurde im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße 2 behandelt. Von dort wurde der Schwerkranke am 5. Dezember 1942 auf einer Trage in die Sammelstelle in der Großen Hamburger Straße 26 verschleppt. Martin Schlesinger, seine Mutter Käthe und seine acht Geschwister mussten drei Tage später, am 8. Dezember 1942, ihre Wohnung verlassen. Sie wurden ebenfalls zunächst in der Sammelstelle in der Großen Hamburger Straße interniert. Von dort aus wurden alle elf Familienmitglieder am 9. Dezember 1942 mit dem „24. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Martin Schlesinger war zum Zeitpunkt der Deportation sechzehn Jahre alt. Sein jüngster Bruder Michael war acht Jahre alt.