Paul Jacobsohn

Verlegeort
Duisburger Straße 15
Bezirk/Ortsteil
Wilmersdorf
Verlegedatum
30. November 2021
Geboren
28. August 1884 in
Interniert
1938 in Sachsenhausen
Deportation
am 03. Oktober 1942 nach Theresianstadt
Ermordet
29. Mai 1943 in Theresienstadt

Paul Jacobsohn, geboren am 28. August 1884, war der Sohn des Berliner Fabrikanten Eduard Jacobsohn (1849-1910) und dessen Frau Emilie, geborene Lisser (1854-1922). Sein Vater stammte ursprünglich aus Stolp in Pommern (heute Słupsk in Polen), die Mutter war eine Kaufmannstochter aus Stettin (Szczecin).

Paul war das jüngste von sechs Geschwistern, drei Jungen und drei Mädchen, die rasch hintereinander auf die Welt gekommen waren: Sein ältester Bruder Emil war nur sieben Jahr älter als er. Die Familie wohnte in der Prenzlauer Straße, heute Karl-Liebknecht-Straße. Von dort konnte man Vaters Fabrik in der damaligen Landwehrstraße 11-13 schnell zu Fuß erreichen. Sie stellte mit modernen dampfbetriebenen Maschinen Kartons, Faltschachteln, Lagerkästen und Musterkarten (Proben von Tuch, Knöpfen etc. auf Karteikarten) her und beschäftigte mehrere hundert Arbeiterinnen und Arbeiter. An der Berliner Gewerbeausstellung 1896 nahm sie mit einem prächtigen Pavillon teil, der im Geschmack der Zeit als Tempel der Industrie gestaltet war und einige Arbeitsschritte der Fabrikation während der Ausstellung vorführte.

Mit zwanzig Jahren unternahm Paul eine Schiffsreise nach New York, die ihn sehr begeisterte. Seine Tochter erzählte später, er habe noch nach dreißig Jahren davon geschwärmt.

Eduard Jacobsohns Söhne gingen ihm wahrscheinlich schon früh in der Fabrik zur Hand und traten schließlich in seine Fußstapfen: Als er 1910 starb, übernahm sie Paul, der jüngste. Der Firmenname „Eduard Jacobsohn" wurde beibehalten. Pauls großer Bruder Emil eröffnete 1917 in derselben Branche seinen eigenen Betrieb, ein Handelshaus für Kartonagen in der Monumentenstraße. Der mittlere Bruder, Siegfried, war schon 1906 mit nur 27 Jahren gestorben. 

Auch eine Schwester, Johanna, starb jung. Die beiden anderen, Elsbeth und Rosa, heirateten und blieben mit ihren Männern in Berlin. Elsbeth lebte später in Paris, wo sie 1931 starb. Das Familiengrab der Familie Jacobsohn befindet sich auf dem jüdischen Friedhof Weißensee.

Die Kartonfabrik florierte unter Pauls Direktion. Zu ihren Kunden zählten nun viele moderne Warenhäuser wie das Holstenhaus Lübeck, Hermann Tietz' Warenhaus in Gera oder das KaDeWe.

In den 1910er-Jahren zog Paul Jacobsohn in das beliebte und lebhafte Hansaviertel in das Haus Siegmunds Hof 13. Im Ersten Weltkrieg diente er als Vizewachtmeister der Landwehr im Westfälischen Trainbataillon Nr. 7. Er war, wahrscheinlich als Nachschubsoldat, in Münster stationiert. 

Am 29. Juni 1917 heiratete er auf Heimaturlaub seine Verlobte Hildegard Rosalie Meyer. Sie war am 28. April 1894 in Memel in Ostpreußen (heute Klaipeda in Litauen) geboren, das älteste Kind des Amtsgerichtsrats und geheimen Justizrats Jacob Meyer und dessen Frau Hedwig, geborene Jacoby. Vor ihrer Heirat hatte sie, wahrscheinlich mit ihrer Familie, in der Dahlmannstr. 29 in Charlottenburg gewohnt.

Das Ehepaar Jacobsohn bekam zwei Töchter, Gerda (*8. September 1918) und Lilli (*6. Juli 1922). 

Bis mindestens 1934 wohnten sie am Hansa-Ufer 8, in einer repräsentativen Wohngegend zwischen Levetzowstraße und Spree, von deren Gebäuden heute nichts mehr erhalten ist. Danach zogen sie in die Duisburger Straße 15. 

Die Jacobsohns waren eine säkulare, assimilierte Familie. Es hat den Anschein, als ob ihre jüdische Identität überhaupt erst nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in den Mittelpunkt ihres Lebens gerückt sei. Die Töchter, die 1933 vierzehn und zehn Jahre alt waren, durften bald keine Regelschule mehr besuchen, keinen nicht-jüdischen Sportverein. Pauls Arbeit wurde immer weiter erschwert. Die Eltern legten großen Wert darauf, dass Gerda und Lilli trotz den Verboten und Erniedrigungen eine gute Ausbildung erhielten. Beide besuchten die Schule von Leonore Goldschmidt am Hohenzollerndamm 110a, die größte jüdische Privatschule Berlins, danach Sprachenschulen, lernten Englisch, Französisch und Spanisch, Steno, Schreibmaschine. Gerda scheint 1937 mit ihrem Vater die Leipziger Messe besucht und sich dort sehr für die unterschiedlichen Modelle moderner Schreibmaschinen interessiert zu haben; den Mädchen war klar, dass sie Geld verdienen mussten und am besten etwas lernten, was auch im Ausland zu gebrauchen wäre. Lilli zeichnete gerne und liebäugelte mit einem künstlerischen Beruf, doch die Eltern wollten davon nichts wissen. 

Im April 1937 trat die 18-jährige Gerda ihre erste Stelle an, als Sekretärin bei dem Chemie- und Drogeriewarenhandel J. Landsberger in der Rosenthaler Straße. Die Familie Jacobsohn versuchte nach Kräften, in den immer unerträglicheren Umständen einen Anschein von Normalität zu wahren. Die Mädchen spielten Tennis im jüdischen Tennisclub, fuhren in Gatow Kanu, trafen sich mit Freunden zu privaten Tanzveranstaltungen. Im Sommer 1937 machte die Familie wohl zum letzten Mal Urlaub, im Alpendorf Wengen im Berner Oberland in der Schweiz. Danach reiste Gerda nach England, um ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen, im April 1938 kehrte sie nach Berlin zurück. Wahrscheinlich hofften die Jacobsohns damals noch immer auf bessere Zeiten.

Nach ihrem Umzug in die Duisburger Straße gehörten sie der Synagoge in der Prinzregentenstraße 69/70 an. Mit dem dortigen liberalen Rabbi Manfred Swarsenski war die Familie befreundet. In Glaubensdingen ließen Paul und Hildegard ihren Töchtern freie Hand. So entschied sich Lilli gegen ihre Einsegnung (Zeremonie mit 16 Jahren, die im Reformjudentum die Bat Mizwa ersetzen kann), weil ihr nicht gefallen hatte, was Rabbi Swarsenski in der Synagoge erzählt hatte. 

Bei den „Kristallnacht"-Pogromen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Nazis die Synagoge in der Prinzregentenstraße nieder und verhafteten Manfred Swarsenski. Sie verhafteten auch Paul Jacobsohn. Beide wurden in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt.

Gerda und Lilli versteckten sich mit der Mutter in der Wohnung. Dort schrieben sie Briefe an ihren Freund Uli Schweitzer, der als erster seiner Familie mit sechzehn Jahren allein in die USA emigriert war. Es gab längst kein Briefgeheimnis mehr.

Die Briefe erwähnen die Pogrome mit keinem Wort. Am 9. November 1938 schreibt Gerda, dass sie als Lehrschwester im jüdischen Krankenhaus angefangen habe, die Ausbildung aber abgebrochen habe, weil der Abschluss im Ausland nicht anerkannt werde; nun besuche sie einen Spanisch-Intensivkurs im jüdischen Lehrhaus. Etwas Geld verdiene sie daneben als Englischlehrerin. Dann spricht sie, fast beiläufig, über ihr „trübes Dasein": „Hier haben wir, wie du sicherlich weißt, nicht mehr viel Gelegenheit, uns zu amüsieren. Ab und zu gehe ich noch ins Kino oder in die Staatsoper. Das geht noch." Sie legt ein Foto ihrer Schwester bei, damit Uli sieht, wie hübsch und erwachsen die kleine Lilli geworden ist.

Am 10. November, ihr Vater ist bereits im KZ, schreibt Lilli dann auch einen Brief. Sie erzählt Uli von ihrer Sprachenschule, von ihrem Wunsch, ins Hotelfach zu gehen – „... aber das hat ja vorläufig gar keinen Zweck, da muss ich erst einmal etwas Praktisches lernen, um gleich im Ausland Geld verdienen zu können. Wir haben nämlich die Absicht, nach U.S.A. zu gehen, aber es ist ja heute so schrecklich schwer, bis es soweit ist. (...) Bis jetzt haben wir noch nicht einmal das Affidavit, und alles ist vorläufig noch ein großes Fragezeichen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es doch noch mal klappen wird." Für große Unternehmungen in Berlin habe sie im Moment sowieso keine Zeit, weil sie so viel lernen müsse – „... trotzdem es ja ganz schön wäre, auch mal was vorzuhaben. Jetzt kann man mit Recht Deine Worte ‚Was nicht ist, ist nicht' sagen." Man möchte sich nicht ausmalen, in was für einer Stimmung die beiden Mädchen diese Briefe geschrieben haben. Ulis Vater war ebenfalls nach Sachsenhausen verschleppt worden. Er freundete sich dort mit Paul Jacobsohn an. Im Dezember wurden beide entlassen und kehrten zu ihren Familien zurück; Ulis Vater halb tot, mit blutendem Magengeschwür. Über Paul Jacobsohns Zustand wissen wir nichts.

Im März 1939 verließ Gerda Jacobsohn Deutschland für immer. Sie trat in London eine Stellung als Kindermädchen an. Im Mai folgte ihr Lilli – im letzten Moment, weil sie fast schon zu alt dafür war – mit dem Kindertransport Nr. 4. Die Eltern blieben in Berlin. Monat um Monat versuchten nun Paul und Hildegard Jacobsohn, einen Fluchtweg zu finden. Fast ein Jahr lang hofften sie vergebens auf ein amerikanisches Visum. Ein Affidavit von Uli Schweitzer blieb wirkungslos. Ihre Töchter in England setzten gleich nach ihrer Ankunft alles in Bewegung, um sie aus Deutschland herauszuholen. Es scheiterte am Geld. 

Im März 1939 schrieb Gerda aus London an Uli: „Ich bin zwar glücklich, jetzt endlich auch draußen zu sein, doch kann ich mich vorläufig noch nicht 100% freuen, da doch die Eltern leider immer noch in Berlin sind, und nicht wissen, wie sie rauskommen können. Ich habe hier schon mein Möglichstes getan, um sie auf irgendeine Weise hier herzubekommen, als Dienerehepaar oder sonst was, doch klappt nichts, und die einzige Möglichkeit, die übrigbleibt, ist, die notwendige Garantiesumme für sie aufzubringen. Doch woher nehmen? An alle in Frage kommenden Leute und Stellen habe ich mich in der Zwischenzeit bereits gewandt, doch bisher nur negative Bescheide bekommen. Ich bin schon ganz verzweifelt, denn besonders für Papi ist es doch unbedingte Notwendigkeit, so bald wie irgend möglich aus Deutschland rauszukommen, denn einmal Konzentrationslager ist wahrhaft mehr als genug für einen Menschen."

Am 3. Oktober 1942 wurden Paul und Hildegard Jacobsohn vom Bahnhof Grunewald aus ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort mussten sie noch monatelang die Strapazen und Quälereien erdulden. Paul wurde am 29. Mai 1943 in Theresienstadt getötet; Hildegard brachte man noch nach Auschwitz. Dort ermordete man sie am 18. Dezember 1943. Paul wurde 58, Hildegard 49 Jahre alt. Bis weit in das Jahr 1945 hinein wussten Gerda und Lilli nicht, ob ihre Mutter noch lebte.

Paul Jacobsohns großer Bruder Emil war mit seiner Frau Käthe, geb. Blumenfeld ebenfalls aus Berlin deportiert worden, am 14. September 1942 nach Theresienstadt. Er wurde dort am 5. Oktober ermordet; seine Frau überlebte. Sie emigrierte nach dem Krieg nach Peru, wo sie hochbetagt starb. 

Pauls Schwester Rosa gelang die Flucht. Sie starb 1960 in Israel.

Gerda und Lilli Jacobsohn blieben in England. Gerda heiratete dort ihren Berliner Jugendfreund Hans Falk, der sich später Henry Forsythe nannte. Lilli heiratete ebenfalls einen Immigranten, Alfred Krieger, mit dem sie eine Tochter hatte. Gerda und Lilli starben 2014 und 2021 in London. Sie waren 95 und 99 Jahre alt.