Selma Weinich geb. Adler

Verlegeort
Große Hamburger Straße 40
Bezirk/Ortsteil
Mitte
Verlegedatum
17. März 2018
Geboren
12. August 1894 in Kleschin / Kleszczyna
Beruf
Händlerin
Verhaftet
1943 im Zwangslager Marzahn
Überlebt

Selma Adler stammte aus einer weitverzweigten Familie deutscher Sinti, deren Angehörige im Nationalsozialismus verfolgt und fast ausnahmslos ermordet wurden. Sie war die älteste Tochter des Ehepaares Julius Dienegott Adler und der Klara Auguste Adler, geborene Franz, und wurde am 12. August 1894 in Kleschin (dem heutigen Kleszczyna) geboren. Ihre Familie stammte ursprünglich aus dem damals peußischen Posen, genauer gesagt aus der Umgebung der kleinen Ortschaft Dreidorf (dem heutigen Dźwierszno Wielkie), wo sein Vater als Sohn des Musikers Karl Adler und der Wilhelmine, geborene Franz, geboren worden war. Hier hatte sein Vater die fünf Jahre jüngere Klara Auguste Franz kennengelernt, die im westpreußischen Niedamowo als Tochter des Arbeiters Johann Franz und der Wilhelmine Franz, geborene Werner, aufwuchs.<br />
<br />
In der Familie Adler spielte die Musik eine bedeutende Rolle. Viele der Familienmitglieder waren musikalisch, beherrschten Instrumente und einige von ihnen verdienten mit der Musik ihren Lebensunterhalt. So bestritt Selmas Vater Julius, der sich auf das Harfenspiel spezialisiert hatte, wie auch sein Großvater vor ihm als Berufsmusiker seinen Unterhalt. Später sollte einer der Brüder von Selma, der 1902 in Labischin (Łabiszyn) südlich von Bromberg (Bydgoszcz) geborene Oskar Adler, die Familientradition fortsetzen, in Berlin als Musiker tätig sein und die Stelle eines Kapellmeisters besetzen. Selmas Mutter Klara trug als Händlerin zum Einkommen der Familie bei, die im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Zuwachs bekam.<br />
<br />
Neben dem erwähnten Oskar Adler hatte Selma drei weitere Geschwister: Ihre Schwester Agnes Adler kam 1897 bei einem Urlaub der Familie in einer damals russischen Ortschaft zur Welt, ihr Bruder Max wurde 1914 in Schneidemühl (Piła) und ihr Bruder Rudolf 1918 in Berlin geboren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte in Westpreußen eine Landflucht in die größeren Metropolen im Westen eingesetzt, die durch die unsicheren Verhältnisse in den Jahren um den Ersten Weltkrieg noch einmal an Brisanz gewann. Die Geburtsorte ihrer Geschwister deuten darauf hin, dass die Familie Adler Teil dieser Migrationsbewegungen wurde. In den Jahren zwischen 1914 und 1916 ließ sich die Familie in der Hauptstadt Berlin nieder. 1916 lebten die Adlers in einer Wohnung in der Neuen Hochstraße 15 im Wedding, unweit des Dorotheenstädtischen Friedhofs II. Im selben Jahr hatten ihre Eltern am 31. Oktober in Berlin ihre Ehe standesamtlich anerkennen lassen.<br />
<br />
Über die Kindheit und Jugend von Selma Adler in der Kaiserzeit haben sich kaum Informationen erhalten. Ihre Eltern waren beide Katholiken und vermutlich wurde auch Selma katholisch getauft und gefirmt. Selma hatte in jungen Jahren den Kaufmann Kajetan Weinich geheiratet, mit ihm 1915 in Berlin eine Tochter namens Elisabeth bekommen und führte mit ihm einen eigenen Hausstand in der Hauptstadt. Sie arbeitete wie ihre Mutter als Händlerin in Berlin. In den folgenden Jahren bekam das Ehepaar noch zwei weitere Kinder, deren Namen in den Quellen nicht genannt sind. Ihr Bruder Oskar, der Musiker und spätere Kapellmeister, bekam mit seiner Ehefrau Auguste Adler, geborene Spindler, zehn Kinder, die in den 1920er- bis 1940er-Jahren geboren wurden: Max, Waldemar, Sandor, Rudi, Helga, Angelika, Selma, Weibi, Soni und Gisela. Selmas jüngere Brüder Max und Rudolf besuchten in den 1920er-Jahren sicher eine der Berliner Schulen, zumindest Rudolf musste aber vermutlich seine Ausbildung in den 1930er-Jahren abbrechen. Nach der Schulausbildung arbeitete Max als Maschinist in Berlin und heiratete in den 1930er-Jahren die Berlinerin Magdalena, geborene Saller. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor. Rudolf blieb genauso kinderlos wie Selmas Schwester Agnes, die mit nur 36 Jahren am 16. August 1933 in Berlin verstarb.<br />
<br />
Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Roma und Sinti seit 1933 begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen Selma Weinich und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Es ist nicht bekannt, inwieweit die Zugehörigkeit zur Minderheit der deutschen Sinti für die Identitätsbildung der Familienangehörigen und für das tägliche Leben der Familie vor der NS-Zeit eine Rolle gespielt hat. Dass einige der Familienmitglieder später mit ihrem familiären Beinamen – in der NS-Terminologie handelte es sich um „Zigeunernamen“ – erfasst wurden und zum Teil Ehen in traditioneller Weise (Mangavipen und Bijav) geschlossen haben, ist sicher nur ein Aspekt kultureller Identität einer Familie, die sich ansonsten ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Gesellschaft verstand. Andererseits gab es auch vor der NS-Zeit eine lange Tradition antiziganistischer Maßnahmen, mit der Klara Adler in Berührung gekommen sein konnte. 1906 führte die preußische „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zu einer Vereinheitlichung der Verfolgungsmaßnahmen, die 1924 erneuert und von anderen deutschen Staaten übernommen wurde. In Berlin wurde seit 1927 vom Innenministerium die Anweisung an die Polizei gegeben, Fingerabdrücke von Roma und Sinti zu nehmen und zu katalogisieren, womit der Grundstock einer systematischen Personenerfassung gelegt war, an die die spätere Verfolgung anknüpfte. Unter den rassenideologischen Vorgaben des NS-Regimes verschärften seit 1933 vor allem lokale polizeiliche und administrative Instanzen die Verfolgung von „Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“. In Berlin wurde auf Initiative der Wohlfahrtsämter anlässlich der Olympischen Spiele 1936 eines der größten Zwangslager für Roma und Sinti in Marzahn errichtet, mit der die Stadt „zigeunerfrei“ werden sollte.<br />
<br />
Die Adlers wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht in das Lager gezwungen. Sie lebten zur Mitte der 1930er-Jahre in zwei nicht weit voneinander gelegenen Wohnungen in der Großen Hamburger Straße 34 und 40 in Mitte. In den 1930er-Jahren konnten sie ihrer Berufstätigkeit nicht mehr ungehindert nachgehen. Berufsverbote zwangen Selmas Vater, seine Stelle als Musiker aufzugeben. Zumindest Selmas Brüder Max und Rudolf wurden vermutlich zu Zwangsarbeit herangezogen, aber wahrscheinlich waren auch andere Familienmitglieder betroffen. Max war zuletzt vom Dezember 1938 bis zum 16. März 1943 in der „Maschinen- und Filmdruckerei R. Wolff“ in der Köpenicker Straße 18–20 als Arbeiter tätig, Rudolf vom September 1941 bis zum 27. März 1943 als Arbeiter in der „Schömann-Band K. G., Fabrik für Farbbänder, Kohle- und Durchschreibpapier“ in der Oranienburger Straße 38. Seit 1936 lag das Schicksal der Familie neben den Berliner Wohlfahrtsämtern und lokalen Polizeistellen in den Händen der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ (RHF) mit Sitz in Berlin-Dahlem. Die Behörde war mit der systematischen Erfassung der in Deutschland lebenden Sinti und Roma betraut sowie medizinischen Versuchsreihen an ihnen. Von Selma Weinich wurden unter anderem biometrische Daten wie Fingerabdrücke genommen und in das „Zigeunersippenarchiv“ aufgenommen. 1938 wurde Selmas Bruder Max unter dem Verfolgungsvorwand „arbeitsscheu“ – wahrscheinlich im Zuge der zweiten großen Verhaftungswelle der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ – im brandenburgischen Zehdenick verhaftet, am 18. Juni in das Konzentrationslager Sachsenhausen überführt und für sechs Monate bis zum 2. Dezember 1938 interniert. Mit dem „Festschreibungserlass“ im Oktober 1939 wurde allen Sinti und Roma unter Androhung von KZ-Haft verboten, ihre Heimatorte zu verlassen. In demselben Jahr entzogen die Behörden Selma Weinich die Staatsangehörigkeit, da sie widersprüchliche Angaben zu ihrer Herkunft gemacht hatte. Gegen das folgende Aufenthaltsverbot für das Reichsgebiet konnte sie noch bei der Kriminalpolizei und der 1939 in das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) aufgegangenen RHF erfolgreich Einspruch einlegen. Allerdings musste sie mit ihrem Mann spätesten 1941 ihre Wohnung in der Großen Hamburger Straße verlassen und wurde im Zwangslager Marzahn interniert. In einer der Barackenwagen Marzahns mussten Anfang der 1940er-Jahre auch ihr Bruder Oskar Adler mit seiner Ehefrau Auguste und seinen Kindern leben.<br />
<br />
Mit dem „Auschwitz-Erlass“ vom 16. Dezember 1942 wurde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau der „Zigeunerlager“ genannte Lagerabschnitt B II e eingerichtet. Im März 1943 wurden die meisten der in Berlin lebenden Familienmitglieder der Adlers verhaftet und in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht: Zuerst vermutlich Max Adler mit seiner Frau Magdalena und dem minderjährigen Sohn. Magdalena Adler, die bei den Behörden als „arisch“ geführt wurde, sollte zur Scheidung genötigt werden, entschied sich aber dazu, das Schicksal ihres Ehemanns zu teilen. Am 23. März 1943 folgten Selmas Eltern Julius und Klara Adler sowie ihre Nichte Gisela Adler, eine der Töchter Oskars, und am 27./28. März 1943 ihr Bruder Rudolf Adler. Sie alle wurden Ende März 1943 aus Berlin nach Auschwitz deportiert und kamen im Vernichtungslager in den „Zigeunerlager“ genannten Lagerabschnitt B II e. Aus dem Zwangslager Marzahn heraus verfasste Selma Weinich verzweifelte Bittschriften für ihre Verwandten: Am 24. Mai 1943 schrieb sie vergeblich an den Lagerkommandanten in Auschwitz und fügte Arbeitsbescheinigungen von Max und Rudolf Adler an, in denen die Arbeitgeber versicherten, dass sie die Brüder jederzeit wiedereinstellen würden. Die SS-Lagerleitung leitete den Brief an die „Dienststelle für Zigeunerfragen“ in Berlin weiter, die im Juni vermerkte, dass Selma Weinich beschieden worden war, dass derartige Gesuche zwecklos seien. Einen zweiten Brief vom September 1943 richtete sie direkt an die „Präsidialkanzlei des Führers“, in dem sie darum bat, dass ihre Eltern ihr aus Auschwitz schreiben dürften, und der sicherlich unbeantwortet blieb.<br />
<br />
Innerhalb der ersten fünf Monate nach der Ankunft im Lager am 31. März 1943 wurden vier ihrer Familienmitglieder im Vernichtungslager ermordet. Laut den in Auschwitz ausgefüllten Sterbeurkunden wurde Selmas 76-jähriger Vater Julius am 24. Mai 1943 ermordet – durch direkte Gewalteinwirkung oder durch die Folgen der „Vernichtung durch Arbeit“ mittels planvoller Mangelernährung und körperlicher Misshandlung im Lager, ihre 17-jährige Nichte Gisela am 6. Juli und ihre 71-jährige Mutter Klara am 13. August 1943. An Rudolf Adler und ihrem Bruder Max wurden durch das sogenannte SS-Hygieneinstitut in Auschwitz Menschenversuche durchgeführt. Ein Dokument deutet darauf hin, dass Rudolf Adler bereits 1942 in Berlin, vermutlich durch eine Forschungsstelle des RSHA, mit einem Erreger infiziert wurde und die Auschwitzer Lagerärzte den Krankheitsverlauf zu Forschungszwecken weiter kontrollierten. Im August 1943 unternahm Rudolf Adler zusammen mit dem deutschen Sinto Robert Böhmer einen Fluchtversuch. Die beiden wurden am 7. August auf der Flucht festgenommen, in Auschwitz unter Bunkerarrest gestellt und am 20. August 1943 erschossen. Max Adler wurde im Zuge der Räumung des „Zigeunerlagers“ am 12. März 1944 in Auschwitz ermordet. Dessen Ehefrau Magdalena und dessen Sohn sind vermutlich bereits zuvor in Auschwitz ermordet worden. Sie gehörten in jedem Fall nicht zu den wenigen Überlebenden von Auschwitz.<br />
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Oskar Adler, seine Frau Auguste Adler, geborene Spindler, und ihre Kinder sollten in den 1940er-Jahren im Lager Marzahn zwangssterilisiert werden. Nachdem der Eingriff bei einem der Kinder vorgenommen worden war und der Familie die Deportation nach Auschwitz drohte, flohen sie mit finanzieller Hilfe des Taufpfarrers von Auguste Adler, Pfarrer Pirmin, aus dem Lager über Eppishofen, Bayreuth, Augsburg und Mannheim nach München, wo sie versteckt das Kriegsende erlebten. Selma Weinich überlebte mit ihrem Ehemann in Berlin. Noch im Sommer 1944 hatte sie aus dem Zwangslager Marzahn heraus versucht, postalisch Kontakt mit ihrer Familie in Auschwitz aufzunehmen. Selma Weinich lebte nach 1945 mit ihrem Ehemann in Stuttgart und später in München. Wie ihr Bruder Oskar hatte sie erst nach 1945 vom Schicksal ihrer Familienangehörigen erfahren.

Selma Adler stammte aus einer weitverzweigten Familie deutscher Sinti, deren Angehörige im Nationalsozialismus verfolgt und fast ausnahmslos ermordet wurden. Sie war die älteste Tochter des Ehepaares Julius Dienegott Adler und der Klara Auguste Adler, geborene Franz, und wurde am 12. August 1894 in Kleschin (dem heutigen Kleszczyna) geboren. Ihre Familie stammte ursprünglich aus dem damals peußischen Posen, genauer gesagt aus der Umgebung der kleinen Ortschaft Dreidorf (dem heutigen Dźwierszno Wielkie), wo sein Vater als Sohn des Musikers Karl Adler und der Wilhelmine, geborene Franz, geboren worden war. Hier hatte sein Vater die fünf Jahre jüngere Klara Auguste Franz kennengelernt, die im westpreußischen Niedamowo als Tochter des Arbeiters Johann Franz und der Wilhelmine Franz, geborene Werner, aufwuchs.

In der Familie Adler spielte die Musik eine bedeutende Rolle. Viele der Familienmitglieder waren musikalisch, beherrschten Instrumente und einige von ihnen verdienten mit der Musik ihren Lebensunterhalt. So bestritt Selmas Vater Julius, der sich auf das Harfenspiel spezialisiert hatte, wie auch sein Großvater vor ihm als Berufsmusiker seinen Unterhalt. Später sollte einer der Brüder von Selma, der 1902 in Labischin (Łabiszyn) südlich von Bromberg (Bydgoszcz) geborene Oskar Adler, die Familientradition fortsetzen, in Berlin als Musiker tätig sein und die Stelle eines Kapellmeisters besetzen. Selmas Mutter Klara trug als Händlerin zum Einkommen der Familie bei, die im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Zuwachs bekam.

Neben dem erwähnten Oskar Adler hatte Selma drei weitere Geschwister: Ihre Schwester Agnes Adler kam 1897 bei einem Urlaub der Familie in einer damals russischen Ortschaft zur Welt, ihr Bruder Max wurde 1914 in Schneidemühl (Piła) und ihr Bruder Rudolf 1918 in Berlin geboren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte in Westpreußen eine Landflucht in die größeren Metropolen im Westen eingesetzt, die durch die unsicheren Verhältnisse in den Jahren um den Ersten Weltkrieg noch einmal an Brisanz gewann. Die Geburtsorte ihrer Geschwister deuten darauf hin, dass die Familie Adler Teil dieser Migrationsbewegungen wurde. In den Jahren zwischen 1914 und 1916 ließ sich die Familie in der Hauptstadt Berlin nieder. 1916 lebten die Adlers in einer Wohnung in der Neuen Hochstraße 15 im Wedding, unweit des Dorotheenstädtischen Friedhofs II. Im selben Jahr hatten ihre Eltern am 31. Oktober in Berlin ihre Ehe standesamtlich anerkennen lassen.

Über die Kindheit und Jugend von Selma Adler in der Kaiserzeit haben sich kaum Informationen erhalten. Ihre Eltern waren beide Katholiken und vermutlich wurde auch Selma katholisch getauft und gefirmt. Selma hatte in jungen Jahren den Kaufmann Kajetan Weinich geheiratet, mit ihm 1915 in Berlin eine Tochter namens Elisabeth bekommen und führte mit ihm einen eigenen Hausstand in der Hauptstadt. Sie arbeitete wie ihre Mutter als Händlerin in Berlin. In den folgenden Jahren bekam das Ehepaar noch zwei weitere Kinder, deren Namen in den Quellen nicht genannt sind. Ihr Bruder Oskar, der Musiker und spätere Kapellmeister, bekam mit seiner Ehefrau Auguste Adler, geborene Spindler, zehn Kinder, die in den 1920er- bis 1940er-Jahren geboren wurden: Max, Waldemar, Sandor, Rudi, Helga, Angelika, Selma, Weibi, Soni und Gisela. Selmas jüngere Brüder Max und Rudolf besuchten in den 1920er-Jahren sicher eine der Berliner Schulen, zumindest Rudolf musste aber vermutlich seine Ausbildung in den 1930er-Jahren abbrechen. Nach der Schulausbildung arbeitete Max als Maschinist in Berlin und heiratete in den 1930er-Jahren die Berlinerin Magdalena, geborene Saller. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor. Rudolf blieb genauso kinderlos wie Selmas Schwester Agnes, die mit nur 36 Jahren am 16. August 1933 in Berlin verstarb.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Roma und Sinti seit 1933 begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen Selma Weinich und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Es ist nicht bekannt, inwieweit die Zugehörigkeit zur Minderheit der deutschen Sinti für die Identitätsbildung der Familienangehörigen und für das tägliche Leben der Familie vor der NS-Zeit eine Rolle gespielt hat. Dass einige der Familienmitglieder später mit ihrem familiären Beinamen – in der NS-Terminologie handelte es sich um „Zigeunernamen“ – erfasst wurden und zum Teil Ehen in traditioneller Weise (Mangavipen und Bijav) geschlossen haben, ist sicher nur ein Aspekt kultureller Identität einer Familie, die sich ansonsten ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Gesellschaft verstand. Andererseits gab es auch vor der NS-Zeit eine lange Tradition antiziganistischer Maßnahmen, mit der Klara Adler in Berührung gekommen sein konnte. 1906 führte die preußische „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zu einer Vereinheitlichung der Verfolgungsmaßnahmen, die 1924 erneuert und von anderen deutschen Staaten übernommen wurde. In Berlin wurde seit 1927 vom Innenministerium die Anweisung an die Polizei gegeben, Fingerabdrücke von Roma und Sinti zu nehmen und zu katalogisieren, womit der Grundstock einer systematischen Personenerfassung gelegt war, an die die spätere Verfolgung anknüpfte. Unter den rassenideologischen Vorgaben des NS-Regimes verschärften seit 1933 vor allem lokale polizeiliche und administrative Instanzen die Verfolgung von „Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“. In Berlin wurde auf Initiative der Wohlfahrtsämter anlässlich der Olympischen Spiele 1936 eines der größten Zwangslager für Roma und Sinti in Marzahn errichtet, mit der die Stadt „zigeunerfrei“ werden sollte.

Die Adlers wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht in das Lager gezwungen. Sie lebten zur Mitte der 1930er-Jahre in zwei nicht weit voneinander gelegenen Wohnungen in der Großen Hamburger Straße 34 und 40 in Mitte. In den 1930er-Jahren konnten sie ihrer Berufstätigkeit nicht mehr ungehindert nachgehen. Berufsverbote zwangen Selmas Vater, seine Stelle als Musiker aufzugeben. Zumindest Selmas Brüder Max und Rudolf wurden vermutlich zu Zwangsarbeit herangezogen, aber wahrscheinlich waren auch andere Familienmitglieder betroffen. Max war zuletzt vom Dezember 1938 bis zum 16. März 1943 in der „Maschinen- und Filmdruckerei R. Wolff“ in der Köpenicker Straße 18–20 als Arbeiter tätig, Rudolf vom September 1941 bis zum 27. März 1943 als Arbeiter in der „Schömann-Band K. G., Fabrik für Farbbänder, Kohle- und Durchschreibpapier“ in der Oranienburger Straße 38. Seit 1936 lag das Schicksal der Familie neben den Berliner Wohlfahrtsämtern und lokalen Polizeistellen in den Händen der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ (RHF) mit Sitz in Berlin-Dahlem. Die Behörde war mit der systematischen Erfassung der in Deutschland lebenden Sinti und Roma betraut sowie medizinischen Versuchsreihen an ihnen. Von Selma Weinich wurden unter anderem biometrische Daten wie Fingerabdrücke genommen und in das „Zigeunersippenarchiv“ aufgenommen. 1938 wurde Selmas Bruder Max unter dem Verfolgungsvorwand „arbeitsscheu“ – wahrscheinlich im Zuge der zweiten großen Verhaftungswelle der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ – im brandenburgischen Zehdenick verhaftet, am 18. Juni in das Konzentrationslager Sachsenhausen überführt und für sechs Monate bis zum 2. Dezember 1938 interniert. Mit dem „Festschreibungserlass“ im Oktober 1939 wurde allen Sinti und Roma unter Androhung von KZ-Haft verboten, ihre Heimatorte zu verlassen. In demselben Jahr entzogen die Behörden Selma Weinich die Staatsangehörigkeit, da sie widersprüchliche Angaben zu ihrer Herkunft gemacht hatte. Gegen das folgende Aufenthaltsverbot für das Reichsgebiet konnte sie noch bei der Kriminalpolizei und der 1939 in das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) aufgegangenen RHF erfolgreich Einspruch einlegen. Allerdings musste sie mit ihrem Mann spätesten 1941 ihre Wohnung in der Großen Hamburger Straße verlassen und wurde im Zwangslager Marzahn interniert. In einer der Barackenwagen Marzahns mussten Anfang der 1940er-Jahre auch ihr Bruder Oskar Adler mit seiner Ehefrau Auguste und seinen Kindern leben.

Mit dem „Auschwitz-Erlass“ vom 16. Dezember 1942 wurde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau der „Zigeunerlager“ genannte Lagerabschnitt B II e eingerichtet. Im März 1943 wurden die meisten der in Berlin lebenden Familienmitglieder der Adlers verhaftet und in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht: Zuerst vermutlich Max Adler mit seiner Frau Magdalena und dem minderjährigen Sohn. Magdalena Adler, die bei den Behörden als „arisch“ geführt wurde, sollte zur Scheidung genötigt werden, entschied sich aber dazu, das Schicksal ihres Ehemanns zu teilen. Am 23. März 1943 folgten Selmas Eltern Julius und Klara Adler sowie ihre Nichte Gisela Adler, eine der Töchter Oskars, und am 27./28. März 1943 ihr Bruder Rudolf Adler. Sie alle wurden Ende März 1943 aus Berlin nach Auschwitz deportiert und kamen im Vernichtungslager in den „Zigeunerlager“ genannten Lagerabschnitt B II e. Aus dem Zwangslager Marzahn heraus verfasste Selma Weinich verzweifelte Bittschriften für ihre Verwandten: Am 24. Mai 1943 schrieb sie vergeblich an den Lagerkommandanten in Auschwitz und fügte Arbeitsbescheinigungen von Max und Rudolf Adler an, in denen die Arbeitgeber versicherten, dass sie die Brüder jederzeit wiedereinstellen würden. Die SS-Lagerleitung leitete den Brief an die „Dienststelle für Zigeunerfragen“ in Berlin weiter, die im Juni vermerkte, dass Selma Weinich beschieden worden war, dass derartige Gesuche zwecklos seien. Einen zweiten Brief vom September 1943 richtete sie direkt an die „Präsidialkanzlei des Führers“, in dem sie darum bat, dass ihre Eltern ihr aus Auschwitz schreiben dürften, und der sicherlich unbeantwortet blieb.

Innerhalb der ersten fünf Monate nach der Ankunft im Lager am 31. März 1943 wurden vier ihrer Familienmitglieder im Vernichtungslager ermordet. Laut den in Auschwitz ausgefüllten Sterbeurkunden wurde Selmas 76-jähriger Vater Julius am 24. Mai 1943 ermordet – durch direkte Gewalteinwirkung oder durch die Folgen der „Vernichtung durch Arbeit“ mittels planvoller Mangelernährung und körperlicher Misshandlung im Lager, ihre 17-jährige Nichte Gisela am 6. Juli und ihre 71-jährige Mutter Klara am 13. August 1943. An Rudolf Adler und ihrem Bruder Max wurden durch das sogenannte SS-Hygieneinstitut in Auschwitz Menschenversuche durchgeführt. Ein Dokument deutet darauf hin, dass Rudolf Adler bereits 1942 in Berlin, vermutlich durch eine Forschungsstelle des RSHA, mit einem Erreger infiziert wurde und die Auschwitzer Lagerärzte den Krankheitsverlauf zu Forschungszwecken weiter kontrollierten. Im August 1943 unternahm Rudolf Adler zusammen mit dem deutschen Sinto Robert Böhmer einen Fluchtversuch. Die beiden wurden am 7. August auf der Flucht festgenommen, in Auschwitz unter Bunkerarrest gestellt und am 20. August 1943 erschossen. Max Adler wurde im Zuge der Räumung des „Zigeunerlagers“ am 12. März 1944 in Auschwitz ermordet. Dessen Ehefrau Magdalena und dessen Sohn sind vermutlich bereits zuvor in Auschwitz ermordet worden. Sie gehörten in jedem Fall nicht zu den wenigen Überlebenden von Auschwitz.

Oskar Adler, seine Frau Auguste Adler, geborene Spindler, und ihre Kinder sollten in den 1940er-Jahren im Lager Marzahn zwangssterilisiert werden. Nachdem der Eingriff bei einem der Kinder vorgenommen worden war und der Familie die Deportation nach Auschwitz drohte, flohen sie mit finanzieller Hilfe des Taufpfarrers von Auguste Adler, Pfarrer Pirmin, aus dem Lager über Eppishofen, Bayreuth, Augsburg und Mannheim nach München, wo sie versteckt das Kriegsende erlebten. Selma Weinich überlebte mit ihrem Ehemann in Berlin. Noch im Sommer 1944 hatte sie aus dem Zwangslager Marzahn heraus versucht, postalisch Kontakt mit ihrer Familie in Auschwitz aufzunehmen. Selma Weinich lebte nach 1945 mit ihrem Ehemann in Stuttgart und später in München. Wie ihr Bruder Oskar hatte sie erst nach 1945 vom Schicksal ihrer Familienangehörigen erfahren.