Dr. Nachman Schlesinger

Verlegeort
Bartningallee 3
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
23. Mai 2014
Geboren
24. Februar 1883 in Hamburg
Deportation
am 09. Dezember 1942 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Nachman Schlesinger wurde am 24. Februar 1883 in Hamburg geboren. Er war der Sohn von Dr. David Schlesinger (1851–1921) und Rosa Schlesinger, geborene Jaffe (1857–1928). Nachmans Vater wirkte in der jüdischen Gemeinde in Hamburg als Mitglied und Lehrer an der Talmud-Tora-Realschule (Grindelhof 30). Nachman wuchs im Kreis von neun Geschwistern auf: Seine älteren Geschwister Adele, Angelika und Markus waren 1878, 1879 und 1880 in Hamburg zur Welt gekommen; seine jüngeren Geschwister Hannah, Sarah, Rebekka, Lea, Moses Mendel und Fanny wurden 1884, 1886, 1889, 1892, 1893 und 1897 ebenfalls in Hamburg geboren. Über die Kindheit und Jugend von Nachman und seinen Geschwistern im Hamburg der Kaiserzeit haben sich nur wenig Informationen erhalten. Zur Zeitpunkt seiner Geburt wohnte die Familie in einer Wohnung in der Wilhelminenstraße 32 (der heutigen Hein-Hoyer-Straße) im Stadtteil St. Pauli. Mitte der 1930er-Jahre zogen sie in die Thalstraße 57 (heute Talstraße). Die Familie zählte zur bürgerlichen Mittelschicht der Hansestadt und Nachman und seine Geschwister wuchsen in einem behüteten Umfeld auf, in welchem erkennbar Wert auf bildungsbürgerliche Tugenden und die geistige Ausbildung der Kinder in unterschiedlichen Disziplinen gelegt wurde. Mit mehreren seiner Geschwister teilte Nachman in späteren Jahren seine Leidenschaft zu Büchern. Seine heimische Bibliothek, in der er Publikationen verschiedener Fachgebiete, seltene bibliographische Ausgaben und Handschriften sammelte, war für ihn von zentraler Bedeutung und diese Liebe wurde sicher bereits im elterlichen Haushalt in Hamburg geprägt. Freunde von Nachman Schlesinger berichteten später, dass er in seiner Zeit als Junggeselle um die Jahrhundertwende ein Großteil des ihm zur Verfügung stehenden Geldes in seine Bücher- und Handschriftensammlung investierte.

Aus den vorliegenden Quellen geht nicht hervor, welche Schule Nachman Schlesinger in Hamburg besuchte, da aber von seinem älteren Bruder Markus bekannt ist, dass er bis zur Obersekunda-Reife Schüler der Talmud-Tora-Realschule in Hamburg war, scheint es nicht unwahrscheinlich, dass auch Nachman die Schule im Grindelviertel besuchte, an der sein Vater als Pädagoge wirkte, und die zu jener Zeit mit mehreren Hundert Schülern eine der größten jüdischen Schulen Norddeutschlands war. Sein Bruder Markus begann nach der Schulzeit eine kaufmännische Lehre und übernahm später das im Zentrum Hamburgs gelegene Bürowaren-Engrosgeschäft „Steindorff & Co“. Nachman schlug dagegen nach der Schulausbildung – wie sein Vater zuvor – eine akademisch-pädagogische Laufbahn ein. Er studierte in Berlin an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität zu Berlin) und wurde Studienassessor und Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer. Nach dem Studium, der Promotion und Lehrerprüfung in Deutschland übernahm er zwischen 1909 und 1911 die Leitung der hebräischen Tachkemoni-Mittelschule in Jaffa (damals Teil des Osmanischen Reiches, heutiges Israel). Ein Brief von Nachman Schlesinger aus dem Jahr 1911 an Markus Brann, Dozent am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau (Wrocław), hat sich erhalten, in dem er diesen um Unterstützung für die Schulbibliothek in Jaffa anfragt. Noch im selben Jahr musste er den Direktorenposten aufgeben. Gesundheitliche Gründe zwangen ihn zur Rückkehr nach Europa, wo er in den Kriegsjahren ab 1915 als Militärangehöriger an der Jüdischen Schule in Kaunas (Kowno) lehrte. Nachdem der dortige Direktor Joseph Carlebach (1883–1942) die Schule verließ, um ein Rabbineramt in Lübeck anzutreten, übernahm Nachman Schlesinger zwischen 1919 und 1921 den Rektorenposten in Kaunas.

Nach 1921 war er wohl noch kurze Zeit als Fachlehrer an der Leipziger Höheren israelitischen Schule tätig, bevor er Anfang der 1920er-Jahre nach Berlin wechselte, wo er das Schulwerk für die Israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel mitaufbaute. Dr. Schlesinger war in Berlin zunächst als Lehrer an der Volksschule beschäftigt, bevor er ab Mitte der 1920er-Jahre am Reformrealgymnasium der Gemeinde als Oberlehrer für Mathematik und Naturwissenschaften tätig war und 1930 zum Direktor des Gymnasiums und des Oberlyzeums berufen wurde. Im Jahr 1923 heiratete Nachman Schlesinger in Hamburg die fünfzehn Jahre jüngere Käthe Bauer (*1898). Sie war die Tochter des Hamburgers Martin Bauer und von dessen Frau Minna Bauer, geborene Nathan (1865–1940). Das Ehepaar ließ sich in Berlin nieder, wo in den folgenden Jahren mit David (*1924), Hanna (*1924), Martin (*1926), Fanny (*1927), Rosa (*1929), Samuel (*1930), Rahel (*1931), Betty (*1933) und Michael (*1934) neun Kinder zur Welt kamen. Die Familie bewohnte Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre eine Wohnung in der Levetzowstraße 16a in Moabit unweit der Synagoge der Jüdischen Gemeinde. 1933/1934 zogen die Schlesingers in eine Sechseinhalbzimmer-Wohnung in der Wullenweberstraße 4–5 und 1938 schließlich in eine Wohnung in der Lessingstraße 13 (heutige Bartningallee 3) im Hansaviertel. Spätere Erklärungen von Lehrerkollegen, die in der Entschädigungsakte enthalten sind, vermitteln einen vagen Eindruck von der Familienwohnung in der Wullenweberstraße zur Zeit der Weimarer Republik. So war die Wohnung im Berliner Westen nach übereinstimmenden Berichten gutbürgerlich eingerichtet. Zur Unterstützung bei der Kindesbetreuung halfen Kindermädchen, im Esszimmer befand sich ein Klavier, an dem musiziert wurde, ganz besonderen Eindruck machte aber die Bibliothek im Herrenzimmer mit mehr als 2000 Werken – darunter seltenen Judaica, Hebraica, eine große Sammlung deutscher Klassiker sowie französische und englische Fachliteratur. Die befreundete Oberschullehrerin Rahel Lehmann berichtete: „Die Bibliothek umfasste die Wände des großen Herrenzimmers bis hoch hinauf an die Decke. Dieses Zimmer war sein [Dr. Schlesingers] Heiligtum. Doch immer bewunderte ich im Hause Schlesinger die geistige Atmosphäre, die auch durch die feinsinnige Gattin des Verstorbenen geschaffen wurde.“

Im März 1930 erhielt das Realgymnasium unter der Leitung von Nachman Schlesinger vom Kultusminister das Recht zur Abhaltung der ersten Reifeprüfung. „Das Realgymnasium von Adass Jisroel“, schrieb Dr. Schlesinger im Schulbericht selbstbewusst, „ist damit die erste und zunächst einzige jüdische Schule innerhalb des deutschen Reiches, welche zu einer anerkannten Vollanstalt entwickelt ist.“ Dr. Schlesinger war mit Lehrern wie Joseph Carlebach und Leo Deutschländer (1889–1935) einer der wichtigsten Vertreter der Frankfurter Orthodoxie dieser Zeit, die nach den Lehren von Samson Raphael Hirsch (1808–1888) in ihrer Erziehungsarbeit eine Verbindung von traditionellem Judentum und moderner weltlicher Erziehung suchten („Torah im Derech Eretz“-Ideal). Das Ziel war die Stärkung deutsch-jüdischer Identität in einer „ebenso für das Gesellschaftsleben des Alltags wie für das Ewigkeitsleben der Thora ausgerüsteten Jugend.“ Ein zweiter Grundpfeiler seines Erziehungsideals war die kreativ-schöpferische Erziehung, nach der der Lehrer individuell auf den Schüler einging, um ihn nach dessen Interessen begleitend an Themen heranzuführen. Sinnbildlich erscheint eine spätere Episode, bei der Dr. Schlesinger jedem Abgänger der Klasse von 1932 zum 100. Todesjahr Goethes ein passendes, individuell zugeschnittenes Zitat aus dem Werk des Dichters als Zeugnisergänzung mit auf den Lebensweg gab.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen Nachman Schlesinger und seine Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Bildungs- und Berufsleben. Zwar war er als Lehrer und Direktor einer privaten Bildungseinrichtung nicht unmittelbar von den Entlassungen betroffen, die das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 nach sich zog, die rassistische NS-Bildungspolitik führte aber früh zu einer hohen Fluktuation innerhalb des Lehrkörpers und zu einer vermehrten Aufnahme jüdischer Schüler, die öffentliche Schulen nicht mehr besuchen konnten, an der Grund- und Volksschule der Gemeinde. Bildungseinrichtungen wie das von Dr. Schlesinger geleitete Realgymnasium fungierten als isolierte Schutzräume in einer zunehmend feindlichen Umgebung. So hieß es im Jahresbericht 1935: „Mit der fortschreitenden Verarmung des jüdischen Mittelstandes in Berlin mussten die sozialen Einrichtungen der Schulen weiter ausgebaut werden: Die Schulspeisungen wurden in immer weiterem Maße in Anspruch genommen.“ Das führte zu einem Richtungswechsel, durch den die Schülerschaft vermehrt auf Emigration und das Leben im Ausland vorbereitet wurde. Bereits der Schulbericht 1934 vermerkte: „Auf Wunsch vieler Schüler sind während der Nachmittagsstunden freie Kurse in Neuhebräisch abgehalten worden. […] Der Abgang in handwerkliche Berufe sowie in die Vorbereitungsstellen für die Auswanderung, besonders nach Palästina, umfasste den weitaus größten Teil der Schulentlassungen.“ Ob auch Dr. Schlesinger in den 1930er-Jahren Pläne verfolgte mit seiner Familie aus Deutschland zu entkommen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollte er konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. Nachdem sich der Rabbiner Dr. Michael Munk (1905–1984) im November 1938 aus Deutschland ins Exil retten konnte, übernahm Nachman Schlesinger auch rabbinische Funktionen in der Gemeinde. Gesetze und Sondererlasse drängten Nachman Schlesinger und seine Angehörigen zunehmend in die Position von Rechtlosen im eigenen Land. Nach der erzwungenen Schließung der Schulen von Adass Jisroel im März 1939 konnte Nachman Schlesinger noch als Lehrer an der Oberschule der jüdischen Religionsgemeinde in Berlin arbeiten. Wie die Aufzeichnungen des Überlebenden Ezra Feinberg (unter dem Pseudonym Joel König) zeigen, half Nachman Schlesinger in den 1940er-Jahren noch ehemaligen Schülern unter erheblicher persönlicher Gefahr. Als dieser sich in der Illegalität bei ihm meldete, versteckte er ihn kurzerhand bei seiner Familie in der Wohnung in der Lessingstraße 13, bis dessen Eltern ihm ein anderes Versteck organisieren konnten. Das Leben war für Nachman Schlesinger und seine Familie im Berlin der 1940er-Jahren zum Existenzkampf geworden. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Nachdem auch die Oberschule der Jüdischen Gemeinde im Juli 1942 geschlossen wurde, erkrankte Nachman Schlesinger schwer. Er wurde im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße 2 behandelt.

Dort erhielt Dr. Schlesinger den Deportationsbescheid. Der schwerkranke 59-Jährige wurde am 5. Dezember 1942 auf einer Trage aus dem Jüdischen Krankenhaus in die Sammelstelle in der Großen Hamburger Straße 26 verschleppt. Seine Ehefrau Käthe und seine neun Kinder wurden drei Tage später, am 8. Dezember 1942, aus ihrer Wohnung vertrieben und ebenfalls in der Sammelstelle interniert. Am folgenden Tag wurden alle elf Familienmitglieder mit dem „24. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nachman Schlesingers ältester Sohn David war zu diesem Zeitpunkt achtzehn Jahre alt, sein jüngstes Kind Michael acht.

Von seinen Geschwistern überlebten Lea Schlesinger und Fanny, verheiratete Cohn, im Exil. Sie lebten später in Israel. Seine Schwester Angelika war bereits im Kindesalter mit fünf Jahren 1885 in Hamburg verstorben, seine älteste Schwester Adele starb 1939. Seine Schwester Hannah, verheiratete Engel, war bereits in den 1910er-Jahren in die Levante ausgewandert und lebte später in Israel. Sein Bruder Mosel Mendel Schlesinger überlebte die NS-Verfolgung im Exil in den USA. Das Schicksal seiner Schwestern Sarah und Rebecca geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sein Bruder Markus Schlesinger war mit seiner Familie im November 1941 in das Ghetto Minsk deportiert worden und entweder dort oder zu einem späteren Zeitpunkt in einem der Vernichtungslager ermordet worden.