Leo Mendelsohn

Verlegeort
Thomasiusstraße 24
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
08. August 2014
Geboren
12. Januar 1885 in Mewe (Westpreußen) / Gniew
Beruf
Händler für Schirme und Lederwaren
Verhaftet
10. November 1938 bis 02. Dezember 1938 im KZ Sachsenhausen
Verstorben an den Folgen von Haft und Folter
26. November 1939 in der Thomasiusstraße 24

Leo Mendelsohn wurde am 12. Januar 1885 in der Kleinstadt Mewe (dem heutigen Gniew) geboren. Die ehemals westpreußische Ortschaft liegt am linken Weichselufer einige Kilometer nordwestlich von Marienwerder (Kwidzyn) und etwa 60 Kilometer südöstlich von Danzig (Gdańsk). Leo Mendelsohn war der Sohn des Kaufmanns David Mendelsohn und von dessen Ehefrau Jenny Mendelsohn, geborene Supnitzki. Er wuchs in einer kinderreichen Familie auf: Das Geburtsdatum seines Bruders Israel Mendelsohn ist nicht bekannt, Bernhard Mendelsohn wurde im Jahr 1865 geboren; seine Schwestern Sara, Anna und Selma in den Jahren 1873, 1877 und 1879; seine älteren Brüder Siegfried Simon und Samuel – der allerdings nach wenigen Wochen im Säuglingsalter verstarb – wurden 1881 und 1883 in Mewe geboren und seine jüngeren Schwestern Paula und Else in den Jahren 1887 und 1890. Leider haben sich keine weiteren Informationen über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Leo Mendelsohn und seinen Geschwistern im Westpreußen der Kaiserzeit erhalten. Seine Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde von Mewe, zu der zum Zeitpunkt von Leos Geburt etwa 140 der rund 4500 Einwohner zählten.

Leo Mendelsohn absolvierte nach seinem Schulabschluss eine kaufmännische Ausbildung und war anschließend als Kaufmann tätig. Es ist nicht genau belegt, wann er seinen Geburtsort verließ, in jedem Fall war er Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin ansässig, wo er mit seiner verwitweten Mutter in einer Wohnung in der Oldenburger Straße 13 in Moabit lebte. Vermutlich waren zuvor bereits ältere Geschwister von ihm in die Hauptstadt gezogen, wie beispielsweise sein Bruder Israel Mendelsohn, der ebenfalls in Berlin als Kaufmann tätig war. 1909 wurde Leo Mendelsohn von dem Maschinenbauunternehmen „Orenstein & Koppel AG“ angestellt. Für das Unternehmen war er bis in die 1930er-Jahre tätig, zuletzt als leitender Angestellter und Ressortchef einer Buchhaltungsabteilung. In den 1900er-Jahren lernte Leo Mendelsohn seine spätere Ehefrau Belsora Becker, Bella genannt, kennen. Sie war die Tochter des Berliner Unternehmers Louis Becker, der Mitte der 1900er-Jahre in zweiter Ehe Anna Mendelsohn, eine von Leos Schwestern, geheiratet hatte. Leo und Bella heirateten im Jahr 1912. Im September 1914 wurde ihr Sohn Erwin geboren. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs folgte ihre Tochter Liselotte Mendelsohn im November 1924. Die Familie lebt in den 1920er-Jahren in einer Wohnung in der Kirchstraße 21 in Moabit. Ihr Einkommen war nicht nur durch Leos Anstellung gesichert, sondern das Ehepaar Mendelsohn betrieb seit den 1920er-Jahren auch ein Ladengeschäft für Lederwaren und Schirme in der Turmstraße 10 in Moabit. Das Geschäft war Anfang des 20. Jahrhunderts von Bellas Vater und dessen Bruder als Herrenausstattungsgeschäft „Gebr. Becker“ gegründet worden. Nach dem Tod von Louis Becker 1914 wurde das Geschäft geteilt. Die Ladenzeile zur Wilsnacker Straße 66 führte Arthur Kroll, der Ehemann von Leos jüngster Schwester Else, als Herrenausstattung weiter, während Leo und Bella den Teil zur Turmstraße hin als Schirm- und Lederwarenhandlung betrieben. Leos Sohn Erwin besuchte in Berlin das Königliche Luisengymnasium in der Wilsnackerstraße. Nach dem Abitur wanderte er im September 1933 nach Palästina aus. Leo, Bella und Liselotte verblieben in Berlin. Ob sie später auch Pläne verfolgten, aus Deutschland zu entkommen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen Leo Mendelsohn und seine Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Bildungs- und Berufsleben. Seit 1933 waren die Mendelsohns auch als Geschäftsinhaber von den antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die in Berlin ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen im Juni und November 1938 erfuhren. Im Dezember 1933 wurde Leo Mendelsohn aus seiner leitenden Anstellung bei der Orenstein & Koppel AG entlassen. Mitte der 1930er-Jahre zogen Leo, Bella und Liselotte Mendelsohn in eine Wohnung in der Thomasiusstraße 24 am Spreebogen in Moabit. Es handelte sich um eine Dreizimmerwohnung im ersten Stock des Gartenhauses. Zu dieser Zeit schaffte es Bella noch, ihren Sohn in Palästina zu besuchen.

Im Mai 1938 wurde Leo Mendelsohn das erste Mal von der Gestapo verhaftet. Die Entschädigungsakten enthalten ein Schreiben seiner Schwester, das einen Einblick in die Abläufe gibt: „Mein Bruder Leo Mendelsohn war in allen Kreisen, mit denen er privat oder geschäftlich zu tun hatte, hoch angesehen und galt als ein gradliniger grundehrlicher und solventer Mann. […] Das erste Mal wurde [er] im Mai oder Juni 1938 von einer von NS-Agitatoren aufgehetzten Menschenansammlung, die sich anlässlich des Ausverkaufs des Geschäfts meines verstorbenen Ehemanns […] vor unseren benachbarten Geschäften eingefunden hatte, beschimpft und tätlich angegriffen, so dass er sich nur mit Mühe und Not in sein Geschäft retten konnte. Von dort […] konnte er in seine Wohnung gelangen, wurde aber am anderen Tag von der Gestapo verhaftet.“ Leo Mendelsohn wurde nach einigen Tagen Gestapohaft entlassen. Die Misshandlungen hinterließen aber bleibende körperliche Schäden. Im November 1938 wurde er ein zweites Mal verhaftet. Auch hierüber berichtet seine Schwester: „Das zweite Mal wurde mein Bruder Leo Mendelsohn im November 1938, im Zuge der Judenverfolgung nach der Kristallnacht, verhaftet, nachdem er die Kristallnacht [Pogrome im November 1938, Anm. d. Autors] selber in Gemeinschaft mit meinem verstorbenen Ehemann, Arthur Kroll, im Keller des Geschäftslokals unseres Bruders Isidor Mendelsohn verbracht hatte. Bei dieser Gelegenheit wurde er in ein Konzentrationslager verbracht.“ Leo Mendelsohn wurde am 10. November 1938 in das KZ Sachsenhausen deportiert und verblieb dort als Häftling im November 1938. Das Ladengeschäft von Leos Schwager Arthur Kroll musste auf behördliche Anordnung bereits im Sommer 1938 schließen, Bella Mendelsohn erhielt den Geschäftsbetrieb des Schirmwarenladens in der Turmstraße noch bis Ende 1938 aufrecht, bevor auch dieser zwangsweise schließen musste. Leo Mendelsohn erlebte diesen Zeitpunkt nicht mehr. Kurz nachdem er aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen entlassen worden war, starb er an den Folgen von Haft und Misshandlungen am 26. November 1938 gegen 22:00 Uhr in seiner Wohnung. Auf dem Totenschein wird als Todesursache offiziell Herzleiden und Lungenembolie angegeben. Leo Mendelsohn war zum Zeitpunkt seines Todes 54 Jahre alt. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt.

Für seine Ehefrau und seine Tochter wurde das Leben im Berlin der 1940er-Jahre zum reinen Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Leos Tochter wurde zudem zu Zwangsarbeit herangezogen. Zuletzt war sie als Arbeiterin in der Spinnstofffabrik AG in Berlin-Zehlendorf eingesetzt. Ihrer Entrechtung folgte die Deportation: Im Herbst 1941 erhielten die beiden Frauen den Deportationsbescheid. Sie wurden im Sammellager in der Levetzowstraße 7–8 interniert und von dort aus am 14. November 1941 mit dem „5. Osttransport“ in das Ghetto Minsk deportiert, wo sie vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Beide Frauen gehörten in jedem Fall nicht zu den wenigen Überlebenden des Ghettos Minsk. Leos Sohn Erwin Mendelsohn überlebte die NS-Verfolgung im Exil in Palästina. Seine Schwester Else war mit ihrem Ehemann und ihren Kindern im Dezember 1938 die Flucht nach Südamerika gelungen. Leos Bruder Siegfried Simon Mendelsohn wurde am 27. November 1941 aus Berlin nach Riga deportiert und ermordet. Seine Schwester Anna Mendelsohn, verheiratete Becker, wiederverheiratete Ehrlich, wurde mit ihrem zweiten Ehemann im Januar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Leos Schwägerin Regina Margarete Mann, geborene Becker, wurde mit ihrem Ehemann am 9. Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Aus der Ehe seines 1933 verstorbenen Schwagers Max Becker mit Ernestine Preiss war ein Sohn namens Heinz Lutz Becker hervorgegangen. Dieser überlebte im Exil in England. Ernestine wurde mit ihrem zweiten Ehemann Georg Lippmann im März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.