Bertha Walk geb. Kahan

Verlegeort
Jagowstraße 8
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
25. April 2014
Geboren
15. Mai 1876 in Wilna / Vilnius
Deportation
am 03. Oktober 1942 nach Theresienstadt
Ermordet
01. Februar 1945 in Theresienstadt

Bertha Kahan wurde am 15. Mai 1876 im damals zum Russischen Reich gehörenden Wilna (dem heutigen Vilnius in Litauen) geboren. Sie war die Tochter von Baruch Leib Kahan und dessen Ehefrau Minna Kahan, geborene Jappu (1849–1937). Ihre Mutter stammte aus dem damals russischen Podberezie (heute Pidberessja in der Westukraine). Die Herkunft ihres Vaters sowie dessen Lebensdaten gehen aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. 1873 habe ihre Eltern geheiratet und sich in Wilna niedergelassen. Bertha wuchs im Kreis von mindestens zwei Schwestern auf: Ihre ältere Schwester Ida Kahan war 1871 in Olkieniki (heutiges Valkininkai in Litauen) geboren worden; Geburtsort und -jahr ihrer zweiten Schwester Mira Kahan gehen aus den erhaltenen Zeugnissen nicht hervor. Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Bertha Kahan und ihren Schwestern in Wilna haben sich keine weiteren Quellen erhalten. Ihre Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde der Stadt, zu der um die Jahrhundertwende rund 62.000 der etwa 154.000 Einwohner Wilnas zählten.

Leider geben keine Quellen Aufschluss darüber, welche Schulen Bertha und ihre Schwestern besuchten, ob sie nach ihrem Abschluss eine Berufsausbildung erhielt und ob sie berufstätig war. Möglicherweise absolvierte sie eine Schneiderlehre, da sie später mit ihrer Schwester Ida in der Textilbranche tätig war. Im Jahr 1900 heiratete die damals 24-jährige Bertha den ebenfalls aus Wilna stammenden Kaufmann Simon Walk, der 1862 oder 1863 als Sohn von Alexander Walk geboren worden war. Die Ehe zwischen Bertha und Simon Walk sollte kinderlos bleiben. Ihre Schwester Ida hatte 1898 Benjamin Lurje geheiratet und lebte mit ihm in Kowno (dem heutigen Kaunas in Litauen), wo Berthas Neffe Boris sowie in den Jahren 1899 und 1907 ihre Nichten Luba und Balbina zur Welt kamen. Ende der 1900er-Jahre zog sowohl Bertha mit ihrem Ehemann als auch ihre Schwester Ida Lurje mit ihren Kindern nach Berlin. Aus den erhaltenen Dokumenten geht nicht hervor, wann Benjamin Lurje verstarb, aber spätestens in den 1930er-Jahren war Ida verwitwet. Anfang der 1910er-Jahre gründeten die Schwestern ein Atelier für maßgefertigte Korsetts im Stil Pariser Aufmachung an der Adresse Kurfürstendamm 205 in Charlottenburg, mit dem sie sich rasch einen vorzüglichen Ruf in Berlin und darüber hinaus erarbeiteten und das nicht nur ihre Existenz sicherte, sondern den Schwestern zu einigem Wohlstand verhalf. Zum Kundenkreis des Geschäfts zählten in den 1920er- und 1930er-Jahren – laut späteren Berichten von Familienangehörigen und der im Geschäft angestellten Sekretärin Elfriede Brückmann – unter anderem die spätere Ehefrau von Wilhelm II. Hermine von Schoenaich-Carolath (1887–1947), die jedes Jahr aus den Niederlanden anreiste, wohlhabende, südamerikanische Kundinnen, die Kronprinzessin Cecilie zu Mecklenburg (1886–1954), die Industrielle Amélie Thyssen (1877–1965), Staatssekretärsgattin Hildegard Meissner (1889–1952), die Malerin Charlotte Berend-Corinth (1880–1967) sowie die Schauspielerinnen Asta Nielsen (1881–1972), Helene Thimig (1899–1974), Elisabeth Bergner (1897–1986) und Fritzi Massary (1882–1969).

Die Schwestern wohnten mit ihren Familienangehörigen in einer über dem Atelier liegenden Wohnung. In den 1920er-Jahren unternahmen sie alljährliche Reisen in Kurorte wie Bad Kissingen. In ihrem Atelier beschäftigten Bertha Walk und Ida Lurje bis zu fünf festangestellte Maßschneiderinnen und ein weiterer Teil der Aufträge wurde durch beschäftigte Heimarbeiterinnen angefertigt. 1929 zogen die Schwestern in eine geräumigere Wohnung an der Adresse Kurfürstendamm 67, wohin sie auch die Geschäftsräume und die Werkstatt des Maßateliers „Walk & Lurje“ verlegten. Ihre Geschäftssekretärin Elfriede Brückmann berichtete später zu dem Umzug: „Anfang des Jahres 1929 zogen Frau Lurje, ihre Tochter Balbina, die an der Universität studierte, Frau Walk und ihr Mann und die Mutter der beiden Damen [die verwitwete Minna Kahan, Anm. d. Autors] in eine sehr viel größere und sehr elegante Wohnung nach Kurfürstendamm 67 (Ecke Giesebrechtstraße).“ Idas Tochter Balbina hatte nach ihrem Schulabschluss ein Studium der Medizin an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (heutige Humboldt-Universität) begonnen. Idas Sohn Boris war Direktor der jüdischen Terra-Aktiengesellschaft für Grundbesitz in Berlin, die die 8-Zimmer-Wohnung am Kurfürstendamm 67 verwaltete. Balbina erinnerte sich später: „Ich war zum letzten Mal bei meiner Mutter in der Wohnung Kurfürstendamm 67 und zwar ungefähr im September 1933. Diese Wohnung war eine große Luxuswohnung, erster Stock, Vorderhaus […]“, und wie sie weitere berichtete, ausgestattet mit Fahrstuhl, Lieferanteneingang, Empfangssaal, einem von dem Architekten Bruno Taut (1880–1938) entworfenen Salon, Wintergärten und einem repräsentativen Esszimmer für bis zu 20 Personen. Aus den erhaltenen Zeugnissen lassen sich nur wenige Einblicke in das persönliche Leben der beiden Schwestern im Berlin der Weimarer Republik gewinnen – es lässt sich aber erahnen, dass sie kunstsinnig waren, dass sie die modischen Trends ihrer Zeit aufgriffen, dass sie am Gesellschaftsleben teilnahmen und sehr gut in den Berliner Kreisen vernetzt waren. Am 22. Mai 1931 starb Berthas Ehemann im Alter von 68 Jahren nach längerer Krankheit in Berlin.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Bertha Walk und ihre Familienangehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Seit 1933 waren die Schwestern Ida Lurje und Bertha Walk außerdem als Geschäftsinhaberinnen von den antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen im Juni und November 1938 in Berlin erfuhren. In den 1930er-Jahren gelang es Ida Lurjes Kindern, das Land zu verlassen, genauso wie ihrer Schwester Mira Kahan, verheiratete Sawitzky. Boris Baruch Lurje, Mira Sawitzky und Luba Lurje, verheiratete Stein, lebten später in Tel Aviv. Dr. Balbina Lurje, verheiratete Droller, war mit ihrem Ehemann nach England gegangen, wohin auch Bertha Walk und Ida Lurje nachfolgen wollten. Im späteren Entschädigungsverfahren heißt es hierzu: „Neben dem vorsorglichen getroffenen Heimeinkaufsvertrag hat die Verstorbene [Bertha Walk, Anm. d. Autors] zusammen mit ihrer Schwester Ida Lurje die Auswanderung nach London betrieben. Nach Angaben der Angehörigen war die Reichsfluchtsteuer bereits bezahlt. Der zwangsweise Abtransport nach Theresienstadt hat es nicht mehr zur Auswanderung kommen lassen.“ Ab Mitte der 1930er-Jahre war der Geschäftsbetrieb ihrer Maßschneiderei in Berlin dermaßen eingeschränkt, dass sie den Betrieb 1938/1939 zwangsweise aufgaben. Bertha Walk hatte einen Teil ihres Vermögens in Immobilien angelegt und war Miteigentümerin des Wohnhauses am Stuttgarter Platz 2 in Charlottenburg. Ende der 1930er-Jahre waren die Schwestern gezwungen, für ihren Unterhalt und den ihnen auferlegten Zwangsabgaben einen Teil ihres Besitzes zu verschleudern. Idas Tochter Balbina Droller berichtete später zu der Situation: „Meine Mutter und meine Tante haben bis zum Jahre 1938 eine gemeinschaftliche Wohnung im Hause Kurfürstendamm 67 gehabt. Im Jahre 1938 sind sie in Kurfürstendamm 47 umgezogen. Anfang 1939 mussten sie dann diese Wohnung aufgeben und sind zu einem Verwandten Paul Walk nach der Jagowstraße 7 gezogen. Sie mussten sich dann in immer kleiner werdenden Wohnungen als Untermieter zurückziehen, bis sie deportiert wurden.“ Bei Paul (Fajwel) Walk (1879–1942) handelte es sich um einen Bruder von Berthas verstorbenem Ehemann Simon, der mit seiner Ehefrau Blima Walk, geborene Glowinka, in der Jagowstraße 7 in Moabit lebte, bis beide im Januar 1942 aus Berlin in das Ghetto Riga deportiert und ermordet wurden. Die letzte Berliner Adresse, an der die Schwestern unterkamen, war die Kaiser-Friedrich-Straße 17a in Charlottenburg, wo sie als Untermieterinnen ein Zimmer bei Friedenstein bewohnten. Das Leben war für Bertha Walk und Ida Lurje Anfang der 1940er-Jahre in Berlin zum reinen Existenzkampf geworden. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Bertha Walk und Ida Lurje erhielten den Deportationsbescheid im Herbst 1942. Am 3. Oktober 1942 wurden sie mit dem „3. großen Alterstransport“ aus Berlin in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Bertha Walk überlebte die unmenschlichen Bedingungen in Theresienstadt fast zweieinhalb Jahre, bevor sie wenige Wochen vor Kriegsende am 1. Februar 1945 in Theresienstadt ermordet wurde – entweder durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung mittels planvoller Mangelernährung, versagter Medikamente, Kälte und körperlichen Misshandlungen. Bertha Walk wurde 68 Jahre alt. Ihre Schwester Ida war am 18. Dezember 1943 aus Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.

Berthas Neffe Boris Lurje, ihre Nichten Luba Steib, geborene Lurje, und Balbine Droller, geborene Lurje, ihre Schwester Mira Sawitzky und ihre Nichten Miriam Walk (*1919) und Ruth Walk (*1924), die Töchter ihres Schwagers Paul Walk, überlebten die NS-Verfolgung im Exil.