Alice Carlé

Location 
Beuthstraße 10
District
Mitte
Stone was laid
22 March 2017
Born
07 June 1902 in Berlin
Occupation
Büroangestellte
Deportation
on 10 September 1943 to Auschwitz
Murdered
1943 in Auschwitz

Alice Carlé wurde am 7. Juni 1902 als jüngste Tochter des jüdischen Kaufmanns Nathan Moritz Grünstein genannt Carlé (1871–1942) und dessen Frau Margarete (geb. Salomon, 1876–1943) in Berlin geboren. Die Familie wohnte um diese Zeit in der Weberstraße 19 in Berlin-Friedrichshain. Sie zog in den Folgejahren jedoch oft um. Alice Carlé hatte einen älteren Bruder, Hans Carlé (1899–1950), und eine ältere Schwester, Charlotte Carlé (1901–1943). Sie trug wie ihre Eltern und ihre Geschwister zunächst den Familiennamen Grünstein, führte laut Ermächtigung des Preußischen Justizministeriums vom 29. März 1932 an Stelle des alten Familiennamens aber den Namen Carlé. Alice Carlé blieb bis an ihr Lebensende unverheiratet.<br />
Nach dem Schulbesuch absolvierte Alice Carlé eine Ausbildung zur Büroangestellten. Es ist bis heute aber nicht bekannt, wo sie arbeitete und ob sie je einen eigenen Hausstand gründete. Die Eltern Nathan Moritz und Margarete Carlé wohnten ab 1919 in einer großen, gut eingerichteten Wohnung in der Rankestraße 25 in Berlin-Wilmersdorf. Offenbar liefen die Geschäfte für den Vater, der in der Textilbranche tätig war und mit Tuchabfällen handelte, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gut, sodass die Familie sich den Umzug aus Friedrichshain in den „Neuen Westen“ unweit des Tauentzien und der Gedächtniskirche leisten konnte. (Im Lauf der 1930er-Jahre litten die Eltern dann aber unter zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten, sodass der Umzug in eine kleine Wohnung in der Nähe des Spittelmarktes nötig wurde.)<br />
Ab 1938 waren Nathan Moritz und Margarete Carlé in der Beuthstraße 10 gemeldet, wo sie sich nunmehr mit ihren zwei Töchtern Alice und Charlotte eine 2-Zimmer-Wohnung teilten, die spärlich eingerichtet war. Laut einer Erklärung, die der Vater als Familienvorstand im Sommer 1942 ausfüllen musste, verfügten die Carlés über kein Vermögen, hatte aber auch keine Schulden. Die Eltern bezogen keine Rente und waren nicht sozialversichert, und offenbar mussten die beiden Töchter Alice und Charlotte sie miternähren. Die Inventarliste der Wohnung, die am 14. September 1942 angelegt wurde, führte einige wenige Möbel im Wert von 484 RM auf, darunter ein Buffet, einen Ausziehtisch, vier Stühle, eine Standuhr, einen Teppich, ein Ölbild, einen Armleuchter und einen großen Spiegel.<br />
1938 lernte Alice Carlé Eva Siewert (1907–1994), eine frühere Chefsprecherin von Radio Luxemburg, kennen und lieben. Siewert, die in der Diktion der Nazis als „Halbjüdin“ galt und lesbisch war, hatte um 1930 in Teheran gearbeitet und war ab 1932 für Radio Luxemburg tätig gewesen, entschied sich 1938 aus Angst vor der drohenden Kriegsgefahr aber, Europa den Rücken zuzuwenden und in den Iran zurückzukehren. Um sich ein entsprechendes Visum ausstellen zu lassen, musste sie jedoch nach Berlin kommen, und als ihr das Visum wegen ihrer Auslandstätigkeit und vermeintlicher „Propaganda“ gegen den Nationalsozialismus verwehrt wurde, saß sie in Deutschland fest. Sie erhielt Berufsverbot in Rundfunk und Presse und musste sich deshalb mit wechselnden, weniger gut dotierten Stellungen als Schreibkraft und Übersetzerin begnügen. Vermutlich lernte sie Alice Carlé bei einer dieser Tätigkeiten kennen. Eva Siewert wohnte ab 1938 in der Keithstraße 6 in Berlin-Tiergarten, und Alice Carlé übernachtete in den folgenden Jahren häufig in ihrer Wohnung, unter anderem auch weil sie sich hier sicher fühlte. <br />
Als Eva Siewert um 1942 von zwei Arbeitskolleginnen denunziert wurde, sie betreibe „Wehrkraftzersetzung“, indem sie antifaschistische Witze erzählte, wurde sie nach Paragraph 2 des „Heimtückegesetzes“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Sie trat die Gefängnisstrafe am 1. März 1943, wenige Tage nach der sogenannten Fabrikaktion, einer Großrazzia gegen die noch in Berlin verbliebenen Juden, an, und die Inhaftierung hatte nicht nur für sie selbst fatale Folgen. Nach dem Verbüßen ihrer Haftzeit war Eva Siewert ein gesundheitlich gebrochener Mensch. Schlimmer aber erging es Alice Carlé, die nach der Inhaftierung ihrer Freundin einer zentralen Schutzmöglichkeit beraubt war. Zusammen mit ihrer Schwester Charlotte versuchte Alice Carlé, die zu jener Zeit zur Zwangsarbeit abkommandiert gewesen sein dürfte und ein wöchentliches Einkommen von 24 RM hatte, unterzutauchen. Ihre Eltern Nathan Moritz und Margarete Carlé waren bereits am 12. August 1942 nach Theresienstadt deportiert worden.<br />
Anfang März 1943 erhielten Alice und Charlotte Carlé vorübergehend Unterkunft und Verpflegung bei der ledigen Handelslehrerin Elsbeth Raatz (geb. 8.5.1906) in der Windscheidstraße 33 in Berlin-Charlottenburg. Elsbeth Raatz, die eine flüchtige Bekannte von Alice Carlé war, wurde 1963 für ihren Einsatz für von der Deportation bedrohte Juden vom West-Berliner Senat als „Unbesungene Heldin“ geehrt. Die drohende Denunziation durch einen Mitbewohner des Hauses verhinderte aber den weiteren Aufenthalt der beiden Schwestern bei ihr. Elsbeth Raatz schenkte ihnen jedoch abschließend ihren Reisepass.<br />
Alice und Charlotte Carlé mieteten noch Anfang März 1943 bei der Familie des Sattlers Hans Buge unter der Adresse Alt-Kladow 9/11 ein Zimmer an, hielten sich hier aber zunächst nur am Wochenende auf. Später wohnten sie ganz in Kladow und gaben vor, Ferien zu haben. Dass sie Jüdinnen waren, teilten sie ihren Vermietern nicht mit. Charlotte Carlé gab sich mit Hilfe ihres neuen Reisepasses als Elsbeth Raatz aus. Das Passbild hatte der Jurist und Widerstandskämpfer Dr. Franz Kaufmann (1886–1944) für sie ausgewechselt. Lebensmittelkarten erhielten die beiden Schwestern von einem anderen Bekannten, dem Kontoristen Ernst Hallermann (1911–1994). Für Alice Carlé sollte in der Folge ebenfalls ein neuer Pass angefertigt werden, doch dazu kam es nicht mehr. Am 27. August 1943 wurden die beiden Frauen von der Gestapo aufgegriffen und verhaftet. Ihre Kladower Adresse hatte sich in den Papieren von Franz Kaufmann befunden, als der illegale Helferkreis um ihn nach einer Denunziation aufflog.<br />
Alice und Charlotte Carlé wurden am 10. September 1943 mit dem „42. Transport“ nach Auschwitz deportiert. Der Transport, der das Konzentrationslager Auschwitz einen Tag später erreichte, umfasste nur 54 Personen. Am 11. September 1943 wurden aus dieser Gruppe lediglich neun Frauen als Neuzugänge zum Konzentrationslager registriert, die anderen wurden sofort nach ihrer Ankunft vergast. Da heute nur ein Name der neun registrierten Frauen bekannt ist, ist unklar, ob Alice und Charlotte Carlé zu der Gruppe gehörten, die sofort ermordet wurde, oder den brutalen Lageralltag noch für eine gewisse Zeit erleben mussten. Dass ihre Eltern Nathan Moritz und Margarete Carlé bereits am 11. Oktober 1942 bzw. 9. Februar 1943 im Ghetto Theresienstadt ums Leben gekommen waren, haben sie vermutlich nie erfahren. Als einziger naher Familienangehöriger Alice Carlés überlebte ihr Bruder Hans die Shoah. Der einstige Schauspieler starb am 15. November 1950 verarmt in Tel Aviv. Er hatte Deutschland im Herbst 1933 verlassen.<br />
Eva Siewert, die nach 1945 als Journalistin in Berlin tätig war, hat ihrer Freundin in der unmittelbaren Nachkriegszeit in mindestens zwei Erzählungen ein berührendes Denkmal gesetzt, und sie hat mehrfach versucht, Näheres über Alice Carlés Schicksal in Erfahrung zu bringen. Belegt ist ein Antrag, den Siewert 1957 gegenüber dem Haupttreuhänder für Rückerstattungsvermögen stellte. Er brachte ihr in der Antwort aber nur die Bestätigung, die beiden Schwestern Carlé seien im September 1943 nach „Ziel unbekannt“ deportiert worden. Lapidar heißt es hier: „Der weitere Verbleib der Genannten ist leider nicht festzustellen.“

Alice Carlé wurde am 7. Juni 1902 als jüngste Tochter des jüdischen Kaufmanns Nathan Moritz Grünstein genannt Carlé (1871–1942) und dessen Frau Margarete (geb. Salomon, 1876–1943) in Berlin geboren. Die Familie wohnte um diese Zeit in der Weberstraße 19 in Berlin-Friedrichshain. Sie zog in den Folgejahren jedoch oft um. Alice Carlé hatte einen älteren Bruder, Hans Carlé (1899–1950), und eine ältere Schwester, Charlotte Carlé (1901–1943). Sie trug wie ihre Eltern und ihre Geschwister zunächst den Familiennamen Grünstein, führte laut Ermächtigung des Preußischen Justizministeriums vom 29. März 1932 an Stelle des alten Familiennamens aber den Namen Carlé. Alice Carlé blieb bis an ihr Lebensende unverheiratet.
Nach dem Schulbesuch absolvierte Alice Carlé eine Ausbildung zur Büroangestellten. Es ist bis heute aber nicht bekannt, wo sie arbeitete und ob sie je einen eigenen Hausstand gründete. Die Eltern Nathan Moritz und Margarete Carlé wohnten ab 1919 in einer großen, gut eingerichteten Wohnung in der Rankestraße 25 in Berlin-Wilmersdorf. Offenbar liefen die Geschäfte für den Vater, der in der Textilbranche tätig war und mit Tuchabfällen handelte, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gut, sodass die Familie sich den Umzug aus Friedrichshain in den „Neuen Westen“ unweit des Tauentzien und der Gedächtniskirche leisten konnte. (Im Lauf der 1930er-Jahre litten die Eltern dann aber unter zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten, sodass der Umzug in eine kleine Wohnung in der Nähe des Spittelmarktes nötig wurde.)
Ab 1938 waren Nathan Moritz und Margarete Carlé in der Beuthstraße 10 gemeldet, wo sie sich nunmehr mit ihren zwei Töchtern Alice und Charlotte eine 2-Zimmer-Wohnung teilten, die spärlich eingerichtet war. Laut einer Erklärung, die der Vater als Familienvorstand im Sommer 1942 ausfüllen musste, verfügten die Carlés über kein Vermögen, hatte aber auch keine Schulden. Die Eltern bezogen keine Rente und waren nicht sozialversichert, und offenbar mussten die beiden Töchter Alice und Charlotte sie miternähren. Die Inventarliste der Wohnung, die am 14. September 1942 angelegt wurde, führte einige wenige Möbel im Wert von 484 RM auf, darunter ein Buffet, einen Ausziehtisch, vier Stühle, eine Standuhr, einen Teppich, ein Ölbild, einen Armleuchter und einen großen Spiegel.
1938 lernte Alice Carlé Eva Siewert (1907–1994), eine frühere Chefsprecherin von Radio Luxemburg, kennen und lieben. Siewert, die in der Diktion der Nazis als „Halbjüdin“ galt und lesbisch war, hatte um 1930 in Teheran gearbeitet und war ab 1932 für Radio Luxemburg tätig gewesen, entschied sich 1938 aus Angst vor der drohenden Kriegsgefahr aber, Europa den Rücken zuzuwenden und in den Iran zurückzukehren. Um sich ein entsprechendes Visum ausstellen zu lassen, musste sie jedoch nach Berlin kommen, und als ihr das Visum wegen ihrer Auslandstätigkeit und vermeintlicher „Propaganda“ gegen den Nationalsozialismus verwehrt wurde, saß sie in Deutschland fest. Sie erhielt Berufsverbot in Rundfunk und Presse und musste sich deshalb mit wechselnden, weniger gut dotierten Stellungen als Schreibkraft und Übersetzerin begnügen. Vermutlich lernte sie Alice Carlé bei einer dieser Tätigkeiten kennen. Eva Siewert wohnte ab 1938 in der Keithstraße 6 in Berlin-Tiergarten, und Alice Carlé übernachtete in den folgenden Jahren häufig in ihrer Wohnung, unter anderem auch weil sie sich hier sicher fühlte.
Als Eva Siewert um 1942 von zwei Arbeitskolleginnen denunziert wurde, sie betreibe „Wehrkraftzersetzung“, indem sie antifaschistische Witze erzählte, wurde sie nach Paragraph 2 des „Heimtückegesetzes“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Sie trat die Gefängnisstrafe am 1. März 1943, wenige Tage nach der sogenannten Fabrikaktion, einer Großrazzia gegen die noch in Berlin verbliebenen Juden, an, und die Inhaftierung hatte nicht nur für sie selbst fatale Folgen. Nach dem Verbüßen ihrer Haftzeit war Eva Siewert ein gesundheitlich gebrochener Mensch. Schlimmer aber erging es Alice Carlé, die nach der Inhaftierung ihrer Freundin einer zentralen Schutzmöglichkeit beraubt war. Zusammen mit ihrer Schwester Charlotte versuchte Alice Carlé, die zu jener Zeit zur Zwangsarbeit abkommandiert gewesen sein dürfte und ein wöchentliches Einkommen von 24 RM hatte, unterzutauchen. Ihre Eltern Nathan Moritz und Margarete Carlé waren bereits am 12. August 1942 nach Theresienstadt deportiert worden.
Anfang März 1943 erhielten Alice und Charlotte Carlé vorübergehend Unterkunft und Verpflegung bei der ledigen Handelslehrerin Elsbeth Raatz (geb. 8.5.1906) in der Windscheidstraße 33 in Berlin-Charlottenburg. Elsbeth Raatz, die eine flüchtige Bekannte von Alice Carlé war, wurde 1963 für ihren Einsatz für von der Deportation bedrohte Juden vom West-Berliner Senat als „Unbesungene Heldin“ geehrt. Die drohende Denunziation durch einen Mitbewohner des Hauses verhinderte aber den weiteren Aufenthalt der beiden Schwestern bei ihr. Elsbeth Raatz schenkte ihnen jedoch abschließend ihren Reisepass.
Alice und Charlotte Carlé mieteten noch Anfang März 1943 bei der Familie des Sattlers Hans Buge unter der Adresse Alt-Kladow 9/11 ein Zimmer an, hielten sich hier aber zunächst nur am Wochenende auf. Später wohnten sie ganz in Kladow und gaben vor, Ferien zu haben. Dass sie Jüdinnen waren, teilten sie ihren Vermietern nicht mit. Charlotte Carlé gab sich mit Hilfe ihres neuen Reisepasses als Elsbeth Raatz aus. Das Passbild hatte der Jurist und Widerstandskämpfer Dr. Franz Kaufmann (1886–1944) für sie ausgewechselt. Lebensmittelkarten erhielten die beiden Schwestern von einem anderen Bekannten, dem Kontoristen Ernst Hallermann (1911–1994). Für Alice Carlé sollte in der Folge ebenfalls ein neuer Pass angefertigt werden, doch dazu kam es nicht mehr. Am 27. August 1943 wurden die beiden Frauen von der Gestapo aufgegriffen und verhaftet. Ihre Kladower Adresse hatte sich in den Papieren von Franz Kaufmann befunden, als der illegale Helferkreis um ihn nach einer Denunziation aufflog.
Alice und Charlotte Carlé wurden am 10. September 1943 mit dem „42. Transport“ nach Auschwitz deportiert. Der Transport, der das Konzentrationslager Auschwitz einen Tag später erreichte, umfasste nur 54 Personen. Am 11. September 1943 wurden aus dieser Gruppe lediglich neun Frauen als Neuzugänge zum Konzentrationslager registriert, die anderen wurden sofort nach ihrer Ankunft vergast. Da heute nur ein Name der neun registrierten Frauen bekannt ist, ist unklar, ob Alice und Charlotte Carlé zu der Gruppe gehörten, die sofort ermordet wurde, oder den brutalen Lageralltag noch für eine gewisse Zeit erleben mussten. Dass ihre Eltern Nathan Moritz und Margarete Carlé bereits am 11. Oktober 1942 bzw. 9. Februar 1943 im Ghetto Theresienstadt ums Leben gekommen waren, haben sie vermutlich nie erfahren. Als einziger naher Familienangehöriger Alice Carlés überlebte ihr Bruder Hans die Shoah. Der einstige Schauspieler starb am 15. November 1950 verarmt in Tel Aviv. Er hatte Deutschland im Herbst 1933 verlassen.
Eva Siewert, die nach 1945 als Journalistin in Berlin tätig war, hat ihrer Freundin in der unmittelbaren Nachkriegszeit in mindestens zwei Erzählungen ein berührendes Denkmal gesetzt, und sie hat mehrfach versucht, Näheres über Alice Carlés Schicksal in Erfahrung zu bringen. Belegt ist ein Antrag, den Siewert 1957 gegenüber dem Haupttreuhänder für Rückerstattungsvermögen stellte. Er brachte ihr in der Antwort aber nur die Bestätigung, die beiden Schwestern Carlé seien im September 1943 nach „Ziel unbekannt“ deportiert worden. Lapidar heißt es hier: „Der weitere Verbleib der Genannten ist leider nicht festzustellen.“