Doris Glückstein geb. Eisenstaedt

Verlegeort
Wartenburgstr. 16
Bezirk/Ortsteil
Kreuzberg
Verlegedatum
02. Dezember 2005
Geboren
25. Februar 1873 in Allenstein (Ostpreußen) / Olsztyn
Deportation
am 06. Juli 1942 nach Theresienstadt
Später deportiert
am 19. September 1942 nach Treblinka
Ermordet
in Treblinka

Ansprache zur Stolpersteineinweihung am 8. Dezember 2005 (Janne Moragiannis von der Hausgemeinschaft Wartenburgstr. 16): <br />
<br />
Wer waren die Menschen, derer wir heute hier gedenken? Es sind dies zwei ehemalige Hausbewohnerinnen, die, wie 50.000 weitere Jüdinnen und Juden im Berlin der Nazizeit deportiert wurden. Leider wissen wir nur wenig über das Leben der beiden Schwestern vor 1933, als es wahrscheinlich ein glücklicheres war. Mehr wissen wir über den Leidensweg von Henriette Schlesinger in den Tod in Theresienstadt und den ihrer Schwester, die in Minsk verschollen ist.<br />
<br />
Unter den sieben neuen Mietern, die im Jahre 1934 Wohnungen hier im Haus beziehen, sind die 70jährige verwitwete Henriette Schlesinger, geborene Eisenstaedt, und ihre neun Jahre jüngere Schwester Doris Glückstein mit ihrem Mann Moritz Glückstein, einem Kontoristen, der gerade pensioniert worden ist. Auch Moritz Glückstein ist Jude.<br />
<br />
Henriette Schlesinger stammt aus Allenstein in Ostpreußen (heute Olsztyn), ebenso wie ihre Schwester. Sie wird am 24. Februar 1864 geboren, die Schwester am 25. Februar 1873.<br />
<br />
Während Henriette Schlesinger, früh verwitwet, schon seit 1911 hier in der Nähe in der Großbeerenstraße 12, wohnt, lebt das Ehepaar Glückstein im Prenzlauer Berg, im Haus Jablonskistr. 27. Wahrscheinlich beziehen die drei 1934 hier eine gemeinsame Wohnung, die sich offenbar in einer ersten Etage, höchstwahrscheinlich im Vorderhaus, befindet. Moritz Glückstein verstirbt 1937 im Alter von 65 Jahren.<br />
<br />
Zur Nazi-Volkszählung 1939 werden bei den Schwestern nun zwei jüdische Untermieter registriert, Erich Croner, der einen Kaffeehausierhandel betreibt, und Arthur Herzberg. Da jüdische Menschen verstärkt aus ihren Wohnungen verdrängt oder umgekehrt dazu gezwungen wurden andere jüdische Menschen in ihren Wohnungen aufzunehmen, da außerdem Erich Croner laut Adreßbuch durchgängig in der Friedelstraße 47 in Neukölln gewohnt hat, bestand das Untermietverhältnis vielleicht nur pro forma. Vielleicht wohnten auch andere jüdische Menschen zeitweise bei den Schwestern. Erich Croner wurde am 14.11.1941 aus Neukölln nach Minsk in den Tod deportiert und auch Arthur Herzberg ist 1941 umgekommen.<br />
<br />
Wir wissen nicht, welche individuellen Erfahrungen Henriette Schlesinger und Doris Glückstein seit der Machtergreifung bis zu diesem Jahr durchzustehen hatten. Wir wissen nicht, ob sie im Haus von den arischen Mitbewohnern noch gegrüßt wurden beispielsweise. Wie ihre Leidensgenossinnen und Leidensgenossen erhielten sie seit Ausbruch des Krieges noch weniger Nahrungsmittel als die übrigen Deutschen; es war ihnen seit 1940 nicht mehr gestattet einen Telefonanschluß zu haben, seit dem 1. September 1941 mußten sie in der Öffentlichkeit den gelben Judenstern tragen; der Name Sara war ihren Vornamen hinzugefügt worden, sie durften nur noch in jüdischen Geschäften zu bestimmten Tageszeiten einkaufen, sich nicht mehr auf Parkbänke setzen, und was der Stigmatisierungen, Repressalien und Entbehrungen mehr war. <br />
<br />
Im Folgejahr, 1942, war es ihnen verboten die innerstädtischen öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen - zum Beispiel die Linie der Straßenbahn, die damals über die Yorckstraße zur Hornstraße verlief. Irgendwann 1942 haben sie dann die Vermögenslisten erhalten, die zum Zwecke der Umsiedlung in den Osten bzw. in das Altersghetto Theresienstadt peinlich genau auszufüllen waren. Aus dem Vermögen sollte die Reichsfluchtsteuer, also die eigene Deportation, bezahlt werden. Diese Listen sind nicht erhalten, aber die kurzgefaßte Vermögensübersicht zu Henriette Schlesinger aus der Vermögensverwertungsstelle.<br />
<br />
Am 6. Juli 1942 war es soweit. Die beiden Frauen, zu diesem Zeitpunkt 78 und 69 Jahre alt, mußten sich für den so genannten 15. Alterstransport nach Theresienstadt an einer Sammelstelle, höchstwahrscheinlich aber direkt am Anhalter Bahnhof, in den frühen Morgenstunden einfinden.<br />
<br />
Es handelte sich um einen kleinen Transport von in diesem Fall 100 Menschen, wie sie in jenen Tagen und Wochen parallel zu den Großtransporten in geschlossenen Viehwagen mit etwa 1000 Deportierten in immer neuen Schüben stattfanden. Die Fahrt in den von der Reichsbahn eingestellten Personenwagen des kleinen Transportes ging über Dresden und Prag. In den Wagen befanden sich auch mindestens 45 Menschen eines Altersheims in der Iranischen Staße im Wedding.<br />
<br />
Die Überlebende einer späteren Deportation nach Theresienstadt, Hildegard Henschel, schreibt: Mit jedem Transport wurden zuerst 50, dann 100 Menschen evakuiert, sie wurden morgens um 5 Uhr in einen Sonderwagen der Straßenbahn verladen, der sie zum Anhalter Bahnhof brachte. Dort wurden ein bis zwei D-Zug-Waggons an den Karlsbader Bäderzug angehängt, und so wurden diese Menschen unter ganz erträglichen Umständen auf die Reise geschickt. Was sie in Theresienstadt erwartete, wußte in Berlin niemand.<br />
<br />
Schon am Abend desselben Tages, als man ins Lager eingeliefert wurde, muß jede tröstliche Illusion zerbrochen sein. Theresienstadt, in einer ehemaligen böhmischen Festung nördlich von Prag eingerichtet, war vor allem ein Durchgangslager, der Stall vor dem Schlachthof (Ruth Klüger) von Auschwitz, Treblinka und anderen Orten der Vernichtung. Wer nicht weitertransportiert wurde, war erbärmlichen Bedingungen von Hunger, Krankheit, Seuchen ausgesetzt. Henriette Schlesinger hat Theresienstadt nur um wenig mehr als vier Wochen überlebt. Sie starb dort am 8. August 1942. Doris Glückstein ist weitertransportiert worden und wahrscheinlich in Minsk umgekommen.<br />
<br />
Zu Hause in der Wartenburgstraße 16 ist inzwischen das Mobiliar der Mieterin Henriette Schlesinger für 315 Reichsmark an Herrn Lübke, Möbelhändler aus Tempelhof, verkauft worden - Buchungsdatum 19.9.1942. Auf der Ausgabenseite der Vermögensstelle stehen 15 Mark für Stromverbrauch und andere Nebenkosten sowie 170 Mark Miete, welche für die Monate August und September an den Hausbesitzer überwiesen werden. Im Mai 1943 zahlt die Gasag 12 Mark und 68 Pfennig an die Vermögensstelle zurück, vermutlich, weil Henriette Schlesinger diesen Betrag bereits im voraus bezahlt hatte, für einen Zeitraum nach ihrer planmäßigen Ermordung.<br />
<br />
Wir verneigen uns in Ehrerbietung und Trauer vor den beiden Opfern, die ehemals in unserem Haus gelebt haben.

Ansprache zur Stolpersteineinweihung am 8. Dezember 2005 (Janne Moragiannis von der Hausgemeinschaft Wartenburgstr. 16):

Wer waren die Menschen, derer wir heute hier gedenken? Es sind dies zwei ehemalige Hausbewohnerinnen, die, wie 50.000 weitere Jüdinnen und Juden im Berlin der Nazizeit deportiert wurden. Leider wissen wir nur wenig über das Leben der beiden Schwestern vor 1933, als es wahrscheinlich ein glücklicheres war. Mehr wissen wir über den Leidensweg von Henriette Schlesinger in den Tod in Theresienstadt und den ihrer Schwester, die in Minsk verschollen ist.

Unter den sieben neuen Mietern, die im Jahre 1934 Wohnungen hier im Haus beziehen, sind die 70jährige verwitwete Henriette Schlesinger, geborene Eisenstaedt, und ihre neun Jahre jüngere Schwester Doris Glückstein mit ihrem Mann Moritz Glückstein, einem Kontoristen, der gerade pensioniert worden ist. Auch Moritz Glückstein ist Jude.

Henriette Schlesinger stammt aus Allenstein in Ostpreußen (heute Olsztyn), ebenso wie ihre Schwester. Sie wird am 24. Februar 1864 geboren, die Schwester am 25. Februar 1873.

Während Henriette Schlesinger, früh verwitwet, schon seit 1911 hier in der Nähe in der Großbeerenstraße 12, wohnt, lebt das Ehepaar Glückstein im Prenzlauer Berg, im Haus Jablonskistr. 27. Wahrscheinlich beziehen die drei 1934 hier eine gemeinsame Wohnung, die sich offenbar in einer ersten Etage, höchstwahrscheinlich im Vorderhaus, befindet. Moritz Glückstein verstirbt 1937 im Alter von 65 Jahren.

Zur Nazi-Volkszählung 1939 werden bei den Schwestern nun zwei jüdische Untermieter registriert, Erich Croner, der einen Kaffeehausierhandel betreibt, und Arthur Herzberg. Da jüdische Menschen verstärkt aus ihren Wohnungen verdrängt oder umgekehrt dazu gezwungen wurden andere jüdische Menschen in ihren Wohnungen aufzunehmen, da außerdem Erich Croner laut Adreßbuch durchgängig in der Friedelstraße 47 in Neukölln gewohnt hat, bestand das Untermietverhältnis vielleicht nur pro forma. Vielleicht wohnten auch andere jüdische Menschen zeitweise bei den Schwestern. Erich Croner wurde am 14.11.1941 aus Neukölln nach Minsk in den Tod deportiert und auch Arthur Herzberg ist 1941 umgekommen.

Wir wissen nicht, welche individuellen Erfahrungen Henriette Schlesinger und Doris Glückstein seit der Machtergreifung bis zu diesem Jahr durchzustehen hatten. Wir wissen nicht, ob sie im Haus von den arischen Mitbewohnern noch gegrüßt wurden beispielsweise. Wie ihre Leidensgenossinnen und Leidensgenossen erhielten sie seit Ausbruch des Krieges noch weniger Nahrungsmittel als die übrigen Deutschen; es war ihnen seit 1940 nicht mehr gestattet einen Telefonanschluß zu haben, seit dem 1. September 1941 mußten sie in der Öffentlichkeit den gelben Judenstern tragen; der Name Sara war ihren Vornamen hinzugefügt worden, sie durften nur noch in jüdischen Geschäften zu bestimmten Tageszeiten einkaufen, sich nicht mehr auf Parkbänke setzen, und was der Stigmatisierungen, Repressalien und Entbehrungen mehr war.

Im Folgejahr, 1942, war es ihnen verboten die innerstädtischen öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen - zum Beispiel die Linie der Straßenbahn, die damals über die Yorckstraße zur Hornstraße verlief. Irgendwann 1942 haben sie dann die Vermögenslisten erhalten, die zum Zwecke der Umsiedlung in den Osten bzw. in das Altersghetto Theresienstadt peinlich genau auszufüllen waren. Aus dem Vermögen sollte die Reichsfluchtsteuer, also die eigene Deportation, bezahlt werden. Diese Listen sind nicht erhalten, aber die kurzgefaßte Vermögensübersicht zu Henriette Schlesinger aus der Vermögensverwertungsstelle.

Am 6. Juli 1942 war es soweit. Die beiden Frauen, zu diesem Zeitpunkt 78 und 69 Jahre alt, mußten sich für den so genannten 15. Alterstransport nach Theresienstadt an einer Sammelstelle, höchstwahrscheinlich aber direkt am Anhalter Bahnhof, in den frühen Morgenstunden einfinden.

Es handelte sich um einen kleinen Transport von in diesem Fall 100 Menschen, wie sie in jenen Tagen und Wochen parallel zu den Großtransporten in geschlossenen Viehwagen mit etwa 1000 Deportierten in immer neuen Schüben stattfanden. Die Fahrt in den von der Reichsbahn eingestellten Personenwagen des kleinen Transportes ging über Dresden und Prag. In den Wagen befanden sich auch mindestens 45 Menschen eines Altersheims in der Iranischen Staße im Wedding.

Die Überlebende einer späteren Deportation nach Theresienstadt, Hildegard Henschel, schreibt: Mit jedem Transport wurden zuerst 50, dann 100 Menschen evakuiert, sie wurden morgens um 5 Uhr in einen Sonderwagen der Straßenbahn verladen, der sie zum Anhalter Bahnhof brachte. Dort wurden ein bis zwei D-Zug-Waggons an den Karlsbader Bäderzug angehängt, und so wurden diese Menschen unter ganz erträglichen Umständen auf die Reise geschickt. Was sie in Theresienstadt erwartete, wußte in Berlin niemand.

Schon am Abend desselben Tages, als man ins Lager eingeliefert wurde, muß jede tröstliche Illusion zerbrochen sein. Theresienstadt, in einer ehemaligen böhmischen Festung nördlich von Prag eingerichtet, war vor allem ein Durchgangslager, der Stall vor dem Schlachthof (Ruth Klüger) von Auschwitz, Treblinka und anderen Orten der Vernichtung. Wer nicht weitertransportiert wurde, war erbärmlichen Bedingungen von Hunger, Krankheit, Seuchen ausgesetzt. Henriette Schlesinger hat Theresienstadt nur um wenig mehr als vier Wochen überlebt. Sie starb dort am 8. August 1942. Doris Glückstein ist weitertransportiert worden und wahrscheinlich in Minsk umgekommen.

Zu Hause in der Wartenburgstraße 16 ist inzwischen das Mobiliar der Mieterin Henriette Schlesinger für 315 Reichsmark an Herrn Lübke, Möbelhändler aus Tempelhof, verkauft worden - Buchungsdatum 19.9.1942. Auf der Ausgabenseite der Vermögensstelle stehen 15 Mark für Stromverbrauch und andere Nebenkosten sowie 170 Mark Miete, welche für die Monate August und September an den Hausbesitzer überwiesen werden. Im Mai 1943 zahlt die Gasag 12 Mark und 68 Pfennig an die Vermögensstelle zurück, vermutlich, weil Henriette Schlesinger diesen Betrag bereits im voraus bezahlt hatte, für einen Zeitraum nach ihrer planmäßigen Ermordung.

Wir verneigen uns in Ehrerbietung und Trauer vor den beiden Opfern, die ehemals in unserem Haus gelebt haben.