Am 10. Februar 1883 kam Selma Schlesinger in Eintrachthütte/Schlesien (poln. Zgoda) zur Welt. Der Vater war der Kaufmann Salo Schlesinger, die Mutter Bertha, geb. Perl. 1888 wurde Selmas Schwester Minna geboren, da lebte die Familie bereits im nahen Gleiwitz. Ob es weitere Geschwister gab, konnte nicht ermittelt werden. 1905 betreibt Salo laut Adressbuch einen Kolonialwarenhandel und ist Besitzer des Hauses Mathiasstraße 12, mit nicht weniger als 28 Mietern. Beide Töchter bekommen eine Berufsausbildung, Minna wird Schneiderin, Selma Buchhalterin und Beamtin bei der Dresdner Bank in Gleiwitz. 1906, Selma ist 22 Jahre alt, stirbt die Mutter. Ihr Grabstein ist auf dem Gleiwitzer 1902/3 angelegten neuen jüdischen Friedhof im heutigen Stadtteil Zatorze erhalten.
1924 ist auch Selma im Adressbuch als Bankbeamtin vermerkt, weiterhin wohnhaft in der Mathiasstraße 12. Auch Salo wohnt noch dort, inzwischen Privatier, Besitzer des Hauses ist er nicht mehr. 1931 ist er in der Ebertstraße 12 aufgeführt, in diesem Jahr stirbt er am 15. März. Sein Grabmal ist ebenfalls noch vorhanden. Selma und Minna, beide ledig geblieben, lebten sehr wahrscheinlich auch in der Ebertstraße, denn 1936 führt das Adressbuch beide in der Markgrafenstraße 12 - wie die Ebertstraße bezeichnenderweise nach dem Machtwechsel umbenannt wurde. Selma ist inzwischen Bankbuchhalterin i. R., sie wurde als Jüdin wegen „Nichtüberführung in die Arbeitsfront“ unter dem nationalsozialistischen Regime in den Ruhestand versetzt.
Noch zwei Jahre bleibt sie in Gleiwitz, im März 1938 siedelt die 55-Jährige über nach Berlin. Vielleicht dachte sie, in der Großstadt unauffälliger leben zu können und weniger von den inzwischen immer massiveren Diskriminierungen von Juden betroffen zu sein. Unterkunft zur Untermiete fand sie in der Niebuhrstraße 66, hier wurde sie bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 registriert. Auch Minna ist nach Berlin gezogen, im Mai 1939 wohnte sie in der Droysenstraße 18, bei Walter und Irma Meyer zur Untermiete.
Ein Jahr später, im April 1940, zieht Selma in die Friedenauer Wielandstraße 5, Parterre, als Untermieterin von Max Schächter. Sie bewohnt dort 3 ½ Zimmer und kann eigene Möbel mitbringen. Allerdings wohnt sie dort nicht allein. Vermutlich zieht Minna ebenfalls bald ein und ab August auch Selmas Nichte, Ruth Perl, Tochter ihres Cousins Selmar Perl, die ein Jahr zuvor noch in Beuthen lebte. Deren Schwester Ilse kam 1937 nach Berlin, wo im Januar 1938 ihr Sohn Klaus Perl geboren wurde. Ilse war nach dem frühen Tod ihrer Mutter von Selmas Vater Salo aufgezogen worden. Sie arbeitete nun als Krankenschwester im jüdischen Altersheim in der Iranischen Straße und war dort untergebracht, aber ihr Sohn war 1942 auch in Selmas Wohnung in der Wielandstraße 5 als „Pflegekind der jüdischen Gemeinde“ angemeldet. Am 28. März 1942 wurde Minna, die auf der Straße aufgegriffen worden war, nach Piaski deportiert. Im gleichen Deportationszug waren auch Leopold und Johanna Lewin, die zusammen mit ihrem Sohn Dagobert im Sammellager in der Levetzowstraße Minna kennenlernten. Dagobert wurde nicht mitverschleppt, sondern zur Zwangsarbeit in einer Waffenfabrik herangezogen. Auch er zog Mitte April bei Selma ein. So gibt es Selma im Mai 1942 in der Vermögenserklärung an, die nun auch sie vor der Deportation auszufüllen hat.
In der Vermögenserklärung bezeichnet sich Selma als „Bankbuchhalterin und Bevollmächtigte i.R.“. Von ihrer Schwester Minna, bereits „ausgewandert“, gibt sie „Berliner Transport“, ihre Transportnummer und das Ziel „Piasky“ an. Selma hatte sich offenbar gut informiert und war sich vermutlich im klaren, was diese Art von „Auswanderung“ zu bedeuten hatte. Als ihren Besitz gibt sie u.a. etliche Stühle, zwei Kleiderschränke, drei Bettstellen an, der Haushalt umfasste ja drei Erwachsene und ein Kind. In Selmas Besitz sind auch noch ein Klavier, eine Nähmaschine, ein Staubsauger. Ihre Rente (die wahrscheinlich gekürzt worden war) beträgt 145 RM netto, sie hat noch einige Hundert RM auf einem Sparbuch und ein paar Wertpapiere, die, laut einer nachträglichen Notiz, ihr und ihrer Schwester gemeinsam gehören. Nachdem sie penibel die ersten 10 des 16-seitigen Formulars ausgefüllt hat, macht sie kaum noch Angaben, keine einzige bei der Rubrik „Damenbekleidung“. Unterschrieben ist das Dokument in Friedenau am 4. Mai 1942.
Erst mehrere Wochen darauf, am 2. Juni, hatte Selma sich zur Levetzowstraße 7/8 - die als Sammellager missbrauchte Synagoge – zu begeben, am 13. Juni wurde sie dann deportiert. Der Zug mit 748 Berliner Juden und ca. 280 Menschen aus dem Bezirk Potsdam, kam zwei Tage später direkt im Vernichtungslager Sobibor, Distrikt Lublin, an. Einige Männer wurden zur Zwangsarbeit „selektiert“, alle andern, auch Selma Schlesinger, wurden erschossen oder vergast.
Selmas Wohnungseinrichtung, die sich nun die Oberfinanzdirektion angeeignet hatte, wurde erst Wochen später (am 22. Juli) inventarisiert, auf 652 RM geschätzt und einem Möbelhändler verkauft. Davor gab es noch einige Verwirrung, ausgelöst durch Dagobert Lewin. Dieser erschien am 19. Juni bei der Vermögensverwertungsstelle und gab an, dass drei Tage zuvor zwei Beamte in seiner Abwesenheit alles abgeholt hätten, auch einen Spirituskocher, 3 Koffer und Lebensmittel, die ihm gehörten. Er bat um Rückgabe. „Dem Erschienenen wurde erklärt, daß die Räumung der Wohnung nicht durch das Oberfinanzpräsidium durchgeführt worden ist. Ermittlungen werden angestellt.“ Auch die Gestapo wusste von nichts. Der Oberfinanzdirektor erstattete Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Diebstahls. Die Kriminalpolizei ermittelte daraufhin, dass die vermeintlichen „Diebe“ sehr wohl Beamte der Oberfinanzdirektion waren. Ende August zieht letztere dann die Anzeige zurück mit der Erklärung, es hätte sich um eine Räumung bezüglich Minna Schlesinger gehandelt, sie hätten nicht gewusst, dass diese mit Selma Schlesinger zusammenhänge... . Noch im Januar 1945 waren die Nazis damit beschäftigt, Selmas Wertpapiere und ihre Beamtenversicherung zu enteignen.
Ob Dagobert je seinen Spirituskocher und seine Koffer zurückbekam, darf bezweifelt werden, die Akten geben dazu keine Auskunft. Zunächst wurde am 26. September 1942 auch Ruth Perl deportiert, diesmal nach Raasiku (Estland) - und dort ermordet. Ende des Jahres heirateten Dagobert und Selmas Nichte Ilse und zogen mit dem kleinen Klaus in ein Zimmer in der Grabbestraße 27. 1943 drohte dann auch ihnen die Deportation und sie beschlossen mit dem 5jährigen Kind in den Untergrund zu gehen. Sie fanden etliche Helfer, aber Ende 1944 wurden sie denunziert und festgenommen. Dagobert gelang die Flucht, die hochschwangere Ilse und Klaus wurden am 5. Januar 1945 nach Bergen-Belsen verschleppt. Sie konnten die Befreiung am 15. April erleben - kurz danach, noch im Lager, brachte Ilse ihren Sohn Gad zur Welt, der jedoch wenige Monate später verstarb. Ilse emigrierte später nach England, trennte sich von Dagobert und heiratete erneut.
Dagobert lebte ab 1949 in den USA. Für seine Eltern und auch für ihn liegen Stolpersteine vor der Köpenicker Straße 70, für Ruth Perl vor der Wielandstraße 5 in Friedenau.
Dagobert, der sich in den USA in Bert Lewyn umbenannte, hat mit seiner Schwiegertochter Bev Lewyn seine Erlebnisse in der Illegalität in „On the Run in Nazi Berlin“ 2001 veröffentlicht, deutsch: „Versteckt in Berlin – Eine Geschichte von Flucht und Verfolgung 1942-1945“. Er starb 2016 in Atlanta.