Edith Reiss

Location 
Marienstraße 25
District
Mitte
Stone was laid
20 October 2014
Born
12 October 1922 in Gießen
Deportation
on 05 September 1942 to Riga
Murdered
08 September 1942 in Riga

Edith Reiss wurde am 12. Oktober 1922 in der mittelhessischen Universitätsstadt Gießen geboren. Sie war die Tochter des Kaufmanns Louis Reiss (*1880) und dessen Ehefrau Nelly Henriette Reiss, geborene Dach (*1901). Die Familie ihrer Mutter stammte aus der kleinen Ortschaft Schweppenhausen am Hunsrück; ihr Vater war als jüngstes von neun Kindern in der Kleinstadt Ulrichstein geboren worden und hatte wie Ediths Großvater Nathan Reiss (1842–1911) eine kaufmännische Laufbahn eingeschlagen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten Nelly und Louis Reiss geheiratet und sich einen gemeinsamen Hausstand in Gießen eingerichtet. Ediths Eltern gehörten aller Wahrscheinlichkeit nach einer der jüdischen Gemeinden der Stadt an, zu der zum Zeitpunkt der Geburt von Edith etwa 1000 der rund 33.000 Einwohner Gießens zählten. Kurz vor Ediths achtem Geburtstag verstarb ihr Vater im 50. Lebensjahr unter nicht näher bekannten Umständen in Gießen. Er wurde im Familiengrab auf dem Neuen Friedhof Gießen bestattet. Die verwitwete Nelly Reiss kümmerte sich fortan alleinerziehend um ihre Tochter. Sie sollte nicht erneut heiraten. Zwischen 1933 und 1935 lebten Nelly und Edith Reiss in einer Wohnung in der Friedrichstraße 10 in der Gießener Innenstadt unweit des Universitätsklinikums der Ludwigs-Universität.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen Edith Reiss und ihre Mutter. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Bildungs- und Berufsleben. Bereits im Jahr 1933 begannen in Gießen die ersten Ausschreitungen und Boykotte gegen Juden. 1935 verließ Nelly Reiss mit ihrer Tochter die Stadt und zog nach Berlin, wo sie sich eine Wohnung in der Havelstraße 7 in Charlottenburg (heutige Arcostraße) nahe des Charlottenburger Ufers nahm. Möglicherweise versprach sie sich von der Anonymität der Großstadt einen besseren Schutz für sich und ihre Tochter und hoffte den antisemitischen Verfolgungen in Berlin besser entgehen zu können. Im September 1936 zogen Edith und Nelly Reiss zur Untermiete in eine Wohnung in der zweiten Etage der Luisenstraße 65 in Mitte nahe dem Robert-Koch-Platz. Hauptmieter dieser Wohnung war der 1903 in Schweppenhausen geborene Jurist Felix Dach, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Verwandten, vermutlich um den Bruder, von Nelly gehandelt hat. Felix Dach gelang mit seiner Ehefrau 1937 die Ausreise über Rotterdam in die USA, wo sie im Exil überlebten.

Die dreizehnjährige Edith, die seit Dezember 1935 eine Berliner Schule besucht hatte, musste im Oktober 1936 krankheitsbedingt von der Schule genommen werden. Ihre Schulkarte verzeichnet ihren Abgang mit dem 2. Oktober 1936 und als Grund: Krankheit – ohne dass nähere Umstände vermerkt worden wären. Die antijüdische NS-Bildungspolitik sah mit einem Erlass von 1935 eine „möglichst vollständige Rassentrennung“ durch die „Einrichtung gesonderter jüdischer Schulen“ vor und nach den Pogromen im November 1938 wurde jüdischen Schülern der Besuch von öffentlichen Schulen grundsätzlich verboten. Aus den vorliegenden Quellen geht nicht hervor, ob Edith Reiss noch eine Schule der jüdischen Gemeinde in Berlin besuchen konnte. Zwischen 1937 und 1939 zogen Nelly und Edith Reiss in eine Wohnung in der Marienstraße 7 und später in die Marienstraße 25 in Mitte. Spätestens Ende der 1930er-Jahre / Anfang der 1940er-Jahre wurde das Leben für die beiden Frauen in Berlin zum Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Ediths Mutter wurde außerdem zu Zwangsarbeit herangezogen: Sie war zuletzt als Arbeiterin im Navigationsbetrieb Tempelhof in der Bessemerstraße 76 tätig. Edith Reiss selbst war zuletzt ehrenamtliche Helferin in einem Kindertagesheim der Jüdischen Gemeinde in der Auguststraße 17. Im Frühjahr 1942 mussten Edith und ihre Mutter ihre Wohnung in der Marienstraße verlassen. Sie kamen als Untermieter bei Sigfried Bernstein in einer Wohnung in der Linienstraße 87 in Mitte unter, wo sie gemeinsam ein Zimmer bewohnten.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Edith und Nelly Reiss erhielten den Deportationsbescheid im Sommer 1942 und wurden im August 1942 in einem der Berliner Sammellager interniert. Am 31. August 1942 wurden die 19-jährige Edith und ihre 40-jährige Mutter Nelly mit dem „19. Osttransport“ über den Güterbahnhof Moabit nach Riga deportiert und dort – vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft im Bahnhof Riga-Šķirotava – in den umliegenden Wäldern des Ghettos bei Rumbula erschossen.