Joseph Heinrich Chotzen

Verlegeort
Johannisberger Str. 3
Bezirk/Ortsteil
Wilmersdorf
Verlegedatum
21. Juni 2024
Geboren
27. September 1907 in Berlin
Überlebt

Joseph Heinrich Chotzen, genannt Eppi, verfasste am 28. Februar 1952 einen Lebenslauf für die Entschädigungsbehörde:

„Ich wurde am 27.9.1907 als erster von vier Söhnen des jüdischen Kaufmannes Josef Chotzen und seiner Ehefrau Elsa, geb. Arndt, in Berlin geboren. Nach dreijährigem Besuch der 4. Gemeindeschule Wilmersdorf, Koblenzerstrasse, kam ich in die Treitschke Schule, Prinzregentenstr., die ich bis zur Untersekunda besuchte, um am 1. Mai 1924 meine zweieinhalbjährige kaufmännische Ausbildung im Textilkaufhaus M. Biermann A.G. in Gera zu beginnen. Anschliessend war ich dort noch ein halbes Jahr als Verkäufer tätig und nahm während dieser Zeit an einem Kursus der Webschule teil. Am 1. April 1927 begann ich im Seidenhaus Michels u. Cie. Berlin, Leipzigerstrasse und an der Gedächtniskirche, meine sechsjährige Tätigkeit als Verkäufer, später noch als Hilfsdekorateur und Substitut.

Die wirtschaftliche und politische Lage, durch die Entwicklung der NSDAP besonders für uns Juden bedrohlich geworden, brachte es mit sich, dass ich mich 1929 der KPD anschloss. Ich beteiligte mich energisch am Kampf gegen die Nazis, hauptsächlich gegen die überaus aktive und einflussreiche NSBO Zelle bei der Firma Michels. Ende März 1933 musste ich auf Verlangen des Nazibetriebsrates entlassen werden und unter Drohungen das Haus verlassen. Im Zeugnis heisst das: ,Infolge der wirtschaftlichen Lage waren wir gezwungen Herrn Chotzen zu kündigen.ʻ Ich verschwand sofort aus Berlin, da ich die Absicht hatte, mich einer zu erwartenden Verhaftung zu entziehen. Meine Frau, damalige Freundin, mietete bei einem Bauern am Crossinsee eine Kabine auf ihren Namen, wo ich mich dann unangemeldet aufhielt. Ich wurde dort doch aufgespürt. Drei oder vier Tage vor meiner Verhaftung Mitte Juli 1933 warnten mich Kollegen von Michels; ich befürchtete jetzt aber Repressalien gegenüber meinen Angehörigen, wenn ich weiter in der Illegalität bliebe, die lange Zeit erfolgreich durchzuführen ohnehin überaus schwierig und mehr als fragwürdig erschien. Ich hoffte auf einen einigermassen glücklichen Verlauf und wurde so in Wernsdorf von der Gestapo verhaftet und in die Fidicinstrasse gebracht. Man fand anscheinend nichts besonders Belastendes, sodass ich schon nach knapp zwei Wochen wieder frei war.

Bis 1936 war es mir dann allerdings, weil ich Jude bin, nur möglich meine Arbeitslosigkeit durch kurze Aushilfsanstellungen zu unterbrechen. […] Daraufhin wurde ich in den äusserst gesundheitsschädigenden Betrieb: Sandstrahlbläserei Strauss, Eisenbahnstrasse, zwangsvermittelt. Hier habe ich mir die Grundlagen für mein Lungenleiden und den Gelenkrheumatismus geholt. Bei der Aktion gegen Juden Ende Februar 1943 wurden alle jüdischen Arbeiter dieser Firma verhaftet, dann evakuiert und ermordet. Ich hatte in einer anderen Schicht zu arbeiten und entging so der Verhaftung und verbarg mich bei der Mutter meiner Frau, damaligen Freundin, Berlin W 35, Woyrschstrasse 30 D (Genthinerstr.).

Bei derselben Aktion wurden auch zwei meiner Brüder mit ihren jungen Frauen evakuiert. Sie kamen zuerst nach Theresienstadt und sind später in Landshut und Dachau umgekommen. Mein dritter Bruder war schon 1942 mit seiner Frau und Schwiegermutter nach Riga verschleppt worden. Auch von ihnen konnte sich keiner dem Morden entziehen.

Ich wagte es am 12. April 1943 wieder aus der Illegalität auf dem Arbeitsamt in der Fontanepromenade zu erscheinen und wurde zur Abbruchfirma Strubel Söhne (Fliegerschadenbeseitigung) zwangsvermittelt. Hier arbeitete ich bis zum Beginn der Kampfhandlungen in Berlin.

Nach Kriegsende betätigte ich mich zuerst als Haus- und Strassenobmann und wurde am 1. Juli 1945 beim Bezirksamt Wilmersdorf angestellt. Als sich 1947 rheumatische Schmerzen immer mehr steigerten, begab ich mich in ärztliche Behandlung und wurde wegen Gelenkrheumatismus und allgemeiner Erschöpfungserscheinungen nach Bad Elster verschickt. Aber erst nach völlig verfehlter Kur wurde festgestellt, dass ich mir ein schweres Lungenleiden zugezogen hatte, welches jetzt zur Katastrophe zu führen schien. Ich musste aufhören zu arbeiten und bin seitdem Rentenempfänger.

Sobald es möglich war, und zwar am 8.6.45, hatte ich geheiratet. Meine Frau hatte, nachdem es aus verschiedenen Gründen versäumt war, vor dem Erlass der ,Nürnberger Gesetzeʻ 1935 zu heiraten, unausgesetzt treu zu mir gehalten und mir mit Erfolg alle schwierigen Situationen zu überwinden geholfen. Das war umso gefährlicher weil sie Christin ist, und ich wie mein Vater und meine drei Brüder als "Sternträger" herumlaufen musste. Auch jetzt verdanke ich es hauptsächlich ihrer aufopfernden Pflege, dass ich das Schlimmste überwunden habe. Allerdings macht meine schlechte wirtschaftliche Lage die weiterhin notwendige gute Pflege unmöglich, sodass meine Hoffnung, doch bald mal wieder meinen Unterhalt selbst verdienen zu können, sich wohl kaum so schnell erfüllen wird […].“

Wie Ilse Rewald, eine Freundin der Familie, es beschrieb, konzentrierte sich Eppi auf außerberufliche Dinge, spielte weiter Geige, lernte das Autofahren und genoss mit seiner Frau den gemeinsamen Schrebergarten in der Kleingartenkolonie Johannisberg – bis sie 1959 starb. Um seine Mutter, in deren Nachbarschaft er lebte, kümmerte er sich bis zu ihrem Tod 1982. 1974 lernte er Elsa Ruess kennen, mit der er bis zum seinem Tod am 17. April 1992 zusammen blieb. Ilse Rewald zitiert ihn mit den Worten: „Aber das Leben ist doch schön!“