Martin Silberstein

Verlegeort
Fritschestr. 54
Bezirk/Ortsteil
Charlottenburg
Verlegedatum
25. Februar 2020
Geboren
15. April 1909 in Berlin
Beruf
Kaufmann
Flucht
1938 Tschechoslowakei / USA
Überlebt

Martin Silberstein, später Martin Spencer, wurde am 15. April 1909 in Berlin als Sohn des selbstständigen Textilkaufmanns Samuel Silberstein und seiner Ehefrau Ernestine geboren, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Bianka. Am Tag ihrer Geburt feierte ihre große Schwester Meta ihren 11. Geburtstag; die Brüder Hermann und Walter waren neun und sieben Jahre alt.<br />
Da der Vater beruflich viel unterwegs war, oblag der Mutter die führende Rolle bei der Erziehung der Kinder. Die Familie lebte gemäß Martin „in gesicherten und geordneten Verhältnissen“. Seine Kindheit bezeichnete er als „gut“; das Familienleben beschrieb er als „sehr harmonisch“ und „enggeschlossen“. Die Zwillinge standen sich Zeit ihres Lebens besonders nahe.<br />
In den Archiven sind keine Fotos von Martin zu finden. Sein Aussehen als Erwachsener wird wie folgt beschrieben: 174 cm groß, blaue Augen, blondes Haar. Ein medizinischer Gutachter schätze ihn als überdurchschnittlich intelligent ein und bezeichnete ihn als „immer höflich, freundlich, zuvorkommend“.<br />
Martin machte Anfang 1926 den Abschluss auf dem Königstädtischen Realgymnasium und trat dann, knapp 16-jährig, als kaufmännischer Lehrling bei der Modell-Damenkonfektionsfirma Cohn & Rosenbaum AG in der Mohrenstr. 44 (später Charlottenstr. 59) ein. (1926 starb auch der erst 24-jährige Bruder Walter an Lungenentzündung und Tuberkulose in Frankfurt/Main). Martin konnte seine Lehrzeit bereits Ende 1927 nach nicht einmal zwei statt der regulären drei Jahre abschließen. Er wurde nicht nur von seinem Lehrbetrieb in Festanstellung übernommen, sondern ihm wurden auch direkt die anspruchsvollen Aufgaben als Einrichter und Kalkulator übertragen; bald darauf wurde er zum Leiter der Abteilung Stoffeinkauf befördert. Martin schrieb später über diese Zeit: „Als Hitler zur Macht kam, war ich 24 Jahre alt. Ich war im besten Mannesalter. Ich habe viel Sport getrieben und lebte ein normales, ruhiges Leben.“<br />
Fatalerweise war die Stammkundschaft seines Arbeitgebers „in den Regierungskreisen“. Durch den Boykott jüdischer Geschäfte wurde das Unternehmen so schwer getroffen, dass die Liquidation bereits im März 1933 unumgänglich war. Martin wurde arbeitslos. In seinem Arbeitszeugnis hieß es: „Herr Silberstein war uns ein äußert zuverlässiger Mitarbeiter, der sich durch Ehrlichkeit, Bescheidenheit und außerordentlichen Fleiß unser vollstes Vertrauen erwarb.“<br />
In den kommenden Jahren war es Martin als Jude unmöglich, eine Festanstellung zu bekommen, und so schlug er sich mit Aushilfsjobs durch. An seine einstigen beruflichen Erfolge sollte er auch später nie wieder anknüpfen können. Während dieser existentiellen Krise war für ihn der Familienzusammenhang besonders wichtig, und Bruder Hermann beschäftigte ihn in seiner Konfektionsfirma so gut wie möglich.<br />
1935 bekam Martin mit Hilfe von in Amerika lebenden Verwandten, die für ihn bürgten, die Einreisegenehmigung in die USA. Warum er dennoch in Deutschland blieb, ist nicht dokumentiert, aber um diese Zeit herum lernte er „ein Mädel aus der Tschechoslowakei“ kennen und die beiden verliebten sich. Kato, wie sie genannt wurde, wurde als Kateřina Vasová am 15. Oktober 1913 im ungarischen Ungvár geboren, das zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens Uschhorod hieß und zur Tschechoslowakei gehörte; heute ist die Stadt im äußersten Westen der Ukraine gelegen (Weitere Informationen zur Geschichte der Region und zum familiären Hintergrund Katos: Siehe ihre Kurzbiografie unter ihrem Namen Katerina Silberstein).<br />
Wie Martin kam Kato aus einem liberalen jüdischen Elternhaus. Die wohlhabenden Eltern – der Vater, Dr. Ignac Vas, war ein angesehener Rechtsanwalt – ermöglichten es Kato, als junge Frau längere Zeit in Berlin zu verbringen. Darüber, ob sie in Berlin vielleicht studierte oder arbeitete, ließ sich in den Akten nichts finden. In einem Dokument hieß es, ihr Beruf sei „Kontorist“; später arbeitete sie aber als Krankenschwester im Krankenhaus ihrer Heimatstadt.<br />
Möglicherweise lernten sich Martin und Kato in der Synagoge „Friedenstempel“ in Halensee kennen. Bei der Einweihung der 1.450 Menschen fassenden Synagoge nach liberalem Ritus im Jahr 1923 wurde erklärt „Der Tempel soll nicht allein religiösen Zwecken dienen, sondern auch eine Versammlungsstätte aller sein, die an der Herbeiführung eines wirklichen Friedens mitarbeiten wollen”. Die Gemeinde erlebte ab 1933 einen Aufschwung, weil immer mehr von den Nationalsozialisten terrorisierte Juden dort die Gemeinschaft suchten. In der Pogromnacht 1938 brannte das Gebäude aus und wurde später abgerissen.<br />
Im Alter von 27 und 23 Jahren heirateten Martin und Kato 1936 „nach einigen Schwierigkeiten mit Pässen und Genehmigungen“. Die standesamtliche Hochzeit fand am 28. Oktober 1936 in Katos Heimatstadt statt, in der ihre Eltern nach wie vor lebten; durch die Heirat erlangte Kato die deutsche Staatsbürgerschaft. Am 8. Dezember 1936 folgte die jüdische Trauung in Berlin durch den im Friedenstempel tätigen Rabbiner Dr. Max Nussbaum. Die Wege von Martin und dem Rabbi sollten sich Jahre später in den USA wieder kreuzen (Max Nussbaum konnte 1940 noch in die USA flüchten und amtierte von 1943 bis 1974 am Temple Israel of Hollywood/Los Angeles als Rabbi. Mediales Interesse fand die Synagoge u.a. durch eine flammende Rede, die Martin Luther King Jr. auf Einladung von Max Nussbaum 1965 vor der Kongregation hielt.). Martin und Kato lebten zu Beginn ihrer Ehe in der Familienwohnung der Silbersteins in der Fritschestr. 54 und es darf angenommen werden, dass das ihre letzte freiwillig gewählte Adresse war. Für kurze Zeit waren Martin und Kato dann noch in der Kantstr. 125 im 1. Stockwerk als Untermieter gemeldet.<br />
Martin beschrieb die Ehe als glücklich, auch wenn sie in diesen unsicheren Zeiten das Thema Kinder zurückstellen mussten. Die Verhältnisse in Deutschland wurden für das junge Paar immer aussichtsloser. Im August 1938 siedelten sie daher in der Hoffnung nach Uschhorod um, sich dort eine Existenz aufbauen zu können. Es war wohl insbesondere Katos Vater, der ihnen zu diesem Schritt riet, und im mehrstöckigen Haus der Eltern gab es auch eine freie Wohnung für sie, die sie beziehen konnten.<br />
Der Traum von einer besseren Zukunft fand aber nach nur drei Monaten ein jähes Ende. Anfang November 1938 wurde Uschhorod durch den Ersten Wiener Schiedsspruch mitsamt dem südlichen Streifen der Karpatoukraine wieder Teil von Ungarn. Die ungarische Regierung hatte schon früh begonnen, sich der nationalsozialistischen Führung Deutschlands anzunähern, und faschistische Kreise genossen in der Bevölkerung breite Unterstützung. Nun trat in Uschhorod von einem Tag auf den anderen ein antijüdisches Diskriminierungsgesetz in Kraft, das im Mai 1938 von der ungarischen Regierung verabschiedet worden war und später noch zweimal verschärft wurde.<br />
Gemäß dem Gesetz hätte sofort die Enteignung der ungarischen Juden beginnen sollen. Weil aber die Mittelschicht in Ungarn fast ausschließlich von Juden gebildet wurde und sie somit für die Wirtschaft des Landes unentbehrlich waren, wurden die Juden zunächst verschont. Das Regime begann aber umgehend mit der Ausweisung von Flüchtlingen aus Deutschland; auch Martin drohte schon bald die Abschiebung. „Als ich den deutschen Konsul […] um eine Verlängerung [der Aufenthaltsgenehmigung] ersuchte, wurde mir geraten, nicht mehr nach Deutschland zurückzugehen, da ich sonst in ein Konzentrationslager gebracht werden würde“.<br />
Da Martin ja Jahre zuvor bereits die Einreisegenehmigung in die USA bekommen hatte, stellte er bei der US-amerikanischen Botschaft in Berlin den Antrag auf Erneuerung seines Visums, das von dort an das Amerikanische Konsulat in Budapest geschickt werden würde. Martin und Kato überbrückten die Wartezeit, indem sie bei Freunden in Budapest untertauchten. Im April 1939 kamen endlich die Einreisepapiere, aber nur für Martin. „Gezwungenermassen musste ich so […] meine Frau, die ich sehr liebte, zurücklassen“. „Die Trennung von meiner Frau war für mich unerträglich. Jedoch dies war die einzige Lösung.“<br />
Ihr Plan war, dass Martin Kato schnellstmöglich nach Amerika nachholen würde. Die Ausweisung von Kato aus Ungarn, die ja aufgrund der Heirat die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt hatte, konnte nur durch eine Pro-forma-Trennung von Martin und Kato verhindert werden, denn für das Bleiberecht musste Kato nun den Nachweis der ungarischen Staatsangehörigkeit erbringen. <br />
Für Martin war auch der Verlust seiner Herkunftsfamilie traumatisch. Jahrzehnte später schrieb er: „Ich musste Europa verlassen, ohne mich von meinen lieben Eltern zu verabschieden. Dass ich nicht noch einmal meine Eltern umarmen konnte, habe ich bis heute nicht überwunden.“<br />
Mittellos kam Martin am 10. Mai 1939 auf der SS Île de France in New York City an. Um für Kato die Einreisegenehmigung zu bekommen, musste er eine finanzielle Bürgschaft für sie erbringen. Die Arbeitssuche gestaltete sich aber schwierig, da die Arbeitslosigkeit in den USA nach der Weltwirtschaftskrise noch immer hoch war. Für jüdische Flüchtlinge war es besonders schwer, einen Arbeitsplatz zu ergattern, und für Martins Ausbildung und Arbeitserfahrung interessierte sich niemand. Später schrieb er über diese Zeit: „Ich war einsam und verlassen [...]. Nach einigen Wochen fand ich Beschäftigung als Hausmann und Fahrstuhlführer für $ 12.00 die Woche. Ich nahm auch alle Arbeiten als Porter in einem Lager eines Pelzgeschäfts u.ä. an und versuchte verzweifelt, die Mittel für die Bürgschaft für meine Frau zusammenzubekommen. Ich wohnte in einem schrecklichen Zimmer mit Ratten, für das ich $ 3.00 die Woche zahlte. Die Sehnsucht nach meiner Frau und meinen Eltern sowie die Sorge um sie waren unerträglich. Die Nächte waren furchtbar. Ich konnte entweder vor Sorgen nicht schlafen, oder wenn ich einschlief, hatte ich böse Träume.“<br />
Martins erster Antrag auf Einreisegenehmigung für Kato wurde negativ beschieden, da seine Bürgschaft für Kato mit Hinweis auf seinen geringen Verdienst nicht akzeptiert wurde. Martin arbeitete fieberhaft daran weiter, dieses Problem zu lösen. Schließlich gelang es ihm, einen finanzkräftigeren Bürgen für Kato aufzutun, aber als im Oktober 1939 die Einreisepapiere in der Post zu Kato waren, war es schon zu spät. Am 1. September 1939, keine vier Monate nach Martins Ankunft in New York, hatte mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen. Kato gelang die Flucht nicht mehr. Im gleichen Monat starb Katos Vater, möglicherweise nahm er sich das Leben. Kato war gerade 25 Jahre alt. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass er sich große Vorwürfe machte, Kato nicht rechtzeitig zur Flucht geraten zu haben. Zunächst hielten Martin und Kato Briefkontakt, aber irgendwann riss dieser ab. Kato hielt auch noch so lange wie möglich den Kontakt zu ihren Schwiegereltern in Berlin und schickte sogar noch bis 1941 Lebensmittelpakete an sie.<br />
Später schrieb Martin über diese Zeit: „Die folgenden Jahre waren für mich unerträglich. Ich litt mehr und mehr an Depressionen. Die Sorgen und Ungewissheit über meine Angehörigen nahm mir die Lust am Leben. [Ich] konnte nicht essen, da ich ständig an meine Familie denken musste, die den Berichten nach hungern mussten. Ich verlor alle Initiative. Es machte mir nichts aus, täglich Fußböden zu waschen und Latrinen zu reinigen. Ich betrachtete das als eine Selbst-Geißelung und Strafe, weil ich dem Gemetzel entkommen war und meine Lieben im Stiche gelassen hatte. - Es waren schreckliche Jahre.“ Zunehmend fühlte sich Martin auch körperlich schlecht.<br />
Ein kleiner Trost war für Martin vielleicht, dass er es 1940 trotz unveränderter Arbeitsbedingungen schaffte, einen Kredit aufzunehmen, mit dem er gerade noch rechtzeitig die Flucht seines älteren Bruders Hermann nach Shanghai im Mai 1940 finanzieren konnte.<br />
Martin hatte bald nach seiner Ankunft in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangt. 1941 bekam er die Einberufung zum Militär, wurde aber wegen hohen Blutdruckes und wegen einer „schweren Neurose“ (Die etwas detaillierter beschriebene Symptomatik würde heute wohl eher als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet werden.) abgewiesen – ein weiterer Schlag für ihn. „Und ich hatte immer geträumt, dass ich als Held nach Berlin zurückkehren würde, um meine Familie zu befreien.“ <br />
Auch nach Kriegsende hielt der Zustand der Ungewissheit noch lange an; erst nach und nach erfuhren Martin, Bianka und Hermann, dass ihre Eltern nach Theresienstadt verschleppt und dort umgekommen waren. Kato war Ende 1944 im KZ Stutthof im Alter von 31 Jahren umgekommen. Die ältere Schwester Meta und ihr Mann Bruno Pohle waren nach Riga gebracht und noch am Tag der Ankunft mit 800 anderen Deportierten in einem Wald bei Riga erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden. Die drei Geschwister nahmen den Nachnamen „Spencer“ an; die Familie Silberstein gab es nicht mehr.<br />
Martin später: „Seit dieser Zeit gab es für mich eigentlich keinen Lebensinhalt mehr. Ich habe auch niemals wieder geheiratet.“ Martin blieb bei der Firma Penn Fifth Avenue, bei der er als Hausdiener angefangen hatte. Er arbeitete sich allmählich empor; schließlich war er als Lagerarbeiter im Versand tätig. Er brachte aber nicht die erforderliche Energie und Antriebskraft auf, um sich besser bezahlte Arbeit zu suchen. „Nach 13-jährigem Aufenthalt in den USA betrug sein Monatseinkommen $ 300, was sicher nicht für eine geglückte soziale Integration spricht“ resümierte später sein Anwalt, den Martin wegen des äußerst schleppenden Entschädigungsprozesses irgendwann einschalten musste.<br />
1952 folgte Martin einem Freund nach Salt Lake City, der ihm dort Arbeit in seinem neu eröffneten Hotel anbot. Als das Hotel nur drei Jahre später verkauft wurde, zog Martin nach Los Angeles weiter. Für die Stadt sprach aus Martins Sicht vielleicht, dass Max Nussbaum, den Martin ja bereits aus Berlin kannte, nun in Hollywood als Rabbiner amtierte (Einen Kontakt zwischen den beiden gab es auf jeden Fall, denn Nussbaum bestätigte schriftlich die Eheschließung von Martin und Kato durch ihn in Berlin.). Auch Hazel Rheinstrom, die ihm gut bekannte Tochter der Verwandten, die ihm seinerzeit als Bürgen die Einreise in die USA ermöglicht hatten und ihm in den Jahren in New York immer wieder finanzielle und seelische Unterstützung geboten hatten, lebte mittlerweile in Los Angeles. Der Broterwerb gestaltete sich aber erneut sehr schwierig. In den folgenden Jahren schlug sich Martin zunächst als Vertreter eines Verlags mit dem Haus-zu-Haus-Verkauf von Lexika durch, dann als Versicherungsvertreter. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit beantragte Martin 1960 auf Empfehlung seines Arztes eine Umschulung als Buchhalter.<br />
Als Anfang 1962 bei seiner Zwillingsschwester Bianka Leukämie diagnostiziert wurde, war das ein weiterer schwerer Schlag für Martin. Im März erlitt er, 52-jährig, den ersten von mehreren schweren Herzinfarkten. Ab jetzt waren es nicht nur die wiederkehrenden Albträume, sondern auch ständige von seiner Herzkrankheit verursachte Agina-Pectoris-Anfälle, die ihm trotz Schlafmitteln den Nachtschlaf raubten; er musste sich immer wieder wegen heftiger Brustschmerzen für längere Zeit aufsetzen, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen. Er war kurzatmig und hatte Grauen Star auf beiden Augen. Er litt unter Angstzuständen und Depressionen. Martin war nun endgültig erwerbsunfähig; ein Arzt bezeichnete ihn als früh gealtert. Die Zwillinge lagen zur gleichen Zeit im Krankenhaus, er in Los Angeles, sie in London. Bianka verstarb im Juli 1962.<br />
Die Rechnung für die 20-tägige stationäre Behandlung im Krankenhaus konnte Martin kaum bezahlen; wieder half Bruder Hermann aus, der mittlerweile in San Francisco lebte. Mehr denn je war er jetzt auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Beim Entschädigungsamt hatte er schon Jahre zuvor einen Antrag auf eine Rente gestellt (basierend auf dem Bundesentschädigungsgesetz, dem Gesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, aus dem Jahr 1956), aber immer wieder abschlägige Bescheide bekommen, die mit der Behauptung begründet wurden, Martins gesundheitliche Probleme seien nicht verfolgungsbedingt. Und das, obwohl eine ganze Reihe von medizinischen Gutachtern, die er auf Verlangen des Entschädigungsamts im Lauf der Jahre aufsuchen musste, immer wieder bescheinigten, dass die erheblichen gesundheitlichen Probleme durchaus in einem direkten Zusammenhang mit der Verfolgung stünden.<br />
Aber natürlich gab es auch Gutachter, die im Sinne des Entschädigungsamts argumentierten und das Verfolgungsschicksal bagatellisierten. Beispielhaft hierfür und den Entschädigungsprozess insgesamt sei hier aus einem Gutachten von einem Dr. Werner König, Nervenarzt und Vertrauensarzt des Deutschen Generalkonsulates in Los Angeles, zitiert: „Durch den geringgradigen Verfolgungsdruck und die notwendig gewordene Emigration und die darauffolgenden Anpassungsschwierigkeiten ist es bei M.S. zu keiner nennenswerten seelischen Störung […] gekommen und somit ist die verfolgungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht zu bewerten. Für das organische Psychosyndrom auf Grund einer allgemeinen cerebralen Arteriosklerose sowie in dem Spätzustand nach Coronarinfarkt besteht derzeitig eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit, doch steht diese in keinem Zusammenhang mit der NS-Verfolgung und muss als schicksalsmässig angesehen werden.“<br />
Es wurde also argumentiert, die Herzkrankheit – und nur diese - würde sich auf Martins Psyche auswirken; und da die Herzkrankheit nicht verfolgungsbedingt sei, sei es auch sein „Psychosyndrom“ nicht. Dem widersprach ein anderer Gutachter entschieden; ihm zufolge lag ohne Zweifel eine „Entwurzelungsdepression“ vor, nicht nur ein organisches Psychosyndrom. Heutzutage ist natürlich schon längst ein starker Zusammenhang zwischen Angstzuständen, Depressionen, Erschöpfung u.a. und vielen chronischen Krankheiten, einschließlich koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz, nachgewiesen.<br />
Nach über zwei Jahrzehnten eines entwürdigenden und zermürbenden Kampfes mit dem Entschädigungsamt bekam Martin ab Mitte 1972 endlich eine kleine Rente aus Deutschland, zusätzlich zur Mini-Rente in den USA. So war er finanziell abgesichert, wenngleich nur ein sehr bescheidener Lebensstandard möglich war. Seine letzten Jahre verbrachte er sehr zurückgezogen hauptsächlich mit Lesen und Briefeschreiben. Gelegentlich ging er in die Synagoge oder traf ein paar Freunde. Dieser Beschreibung fügte Martin noch hinzu, er fühle sich „sehr verloren und vereinsamt.“<br />
Martin Silberstein starb am 15. Mai 1991 in Los Angeles und mit ihm der letzte dieses Familienzweigs der Silbersteins.<br />

Martin Silberstein, später Martin Spencer, wurde am 15. April 1909 in Berlin als Sohn des selbstständigen Textilkaufmanns Samuel Silberstein und seiner Ehefrau Ernestine geboren, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Bianka. Am Tag ihrer Geburt feierte ihre große Schwester Meta ihren 11. Geburtstag; die Brüder Hermann und Walter waren neun und sieben Jahre alt.
Da der Vater beruflich viel unterwegs war, oblag der Mutter die führende Rolle bei der Erziehung der Kinder. Die Familie lebte gemäß Martin „in gesicherten und geordneten Verhältnissen“. Seine Kindheit bezeichnete er als „gut“; das Familienleben beschrieb er als „sehr harmonisch“ und „enggeschlossen“. Die Zwillinge standen sich Zeit ihres Lebens besonders nahe.
In den Archiven sind keine Fotos von Martin zu finden. Sein Aussehen als Erwachsener wird wie folgt beschrieben: 174 cm groß, blaue Augen, blondes Haar. Ein medizinischer Gutachter schätze ihn als überdurchschnittlich intelligent ein und bezeichnete ihn als „immer höflich, freundlich, zuvorkommend“.
Martin machte Anfang 1926 den Abschluss auf dem Königstädtischen Realgymnasium und trat dann, knapp 16-jährig, als kaufmännischer Lehrling bei der Modell-Damenkonfektionsfirma Cohn & Rosenbaum AG in der Mohrenstr. 44 (später Charlottenstr. 59) ein. (1926 starb auch der erst 24-jährige Bruder Walter an Lungenentzündung und Tuberkulose in Frankfurt/Main). Martin konnte seine Lehrzeit bereits Ende 1927 nach nicht einmal zwei statt der regulären drei Jahre abschließen. Er wurde nicht nur von seinem Lehrbetrieb in Festanstellung übernommen, sondern ihm wurden auch direkt die anspruchsvollen Aufgaben als Einrichter und Kalkulator übertragen; bald darauf wurde er zum Leiter der Abteilung Stoffeinkauf befördert. Martin schrieb später über diese Zeit: „Als Hitler zur Macht kam, war ich 24 Jahre alt. Ich war im besten Mannesalter. Ich habe viel Sport getrieben und lebte ein normales, ruhiges Leben.“
Fatalerweise war die Stammkundschaft seines Arbeitgebers „in den Regierungskreisen“. Durch den Boykott jüdischer Geschäfte wurde das Unternehmen so schwer getroffen, dass die Liquidation bereits im März 1933 unumgänglich war. Martin wurde arbeitslos. In seinem Arbeitszeugnis hieß es: „Herr Silberstein war uns ein äußert zuverlässiger Mitarbeiter, der sich durch Ehrlichkeit, Bescheidenheit und außerordentlichen Fleiß unser vollstes Vertrauen erwarb.“
In den kommenden Jahren war es Martin als Jude unmöglich, eine Festanstellung zu bekommen, und so schlug er sich mit Aushilfsjobs durch. An seine einstigen beruflichen Erfolge sollte er auch später nie wieder anknüpfen können. Während dieser existentiellen Krise war für ihn der Familienzusammenhang besonders wichtig, und Bruder Hermann beschäftigte ihn in seiner Konfektionsfirma so gut wie möglich.
1935 bekam Martin mit Hilfe von in Amerika lebenden Verwandten, die für ihn bürgten, die Einreisegenehmigung in die USA. Warum er dennoch in Deutschland blieb, ist nicht dokumentiert, aber um diese Zeit herum lernte er „ein Mädel aus der Tschechoslowakei“ kennen und die beiden verliebten sich. Kato, wie sie genannt wurde, wurde als Kateřina Vasová am 15. Oktober 1913 im ungarischen Ungvár geboren, das zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens Uschhorod hieß und zur Tschechoslowakei gehörte; heute ist die Stadt im äußersten Westen der Ukraine gelegen (Weitere Informationen zur Geschichte der Region und zum familiären Hintergrund Katos: Siehe ihre Kurzbiografie unter ihrem Namen Katerina Silberstein).
Wie Martin kam Kato aus einem liberalen jüdischen Elternhaus. Die wohlhabenden Eltern – der Vater, Dr. Ignac Vas, war ein angesehener Rechtsanwalt – ermöglichten es Kato, als junge Frau längere Zeit in Berlin zu verbringen. Darüber, ob sie in Berlin vielleicht studierte oder arbeitete, ließ sich in den Akten nichts finden. In einem Dokument hieß es, ihr Beruf sei „Kontorist“; später arbeitete sie aber als Krankenschwester im Krankenhaus ihrer Heimatstadt.
Möglicherweise lernten sich Martin und Kato in der Synagoge „Friedenstempel“ in Halensee kennen. Bei der Einweihung der 1.450 Menschen fassenden Synagoge nach liberalem Ritus im Jahr 1923 wurde erklärt „Der Tempel soll nicht allein religiösen Zwecken dienen, sondern auch eine Versammlungsstätte aller sein, die an der Herbeiführung eines wirklichen Friedens mitarbeiten wollen”. Die Gemeinde erlebte ab 1933 einen Aufschwung, weil immer mehr von den Nationalsozialisten terrorisierte Juden dort die Gemeinschaft suchten. In der Pogromnacht 1938 brannte das Gebäude aus und wurde später abgerissen.
Im Alter von 27 und 23 Jahren heirateten Martin und Kato 1936 „nach einigen Schwierigkeiten mit Pässen und Genehmigungen“. Die standesamtliche Hochzeit fand am 28. Oktober 1936 in Katos Heimatstadt statt, in der ihre Eltern nach wie vor lebten; durch die Heirat erlangte Kato die deutsche Staatsbürgerschaft. Am 8. Dezember 1936 folgte die jüdische Trauung in Berlin durch den im Friedenstempel tätigen Rabbiner Dr. Max Nussbaum. Die Wege von Martin und dem Rabbi sollten sich Jahre später in den USA wieder kreuzen (Max Nussbaum konnte 1940 noch in die USA flüchten und amtierte von 1943 bis 1974 am Temple Israel of Hollywood/Los Angeles als Rabbi. Mediales Interesse fand die Synagoge u.a. durch eine flammende Rede, die Martin Luther King Jr. auf Einladung von Max Nussbaum 1965 vor der Kongregation hielt.). Martin und Kato lebten zu Beginn ihrer Ehe in der Familienwohnung der Silbersteins in der Fritschestr. 54 und es darf angenommen werden, dass das ihre letzte freiwillig gewählte Adresse war. Für kurze Zeit waren Martin und Kato dann noch in der Kantstr. 125 im 1. Stockwerk als Untermieter gemeldet.
Martin beschrieb die Ehe als glücklich, auch wenn sie in diesen unsicheren Zeiten das Thema Kinder zurückstellen mussten. Die Verhältnisse in Deutschland wurden für das junge Paar immer aussichtsloser. Im August 1938 siedelten sie daher in der Hoffnung nach Uschhorod um, sich dort eine Existenz aufbauen zu können. Es war wohl insbesondere Katos Vater, der ihnen zu diesem Schritt riet, und im mehrstöckigen Haus der Eltern gab es auch eine freie Wohnung für sie, die sie beziehen konnten.
Der Traum von einer besseren Zukunft fand aber nach nur drei Monaten ein jähes Ende. Anfang November 1938 wurde Uschhorod durch den Ersten Wiener Schiedsspruch mitsamt dem südlichen Streifen der Karpatoukraine wieder Teil von Ungarn. Die ungarische Regierung hatte schon früh begonnen, sich der nationalsozialistischen Führung Deutschlands anzunähern, und faschistische Kreise genossen in der Bevölkerung breite Unterstützung. Nun trat in Uschhorod von einem Tag auf den anderen ein antijüdisches Diskriminierungsgesetz in Kraft, das im Mai 1938 von der ungarischen Regierung verabschiedet worden war und später noch zweimal verschärft wurde.
Gemäß dem Gesetz hätte sofort die Enteignung der ungarischen Juden beginnen sollen. Weil aber die Mittelschicht in Ungarn fast ausschließlich von Juden gebildet wurde und sie somit für die Wirtschaft des Landes unentbehrlich waren, wurden die Juden zunächst verschont. Das Regime begann aber umgehend mit der Ausweisung von Flüchtlingen aus Deutschland; auch Martin drohte schon bald die Abschiebung. „Als ich den deutschen Konsul […] um eine Verlängerung [der Aufenthaltsgenehmigung] ersuchte, wurde mir geraten, nicht mehr nach Deutschland zurückzugehen, da ich sonst in ein Konzentrationslager gebracht werden würde“.
Da Martin ja Jahre zuvor bereits die Einreisegenehmigung in die USA bekommen hatte, stellte er bei der US-amerikanischen Botschaft in Berlin den Antrag auf Erneuerung seines Visums, das von dort an das Amerikanische Konsulat in Budapest geschickt werden würde. Martin und Kato überbrückten die Wartezeit, indem sie bei Freunden in Budapest untertauchten. Im April 1939 kamen endlich die Einreisepapiere, aber nur für Martin. „Gezwungenermassen musste ich so […] meine Frau, die ich sehr liebte, zurücklassen“. „Die Trennung von meiner Frau war für mich unerträglich. Jedoch dies war die einzige Lösung.“
Ihr Plan war, dass Martin Kato schnellstmöglich nach Amerika nachholen würde. Die Ausweisung von Kato aus Ungarn, die ja aufgrund der Heirat die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt hatte, konnte nur durch eine Pro-forma-Trennung von Martin und Kato verhindert werden, denn für das Bleiberecht musste Kato nun den Nachweis der ungarischen Staatsangehörigkeit erbringen.
Für Martin war auch der Verlust seiner Herkunftsfamilie traumatisch. Jahrzehnte später schrieb er: „Ich musste Europa verlassen, ohne mich von meinen lieben Eltern zu verabschieden. Dass ich nicht noch einmal meine Eltern umarmen konnte, habe ich bis heute nicht überwunden.“
Mittellos kam Martin am 10. Mai 1939 auf der SS Île de France in New York City an. Um für Kato die Einreisegenehmigung zu bekommen, musste er eine finanzielle Bürgschaft für sie erbringen. Die Arbeitssuche gestaltete sich aber schwierig, da die Arbeitslosigkeit in den USA nach der Weltwirtschaftskrise noch immer hoch war. Für jüdische Flüchtlinge war es besonders schwer, einen Arbeitsplatz zu ergattern, und für Martins Ausbildung und Arbeitserfahrung interessierte sich niemand. Später schrieb er über diese Zeit: „Ich war einsam und verlassen [...]. Nach einigen Wochen fand ich Beschäftigung als Hausmann und Fahrstuhlführer für $ 12.00 die Woche. Ich nahm auch alle Arbeiten als Porter in einem Lager eines Pelzgeschäfts u.ä. an und versuchte verzweifelt, die Mittel für die Bürgschaft für meine Frau zusammenzubekommen. Ich wohnte in einem schrecklichen Zimmer mit Ratten, für das ich $ 3.00 die Woche zahlte. Die Sehnsucht nach meiner Frau und meinen Eltern sowie die Sorge um sie waren unerträglich. Die Nächte waren furchtbar. Ich konnte entweder vor Sorgen nicht schlafen, oder wenn ich einschlief, hatte ich böse Träume.“
Martins erster Antrag auf Einreisegenehmigung für Kato wurde negativ beschieden, da seine Bürgschaft für Kato mit Hinweis auf seinen geringen Verdienst nicht akzeptiert wurde. Martin arbeitete fieberhaft daran weiter, dieses Problem zu lösen. Schließlich gelang es ihm, einen finanzkräftigeren Bürgen für Kato aufzutun, aber als im Oktober 1939 die Einreisepapiere in der Post zu Kato waren, war es schon zu spät. Am 1. September 1939, keine vier Monate nach Martins Ankunft in New York, hatte mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen. Kato gelang die Flucht nicht mehr. Im gleichen Monat starb Katos Vater, möglicherweise nahm er sich das Leben. Kato war gerade 25 Jahre alt. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass er sich große Vorwürfe machte, Kato nicht rechtzeitig zur Flucht geraten zu haben. Zunächst hielten Martin und Kato Briefkontakt, aber irgendwann riss dieser ab. Kato hielt auch noch so lange wie möglich den Kontakt zu ihren Schwiegereltern in Berlin und schickte sogar noch bis 1941 Lebensmittelpakete an sie.
Später schrieb Martin über diese Zeit: „Die folgenden Jahre waren für mich unerträglich. Ich litt mehr und mehr an Depressionen. Die Sorgen und Ungewissheit über meine Angehörigen nahm mir die Lust am Leben. [Ich] konnte nicht essen, da ich ständig an meine Familie denken musste, die den Berichten nach hungern mussten. Ich verlor alle Initiative. Es machte mir nichts aus, täglich Fußböden zu waschen und Latrinen zu reinigen. Ich betrachtete das als eine Selbst-Geißelung und Strafe, weil ich dem Gemetzel entkommen war und meine Lieben im Stiche gelassen hatte. - Es waren schreckliche Jahre.“ Zunehmend fühlte sich Martin auch körperlich schlecht.
Ein kleiner Trost war für Martin vielleicht, dass er es 1940 trotz unveränderter Arbeitsbedingungen schaffte, einen Kredit aufzunehmen, mit dem er gerade noch rechtzeitig die Flucht seines älteren Bruders Hermann nach Shanghai im Mai 1940 finanzieren konnte.
Martin hatte bald nach seiner Ankunft in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangt. 1941 bekam er die Einberufung zum Militär, wurde aber wegen hohen Blutdruckes und wegen einer „schweren Neurose“ (Die etwas detaillierter beschriebene Symptomatik würde heute wohl eher als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet werden.) abgewiesen – ein weiterer Schlag für ihn. „Und ich hatte immer geträumt, dass ich als Held nach Berlin zurückkehren würde, um meine Familie zu befreien.“
Auch nach Kriegsende hielt der Zustand der Ungewissheit noch lange an; erst nach und nach erfuhren Martin, Bianka und Hermann, dass ihre Eltern nach Theresienstadt verschleppt und dort umgekommen waren. Kato war Ende 1944 im KZ Stutthof im Alter von 31 Jahren umgekommen. Die ältere Schwester Meta und ihr Mann Bruno Pohle waren nach Riga gebracht und noch am Tag der Ankunft mit 800 anderen Deportierten in einem Wald bei Riga erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden. Die drei Geschwister nahmen den Nachnamen „Spencer“ an; die Familie Silberstein gab es nicht mehr.
Martin später: „Seit dieser Zeit gab es für mich eigentlich keinen Lebensinhalt mehr. Ich habe auch niemals wieder geheiratet.“ Martin blieb bei der Firma Penn Fifth Avenue, bei der er als Hausdiener angefangen hatte. Er arbeitete sich allmählich empor; schließlich war er als Lagerarbeiter im Versand tätig. Er brachte aber nicht die erforderliche Energie und Antriebskraft auf, um sich besser bezahlte Arbeit zu suchen. „Nach 13-jährigem Aufenthalt in den USA betrug sein Monatseinkommen $ 300, was sicher nicht für eine geglückte soziale Integration spricht“ resümierte später sein Anwalt, den Martin wegen des äußerst schleppenden Entschädigungsprozesses irgendwann einschalten musste.
1952 folgte Martin einem Freund nach Salt Lake City, der ihm dort Arbeit in seinem neu eröffneten Hotel anbot. Als das Hotel nur drei Jahre später verkauft wurde, zog Martin nach Los Angeles weiter. Für die Stadt sprach aus Martins Sicht vielleicht, dass Max Nussbaum, den Martin ja bereits aus Berlin kannte, nun in Hollywood als Rabbiner amtierte (Einen Kontakt zwischen den beiden gab es auf jeden Fall, denn Nussbaum bestätigte schriftlich die Eheschließung von Martin und Kato durch ihn in Berlin.). Auch Hazel Rheinstrom, die ihm gut bekannte Tochter der Verwandten, die ihm seinerzeit als Bürgen die Einreise in die USA ermöglicht hatten und ihm in den Jahren in New York immer wieder finanzielle und seelische Unterstützung geboten hatten, lebte mittlerweile in Los Angeles. Der Broterwerb gestaltete sich aber erneut sehr schwierig. In den folgenden Jahren schlug sich Martin zunächst als Vertreter eines Verlags mit dem Haus-zu-Haus-Verkauf von Lexika durch, dann als Versicherungsvertreter. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit beantragte Martin 1960 auf Empfehlung seines Arztes eine Umschulung als Buchhalter.
Als Anfang 1962 bei seiner Zwillingsschwester Bianka Leukämie diagnostiziert wurde, war das ein weiterer schwerer Schlag für Martin. Im März erlitt er, 52-jährig, den ersten von mehreren schweren Herzinfarkten. Ab jetzt waren es nicht nur die wiederkehrenden Albträume, sondern auch ständige von seiner Herzkrankheit verursachte Agina-Pectoris-Anfälle, die ihm trotz Schlafmitteln den Nachtschlaf raubten; er musste sich immer wieder wegen heftiger Brustschmerzen für längere Zeit aufsetzen, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen. Er war kurzatmig und hatte Grauen Star auf beiden Augen. Er litt unter Angstzuständen und Depressionen. Martin war nun endgültig erwerbsunfähig; ein Arzt bezeichnete ihn als früh gealtert. Die Zwillinge lagen zur gleichen Zeit im Krankenhaus, er in Los Angeles, sie in London. Bianka verstarb im Juli 1962.
Die Rechnung für die 20-tägige stationäre Behandlung im Krankenhaus konnte Martin kaum bezahlen; wieder half Bruder Hermann aus, der mittlerweile in San Francisco lebte. Mehr denn je war er jetzt auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Beim Entschädigungsamt hatte er schon Jahre zuvor einen Antrag auf eine Rente gestellt (basierend auf dem Bundesentschädigungsgesetz, dem Gesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, aus dem Jahr 1956), aber immer wieder abschlägige Bescheide bekommen, die mit der Behauptung begründet wurden, Martins gesundheitliche Probleme seien nicht verfolgungsbedingt. Und das, obwohl eine ganze Reihe von medizinischen Gutachtern, die er auf Verlangen des Entschädigungsamts im Lauf der Jahre aufsuchen musste, immer wieder bescheinigten, dass die erheblichen gesundheitlichen Probleme durchaus in einem direkten Zusammenhang mit der Verfolgung stünden.
Aber natürlich gab es auch Gutachter, die im Sinne des Entschädigungsamts argumentierten und das Verfolgungsschicksal bagatellisierten. Beispielhaft hierfür und den Entschädigungsprozess insgesamt sei hier aus einem Gutachten von einem Dr. Werner König, Nervenarzt und Vertrauensarzt des Deutschen Generalkonsulates in Los Angeles, zitiert: „Durch den geringgradigen Verfolgungsdruck und die notwendig gewordene Emigration und die darauffolgenden Anpassungsschwierigkeiten ist es bei M.S. zu keiner nennenswerten seelischen Störung […] gekommen und somit ist die verfolgungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht zu bewerten. Für das organische Psychosyndrom auf Grund einer allgemeinen cerebralen Arteriosklerose sowie in dem Spätzustand nach Coronarinfarkt besteht derzeitig eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit, doch steht diese in keinem Zusammenhang mit der NS-Verfolgung und muss als schicksalsmässig angesehen werden.“
Es wurde also argumentiert, die Herzkrankheit – und nur diese - würde sich auf Martins Psyche auswirken; und da die Herzkrankheit nicht verfolgungsbedingt sei, sei es auch sein „Psychosyndrom“ nicht. Dem widersprach ein anderer Gutachter entschieden; ihm zufolge lag ohne Zweifel eine „Entwurzelungsdepression“ vor, nicht nur ein organisches Psychosyndrom. Heutzutage ist natürlich schon längst ein starker Zusammenhang zwischen Angstzuständen, Depressionen, Erschöpfung u.a. und vielen chronischen Krankheiten, einschließlich koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz, nachgewiesen.
Nach über zwei Jahrzehnten eines entwürdigenden und zermürbenden Kampfes mit dem Entschädigungsamt bekam Martin ab Mitte 1972 endlich eine kleine Rente aus Deutschland, zusätzlich zur Mini-Rente in den USA. So war er finanziell abgesichert, wenngleich nur ein sehr bescheidener Lebensstandard möglich war. Seine letzten Jahre verbrachte er sehr zurückgezogen hauptsächlich mit Lesen und Briefeschreiben. Gelegentlich ging er in die Synagoge oder traf ein paar Freunde. Dieser Beschreibung fügte Martin noch hinzu, er fühle sich „sehr verloren und vereinsamt.“
Martin Silberstein starb am 15. Mai 1991 in Los Angeles und mit ihm der letzte dieses Familienzweigs der Silbersteins.