Fanny Sessler geb. Bindefeld

Verlegeort
Große Hamburger Straße 33
Bezirk/Ortsteil
Mitte
Verlegedatum
20. Oktober 2014
Geboren
17. Dezember 1895 in Leipzig
Deportation
am 04. März 1943 nach Auschwitz
Ermordet
1943 in Auschwitz

Fanny Bindefeld wurde am 17. Dezember 1895 in Leipzig geboren. Sie war die Tochter des Kaufmanns Nachmann Nathan Bindefeld (1859–1942) und von Liebe Bindefeld, geborene Schaja (1858–1896). Ihr Vater stammte aus der oberschlesischen Ortschaft Wischnitz (dem heutigen Wiśnicze in Polen); ihre Mutter aus Radomice. In den 1870er-Jahren haben ihre Eltern in Karlsruhe geheiratet und sich in Leipzig niedergelassen. Fanny wuchs in einem kinderreichen Haushalt auf. Sie hatte sieben Geschwister, deren Namen und Lebensdaten aus den vorliegenden Quellen nicht im Einzelnen hervorgehen. Nach dem Tod ihrer Mutter 1896 heiratete ihr Vater in zweiter Ehe Esther Bindefeld, geborene Tabak. Aus dieser Ehe gingen zwei Halbgeschwister von Fanny hervor. Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Fanny und ihren Geschwistern im Leipzig der Kaiserzeit haben sich leider so gut wie keine Informationen erhalten. Ihr Vater und ihre Stiefmutter gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde Leipzigs, zu der zum Zeitpunkt von Fannys Geburt etwa 7000 der rund 500.000 Einwohner Leipzigs zählten.

Über die schulische und berufliche Ausbildung von Fanny Bindefeld haben sich keine Zeugnisse erhalten. In den 1910er-Jahren heiratete sie den aus Nowy Wisnicz stammenden, elf Jahre älteren Kaufmann (Adolf) Abraham Sessler. Abraham war im Jahr 1884 geboren worden und vermutlich um die Jahrhundertwende nach Leipzig gekommen, wo er als Handels- und Kaufmann in der Textilbranche tätig war. Das Ehepaar nahm sich eine gemeinsame Wohnung in der Eberhardstraße 11 (heute überbaut). Im Februar 1918 kam in Leipzig ihre erste Tochter Jenny zur Welt. Nach der Geburt zogen die Sesslers nach Berlin, wo in den Jahren 1921, 1922, 1925 und 1927 ihre Kinder Salomon, Eva, Max Meier und Manfred Isidor geboren wurden. Die Familie nahm sich in Berlin zunächst eine Wohnung in der Boxhagener Straße 128 (heute überbaut) in Friedrichshain. An dieser Adresse führte Abraham Sessler bis Mitte der 1920er-Jahre auch eine Schäftefabrik, in welcher Vorderblätter und Seitenteile von Schuhen hergestellt wurden. 1925 zogen die Sesslers in eine neue Wohnung in der Zorndorfer Straße 19 (heutige Mühsamstraße) an der Ecke zur Eckertstraße nahe dem Petersburger Platz in Friedrichshain. In der nahegelegenen Tilsiter Straße (heutige Richard-Sorge-Straße) eröffneten Abraham und Fanny Sessler ein Textilwarengeschäft. Das wohlsortierte Ladengeschäft mit Schaufensterfront zur Tilsiter Straße, angrenzendem Warenlager und einer Angestellten sicherte der Familie eine gutbürgerliche Existenz im Berlin der Weimarer Republik. Salomon Sessler berichtete später: „In diesem Geschäft waren meine beiden Eltern und eine Angestellte in folgender Weise tätig. Meine Mutter und die Gehilfin waren ständig im Geschäft, während mein Vater auch noch außerhalb Kunden besuchte. […] Unsere Wohnung in der Zorndorfer Straße 19 bestand aus komplett eingerichteten Schlafzimmer, Speisezimmer, Kinderzimmer, Dienstmädchen-Kammer, Küche, Speisekammern, Badezimmer und Toilette. Meine Großmutter väterlicherseits beaufsichtigte die Wirtschaft und uns Kinder mit Hilfe eines Dienstmädchens. […] Jeden Sommer fuhren wir alle auf einige Wochen zur Erholung in die Sommerfrische an der Ostsee, und der Vater blieb im Geschäft zurück.“ 1929 wurde Eva Sessler in die Volksschule der Gemeinde Adass Jisroel eingeschult. Sie wechselte 1929/1930 an die Jüdische Mädchenschule in der Auguststraße und ab 1933 an die Jüdische Volksschule in der Rykestraße. Ihre Brüder Max und Manfred Isidor besuchten die Knabenvolksschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in der Kaiserstraße 29/30 (heutige Jacobystraße). Leider haben sich keine weiteren Quellen erhalten, die einen Einblick in das Leben der Familie Sessler im Berlin der Weimarer Republik geben könnten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Fanny Sessler und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Seit 1933 waren Fanny und Abraham Sessler außerdem als Geschäftsinhaber von antisemitischen Kampagnen betroffen: SA-Posten hinderten Kunden am Betreten des Geschäfts und die Boykotte führten zu derartigen Einbußen, dass sich das Ehepaar bereits 1933/1934 gezwungen sah, das Textilwarengeschäft in der Tilsiter Straße aufzugeben. Abraham Sessler arbeitete in den Folgejahren als Handelsvertreter von Weinen und Likören für die Firma „Gebrüder Nickemann“ aus Mainz. Laut Berichten von Bekannten der Familie aber zu einem deutlich geringeren Verdienst als zuvor, so dass die Sesslers zum Teil Besitz verschleudern beziehungsweise weit unter Wert verkaufen mussten, um die notwendigsten Bedürfnisse zu decken. 1935/1936 zogen sie zeitweise nach Leipzig in die Walter-Blümel-Straße 13 (heutige Löhrstraße), in unmittelbarer Nähe zu Fannys Vater und ihrer Stiefmutter, Nachmann und Esther Bindefeld, die damals in der Walter-Blümel-Straße 15 lebten. 1936 ging es zurück nach Berlin, wo Fanny und Abraham Sessler eine Wohnung in der Lothringer Straße 38 (heutige Torstraße) in Mitte bezogen. Im Oktober 1938 wurde Abraham Sessler zusammen mit seinen Kindern Salomon und Eva Sessler im Zuge der sogenannten „Polenaktion“ aus Berlin nach Bentschen (Zbąszyń) deportiert. Salomon Sessler hatte zuletzt die Hachscharastätte in Bomsdorf bei Gräfenhainichen besucht, um sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Eva Sessler hatte nach ihrem Schulabschluss eine Schneiderlehre begonnen. Salomon Sessler gelang aus Polen die Ausreise in das britische Mandatsgebiet Palästina, während Abraham und Eva Sessler, nachdem sie aus dem Internierungslager Bentschen freikamen, in Krakau (Kraków) lebten und dort von dem Überfall Deutschlands auf Polen 1939 überrascht wurden. Max Sessler kam 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien, wo er die Kriegsjahre verbrachte. In Berlin blieben Fanny Sessler und ihr jüngster Sohn Manfred Isidor zurück. Max Sessler erhielt 1942 eine letzte Rote-Kreuz-Nachricht von seiner Mutter aus Berlin, in der sie schrieb, dass sein Vater umgekommen sei. Abraham und Eva Sessler waren Anfang der 1940er-Jahre vermutlich im Ghetto Krakau interniert gewesen und entweder dort ermordet worden oder während der Räumung des Ghettos 1942/1943 in eines der Vernichtungslager Belzec oder Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Jedenfalls gehörten beide nicht zu den wenigen Überlebenden.

In Berlin spitzte sich die Lage Anfang der 1940er-Jahre für Fanny Sessler und ihren Sohn Manfred Isidor zu. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Fanny Sessler wurde außerdem zu Zwangsarbeit herangezogen, zuletzt im Wernerwerk der Siemens-Schuckert AG in Siemensstadt-Fürstenbrunn. Seit April 1940 lebten Mutter und Sohn in einer Wohnung in der Großen Hamburger Straße 33 in Mitte. Zuvor waren sie 1939 kurzzeitig bei Verwandten von Fannys Ehemann in der Gormannstraße 2 untergekommen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Im September 1942 wurde Fannys 82-jähriger Vater aus Leipzig in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er nach kurzer Zeit am 15. November 1942 ermordet wurde – entweder infolge direkter oder indirekter Gewalteinwirkung mittels planvoller Mangelernährung, versagter Medikamente, Kälte und körperlichen Misshandlungen. Fanny Sessler und ihr Sohn Manfred Isidor erhielten den Deportationsbescheid im Herbst 1942. Sie wurden im November 1942 in einem der Berliner Sammellager interniert und von dort am 4. März 1943 mit dem „34. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie – vermutlich unmittelbar nach der Ankunft des Transports – ermordet wurden. Fanny Sessler war zum Zeitpunkt der Deportation 47 Jahre alt; ihr Sohn Manfred Isidor Sessler war 15. Fannys Söhne Max und Salomon Sessler überlebten die NS-Verfolgung im Exil.