Luise Cohn née Silberstein

Location 
Blücherstr. 61 b
Historical name
Urbanstr. 188
District
Kreuzberg
Born
10 July 1879 in Czempin (Posen) / Czempiń
Deportation
on 29 November 1942 to Auschwitz
Murdered
in Auschwitz

Luise Silberstein wurde am 10. Juli 1879 in Czempin in der damaligen preußischen Provinz Posen (dem heutigen Czempiń in Polen) geboren. Die Ortschaft liegt etwa 30 Kilometer südwestlich der Stadt Posen (Poznań). Luise Silberstein war die Tochter des Kaufmanns Hermann Silberstein (1847–1911) und seiner Frau Marie Silberstein, geborene Machol (1852–1922). Ihre Eltern hatten 1876 in Czempin geheiratet und sich in der Stadt niedergelassen. Luise hatte mindestens vier Geschwister: Ihr älterer Bruder Karl war 1877 geboren worden; ihre jüngeren Geschwister Selma, Julius und Hugo wurden 1881, 1882 und 1884 geboren. Im Jahr 1903 erwarb Hermann Silberstein ein Grundstück an der Adresse Grüner Markt 7 (plac Zielony Rynek) in Czempin, ließ dort zwischen 1904 und 1907 Mietshäuser errichten und richtete sich ein Ladengeschäft für Haushaltswaren ein. Leider haben sich keine weiteren Quellen zum Elternhaus, der Kindheit und Jugend von Luise Silberstein und ihren Geschwistern in Czempin erhalten. Ihre Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde der Stadt, zu der zum Zeitpunkt von Luises Geburt etwa 200 der rund 2100 Einwohner Czempins zählten.

Es ist nicht bekannt, ob und welche Ausbildung Luise Silberstein nach ihrem Schulabschluss erhielt. Ihre Brüder Karl, Julius und Hugo absolvierten kaufmännische Lehren. Anfang der 1910er-Jahren heiratete Luise den aus Murowana Goslin (Murowana Goślina) stammenden Kaufmann Philipp Cohn, der mit Luise einen gemeinsamen Haushalt in Czempin gründete und im Sommer 1913 den Familienbetrieb am Grünen Markt als Kolonialwarengeschäft übernahm. An der Häuserwand des Mietshauses finden sich noch heute die Überreste der damaligen Außenwerbung, die Philipp Cohn anbringen ließ, „Colonialwaren – Cigarren-Cigaretten div. Liköre u. Weine“, und über dem Fenster die verblassten Spuren der Inschrift „Philipp Cohn“. 1913 wurde das erste Kind des Ehepaars geboren: Ihre Tochter Thea Cohn kam in Czempin zur Welt. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 wurde Philipp Cohn eingezogen oder er meldete sich wie Luises Bruder Hugo als Kriegsfreiwilliger. Hugo diente während des Krieges als Kanonier. Sein Bruder Julius, der Soldat beim Infanterie-Regiment 141 war, wurde bei Gefechten seines Regiments im August 1915 bei der französischen Gemeinde Gury getötet.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kehrte Philipp nach Czempin zurück und Luise und er bekamen im Dezember 1919 ihre zweite Tochter, der sie den Namen Hertha gaben. Aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages wurde Czempin 1920 polnisch. Die Cohns verkauften am 31. März 1920 den Besitz am Grünen Markt – die Mietshäuser samt dem Ladengeschäft – und zogen mit Luises Schwester Selma und ihrer verwitweten Mutter Marie nach Leesen (Leźno) bei Danzig an die Adresse Neuer Marktplatz 38 (Nowy Rynek) und von dort nach Berlin, wo im April 1921 ihr drittes Kind Siegbert zur Welt kam. Die Familie nahm sich eine Wohnung in der Lindenstraße 113 in Kreuzberg unweit des Belle-Alliance-Platzes (heute Mehringplatz). Philipp Cohn war in der Hauptstadt als Kaufmann und zwischenzeitlich als Fabrikinspektor tätig und sicherte mit seinem Einkommen den Lebensunterhalt der Familie. Leider haben sich keine weiteren Zeugnisse erhalten, die einen Einblick in das Leben der Cohns im Berlin der Weimarer Republik geben könnten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Luise Cohn und ihre Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden und Anfang der 1930er-Jahre hatte die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zugenommen. Ab 1933 institutionalisierte sich der Rassismus mit Hilfe staatlicher Autorität. Gesetze und Sondererlasse drängten Luise Cohn und ihre Familienangehörigen zunehmend in die Position von Rechtlosen. 1934 zogen die Cohns in eine neue Wohnung in der Urbanstraße 188 an der Kreuzung zur Blücherstraße in Kreuzberg. Luises Tochter Thea arbeitete Mitte der 1930er-Jahre bei einer jüdischen Vereinigung, die Auswanderungen insbesondere Jugendlicher vorbereitete und organisierte. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann Alex Deutsch kennen, den sie im Juni 1938 heiratete. Ob auch Luise Cohn und ihr Ehemann Pläne verfolgten in den 1930er-Jahren das Land zu verlassen, ist nicht bekannt. Sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. Ende der 1930er-Jahre konnte Luises Ehemann nicht mehr als Kaufmann tätig sein. In den Berliner Adressbüchern ist er letztmalig mit der Ausgabe von 1939 mit der Berufsbezeichnung Kaufmann zu finden. Anfang der 1940er-Jahre wurde der 60-Jährige zu Zwangsarbeit als Arbeiter beim Bau herangezogen. Luises Sohn Siegbert hatte noch eine Ausbildung zum Lederarbeiter abschließen können, wurde aber in dieser Zeit ebenfalls zu Zwangsarbeit verpflichtet. In der Wohnung in der Urbanstraße lebte jetzt das Ehepaar Cohn mit ihren beiden alleinstehenden Kindern Hertha und Siegbert sowie der verheirateten Tochter Thea mit ihrem Ehemann Alex Deutsch, der ebenfalls Zwangsarbeit leisten musste, Luises im Oktober 1940 geborenem Enkel Denny sowie ihrer alleinstehenden Schwester Selma Silberstein. Spätestens Anfang der 1940er-Jahre war das Leben für die Familienmitglieder in Berlin zum Existenzkampf geworden. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Im Herbst 1942 erhielten Luise und Philipp Cohn zusammen mit ihren Kindern Hertha und Siegbert Cohn den Deportationsbescheid. Sie mussten ihre Wohnung in der Urbanstraße verlassen und wurden in einer der Berliner Sammelstellen interniert. Von dort wurden sie am 29. November 1942 mit dem „23. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort – vermutlich unmittelbar nach der Ankunft – ermordet. Luise Cohn war zum Zeitpunkt der Deportation 63 Jahre alt.

Thea und Alex Deutsch wurden im Rahmen der „Fabrik-Aktion“, bei der die letzten offiziell in der Hauptstadt verbliebenen Juden deportiert werden sollten, im Februar 1943 von der Gestapo verhaftet. Zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn Denny wurde Thea am 2. März 1943 mit dem „32. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert, ihr Mann einen Tag später. Thea und Denny wurden unmittelbar nach der Ankunft des Transports ermordet. Alex Deutsch wurde als Häftling in das Lager Auschwitz-Monowitz selektiert, wo er schwerste körperliche Zwangsarbeit verrichten musste („Vernichtung durch Arbeit“). Im Januar 1945 verließ er Auschwitz auf dem Todesmarsch nach Gleiwitz (Gliwice). Von dort aus wurde er in das KZ Buchenwald weiterdeportiert und kam anschließend in das Außenlager Langenstein-Zwieberge in der Nähe von Halberstadt, wo er Ende April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit wurde.

Luises Schwester Selma Silberstein wurde am 1. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihr Bruder Karl Silberstein, der in den 1910er- und 1920er-Jahren in Berlin als Bankbeamter gearbeitet hatte und mit seiner Ehefrau Erna Silberstein, geborene Gallewski, und dem gemeinsamen Sohn Heinz (*1920) zuletzt in der Isoldestraße 6 wohnte, wurde mit seiner Frau am 13. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet. Heinz Silberstein war am 2. April 1942 in das Ghetto Warschau deportiert worden und kam entweder dort ums Leben oder wurde in ein Vernichtungslager weiterdeportiert und dort ermordet. Er gehörte jedenfalls nicht zu den wenigen Überlebenden des Warschauer Ghettos. Luises Bruder Hugo Silberstein war in den 1930er-Jahren Kaufmann in Berlin-Dahlem gewesen. Ihm gelang es mit seiner Ehefrau Else Silberstein, geborene Jacheles, und ihrer Tochter Inge (*1917) Mitte der 1930er-Jahre aus Deutschland zu entkommen. Sie lebten später in Spanien.