Siegfried Heumann

Verlegeort
Glockenblumenweg 105
Bezirk/Ortsteil
Rudow
Verlegedatum
13. Januar 2023
Geboren
29. September 1894 in Laupheim/Biberach
Beruf
Buchhalter
Deportation
am 17. November 1941 nach Riga
Ermordet
25. November 1941 in Fort X, Kowno/Kaunas

Siegfried Heumann wurde am 29. September 1894 in Laupheim/Biberach in Württemberg in eine große jüdische Familie geboren. Sein Vater scheint mit seiner Familie bald nach München gegangen zu sein und betrieb in München-West das renommierte ‚Kaufhaus des Westens‘. Siegfried wuchs mit seinen vier Brüdern Friedrich, Ernst, Albert und Hugo in ökonomisch abgesicherten Verhältnissen auf. Über die Mutter der Jungen ist nichts bekannt, sie wird in allen Quellen nie erwähnt. Die fünf Brüder fingen im Jahr 1904 an, all ihr Taschengeld für eine gemeinsame Briefmarkensammlung auszugeben. Diese wurde tatkräftig von dem Schweizer Zweig der Familie unterstützt. Auch die Post des Onkels Carl Lämmle, der früh in die USA ausgewandert war und dort zu einem der Pioniere des Spielfilms wurde und zu den Gründern Hollywoods zählt, war bei den Jungen umjubelt, brachte sie doch die heiß begehrten Briefmarken aus dem Ausland. Man kann davon ausgehen, dass die fünf Brüder ein enges Verhältnis zueinander hatten.

Siegfried besuchte in München die Ludwig-Kreisrealschule, schon früh zeigte sich seine außerordentliche mathematische Begabung und er schulische Belobigungen und Auszeichnungen dafür. Nach der Schule ging er in eine kaufmännische Lehre im Bankhaus Aufhäuser.

Siegfried und sein älterer Bruder Friedrich wurden nach Kriegsbeginn noch im Jahr 1914 zum Militär eingezogen,  Albert und Hugo meldeten sich im Jahr 1915 freiwillig.  Daraus lässt sich schließen, dass auch in der Familie Heumann der Patriotismus bestimmendes Lebensgefühl war – man war bereit, Leib und Leben für das Vaterland zu riskieren. Und dies geschah – Hugo starb 1916 auf den Schlachtfeldern bei Priesterwald; Friedrich wurde 1916 durch einen Kopfschuss schwer verwundet und konnte seinen Beruf als Schriftsteller und Journalist nicht mehr nachgehen. Laut seinem Bruder Albert wurde auch Siegfried verwundet, wie schwer ist jedoch nicht überliefert.

Bis ins Jahr 1925 wohnten Albert, Ernst und Siegfried noch beim Vater. Im Jahr 1928 zog es Siegfried in die Metropole Berlin, wo Bruder Friedrich schon längst wohnte und beim Karstadt-Konzern arbeitete. In Berlin fand Siegfried im Gummiwerk Fr. M. Daubitz in der Köpenicker Straße 91-95 in Rudow ab dem 1. August 1930 Anstellung, ein Freund namens Tuchmann war dort Mitinhaber. Nach nur drei Monaten Probezeit wurde Siegfried Heumanns Vertrag verlängert und schon bald wurde er zum Buchhalter gemacht. Seine mathematischen Qualifikationen und sein gewissenhafter, akribischer und fehlerfreie Umgang mit den ihm betrauten Angaben sorgten dafür, dass er in den 1930er Jahren zum Chefbuchhändler aufstieg. Er scheint aber auch für die schwierigen Berechnungen neuer synthetischen Gummizusammensetzungen zuständig gewesen zu sein. Seine Stellung konnte er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten trotz der immer schärfer werdenden antisemitischen Drangsalierungen in den Betrieben halten – sein Arbeitgeber, ein überzeugter Nationalsozialist der frühen Stunde, verbürgte sich sogar für ihn.

Die Familie mit den Brüdern und ihren Verlobten versammelte sich im Juli 1936 zum 75. Geburtstag des Vaters in München noch einmal – es sollte das letzte Mal sein, dass die Familie Heumann vollzählig zusammen kam. Bei dieser Gelegenheit übergab der Vater die gemeinsame Briefmarkensammlung der Brüder zur Aufbewahrung an Siegfried, der noch immer in Lohn und Brot in Berlin stand. Wie die innerfamiliären Diskussionen um eine Einschätzung der Zeit abliefen, wissen wir nicht, aber zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden jüngeren Brüder Albert und Ernst schon beschlossen, nach Chile auszuwandern. Albert schreibt dazu: „Siegfried und Friedrich wollten unter allen Umständen in Deutschland bleiben, da sie beide als Kriegsbeschädigte nicht glaubten, dass sie jemals durch die Verfolgung zu leiden haben würden.“

Wenn man die Aufrechnungsbescheinigungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte auswertet, so ist Siegfried Heumann im Jahr 1938 plötzlich drastisch rückgestuft worden – die Vermutung liegt nahe, dass es nicht mehr möglich war, ihn als Juden in einem hochbezahlten Posten zu beschäftigen. Zu diesem Zeitpunkt wohnte Siegfried Heumann nah seiner Arbeitsstelle im Glockenblumenweg 105 zur Untermiete bei einer Frau Schlieter – da er ein Junggeselle war, scheint ihm ein Zimmer genügt zu haben. Sein Bruder Albert schreibt dazu, dass Siegfried „immer sehr bescheiden, zurückgezogen und spartanisch gelebt“ hätte.

Wir wissen aus dem Entschädigungsantrag, den Albert nach dem Krieg stellen sollte, dass Siegfried zu diesem Zeitpunkt dann doch vorhatte, seinen Brüdern nach Chile zu folgen. Er scheint 1938 tatsächlich alle Papiere, die zur Ausreise nötig waren, beisammen gehabt zu haben – tragischerweise brannte das Schiff, für das er einen Fahrschein hatte, in letzter Minute aus. Dies zerschlug all seine Fluchtpläne – er scheint nach diesem Erlebnis nicht mehr die Energie aufgebracht zu haben, sich um eine weitere Flucht zu bemühen. Aus einem Brief Friedrichs an Ernst wissen wir, dass Siegfried den verbitterten und zutiefst hoffnungslosen älteren Bruder jeden 3. Samstag besuchte. Friedrich traute sich eine Flucht nicht zu, er schrieb im Februar 1939: „Aber soll ich zu diese Stunde, in der ich noch mein Brot habe und nicht wissen kann, wie es für mich dort draussen (sic) aussehen wird, einfach diesen Besitz liegen lassen und mit dem so ungewissen Schicksal vertauschen, dass mir ohne genügende Sprachkenntnis, Beziehung und mit materieller Besitzlosigkeit wahrscheinlich bevorsteht.“

Mit dem Überfall auf Polen wurde die Ausreise aus Deutschland für jüdische Menschen zusätzlich erschwert und schon bald gänzlich unmöglich gemacht. Vermutlich hatte Siegfried schon sein Zimmer gekündigt – jedenfalls zog er aus unbekannten Gründen in eine Wohnlaube in die nah gelegene Kleestraße 3 zur Untermiete bei einer Frau Backora. Eventuell stand der Umzug aber auch mit seiner Kündigung zusammen – ab dem 1.3.1939 hatte er keine Anstellung mehr. Wir können davon ausgehen, dass dieser Umzug ohne die Verfolgung und Drangsalierung nicht stattgefunden hätte.

Siegfried Heumann bekam im November 1941 die Order, sich am 15. November im Sammellager in der Levetzowstraße einfinden zu müssen. Von da aus wurde er mit den für diesen Transport zusammengepferchten Menschen nachts durch das Berliner Zentrum zu Fuß zum Deportationsbahnhof Grunewald getrieben, wo sie am Morgen des 17. November die Viehwaggons eines Sonderzugs mit dem Transportziel ‚Riga‘ besteigen mussten. Dieser Transport landete im berüchtigten Fort X bei Kowno. Am 25. November 1941 wurden sämtliche Personen, die in diesem Transport waren, in Massenerschießungen ermordet, unter ihnen auch Siegfried Heumann.

Aus dem Entschädigungsantrag, den Albert Heumann nach dem Krieg mühevoll anstrebte und in dem es um eine Kompensation für die auf 50 000 – 80 000 Reichsmark geschätzte Briefmarkensammlung  ging, wissen wir, dass Siegfried Heumann zuletzt die Sammlung und weitere wertvolle Gegenstände aus den Haushalten seiner geflohenen Familienmitglieder in zwei großen Holzkisten verwahrt hatte. Der Verbleib der Kisten bleibt ungeklärt – die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei seiner Deportation eingezogen wurden, ist hoch.

Auch Friedrich Heumann und seine Frau Karola wurden im Holocaust ermordet; Ernst Heumann beging in den 1950er Jahren Suizid. Albert Heumann kehrte nach Deutschland zurück und focht einen erbitterten Kampf gegen die Behörden, um Wiedergutmachung und Entschädigung für den Verlust seiner Familienangehörigen zu erlangen. Wie so viele andere scheiterte er damit.