Martha Ella Boschwitz née Wolgast

Location 
Hohenzollerndamm 81
District
Schmargendorf
Stone was laid
13 July 2019
Born
22 November 1886 in Langenfelde
Escape
1935 Schweden, Luxemburg, Belgien, England
Verhaftet
1939 in Isle of Man
Survived

Die Stolpersteine für Martha Boschwitz, geb. Wolgast, und ihre Kinder Clarissa und Ulrich Alexander wurden vom Künstler Gunter Demnig am 13. Juli 2019 in Anwesenheit der Enkelin Reuella Shachaf und ihres Bruders Doron Salzberg, vieler Nachkommen und des Bezirksbürgermeisters Reinhard Naumann verlegt. Sie wurden von Peter Hess (Hamburg), dem Verleger Peter Graf und dem Verlag Klett-Cotta gespendet.<br />
Martha Ella Wolgast kam am 22. November 1886 in Langenfelde in der damaligen preußischen Provinz Pommern (heute Mecklenburg-Vorpommern) als Tochter von Dr. Gustav Wolgast und seiner Frau Clarissa, geb. Pitt, zur Welt. Deren Vater war der Lübecker Senator Heinrich Gustav Pitt. Martha wuchs in einer wohlhabenden protestantischen Familie auf, in der Kunst und Musik zum täglichen Leben gehörten. Sie studierte Malerei und Kunstgeschichte in Berlin und München. <br />
Am 12. Januar 1911 heiratete Martha Wolgast in Berlin den jüdischen Kaufmann Sally Boschwitz, der am 15. August 1882 in Filehne im damaligen Pommern (heute Wieleń in der Woiwodschaft Großpolen) als Sohn von Phillip Boschwitz und dessen Frau Bertha, geb. Weil, zur Welt gekommen war. Er konvertierte früh zum protestantischen Glauben. Das junge Ehepaar zog in das hochherrschaftliche Haus am Hohenzollerndamm 81, das Sallys Bruder Eli Boschwitz gehörte. Am 25. September 1911 wurde die Tochter Clarissa geboren, ein zauberhaftes, blondgelocktes, aufgewecktes kleines Mädchen. Am 19. April 1915 kam Ulrich Alexander zur Welt.<br />
Martha Boschwitz führte ein „großes Haus“ mit einigem Hauspersonal. Sie war eine strenge, aber auch sehr sozial eingestellte Person. Bekannte erzählten – und so wurde es in der Familie weitergegeben –, dass die Hausmädchen, die die Tür öffneten, wenn Besuch kam, meistens schwanger waren. Sie wurden im Hause Boschwitz aufgenommen, damit sie nicht „auf der Straße unter die Räder kämen“. <br />
Marthas Ehemann Sally wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Soldat eingezogen. Er starb am 7. Mai 1915 an einem Hirntumor. Sein Sohn Ulrich Alexander war damals noch nicht einmal einen Monat alt.<br />
Die junge Witwe führte nicht nur ihre kleine Familie durch die harten Kriegs- und Nachkriegszeiten, sondern auch die Unternehmung ihres Mannes weiter, obwohl sie keinerlei Ausbildung dafür hatte. Ihr Schwager Eli Boschwitz unterstützte sie dabei. Als „Unternehmerin“ handelte sie ebenfalls einerseits streng, andererseits sozial verantwortlich, denn sie gab den Lohn der Männer an deren Frauen oder Mütter, damit er nicht in die Kneipe getragen würde.<br />
Mit Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde das Leben von Martha Boschwitz und ihren Kindern zunehmend schwieriger. Nach jüdischen Regeln waren Clarissa und Ulrich nicht jüdisch, da nicht die Mutter, sondern der Vater jüdisch geboren war. Martha erzog ihre Kinder im protestantischen Glauben und sagte ihnen nicht, dass ihr Vater jüdischer Herkunft war. Aber ein Hausmädchen aus Filehne, das die Familie Boschwitz von früher kannte, verriet den Kindern das „Geheimnis“ – ohne dass Martha davon wusste. Die Nazis in ihrem Rassenwahn stuften die Kinder als „halbjüdisch“ bzw. „Mischlinge ersten Grades“ ein (zwei jüdische Großeltern väterlicherseits). <br />
Dramatisch wurde es, als Clarissa Anfang 1933 öffentlich als „typisch arische“ junge Frau präsentiert wurde und danach erklärte, dass sie jüdischer Abstammung sei. Damit stand sie im Fokus der Gestapo und ging in den Untergrund, um die Familie nicht zu gefährden. Kurz darauf – mit gerade 22 Jahren – flüchtete sie nach Palästina.<br />
Nun war Martha Boschwitz mit ihrem Sohn Ulrich allein in Berlin. Als Ulrich 1935 in die Wehrmacht eingezogen werden sollte, war dies für sie das letzte Signal, Deutschland zu verlassen. Dazu beigetragen hat sicher auch, dass Marthas Bruder, Rechtsanwalt Dr. Alexander Wolgast, auf offener Straße ermordet wurde, weil er die „Nürnberger Gesetze“, durch die jüdische Menschen aus der Gesellschaft und dem „deutschen Volk“ ausgeschlossen wurden, als unwirksam bezeichnet hatte.<br />
Martha und Ulrich Alexander flüchteten 1935 nach Norwegen, dann nach Schweden. Dort veröffentliche Ulrich, der schon früh sein schriftstellerisches Talent entwickelt hatte, 1937 seinen ersten Roman „Menschen neben dem Leben“ in schwedischer Übersetzung unter dem Titel „Människor utanför“. (Dieser Roman erschien im September 2019 zum ersten Mal in deutscher Originalfassung). Die Flucht ging weiter nach Luxemburg, nach Frankreich und schließlich nach England, wo ein Zweig von Marthas Familie lebte.<br />
Um den Lebensunterhalt während dieser Odyssee bestreiten zu können, verkaufte Martha ihre Gemälde, die heute möglicherweise noch in mancher privaten Sammlung existieren. Eine Ausstellungskritik – vermutlich aus der Zeit in London – bestätigt ihr besonderes Talent, die expressive Farbgebung ihrer Werke und die Originalität ihres Schaffens, das keiner „Schule“ folgte, sondern allein ihrer eigenen Inspiration (siehe Anlage). <br />
Ulrich Boschwitz wurde aus Luxemburg ausgewiesen, floh weiter nach Belgien und von dort zu seiner Mutter nach England. 1939 wurde sein zweiter Roman „Der Reisende“ veröffentlicht, den er unter dem Eindruck der Pogromnacht 1938 in wenigen Wochen geschrieben hatte. Unter dem Pseudonym John Grane erschien dieses Werk mit dem Titel „The Man who took the Trains“. <br />
Mutter und Sohn glaubten, in England in einem sicheren Hafen angekommen zu sein. Aber bald nach dem Kriegseintritt Großbritanniens wurden alle Deutschen und Österreicher – mehrheitlich jüdische Flüchtlinge und Nazi-Gegner – als „alien enemies“ eingestuft, denen man Spionage für das „Dritte Reich“ unterstellte. Sie wurden in Lagern interniert, Martha und Ulrich Boschwitz auf der Isle of Man. Ulrich wurde 1940 nach Australien deportiert und im Lager Hay (New South Wales) interniert, durfte aber 1942 nach Großbritannien zurückkehren. Er kam auf der Rückreise zu seiner Mutter nach London auf dem MS Abosso, das von einem deutschen U-Boot torpediert wurde, im Alter von 27 Jahren ums Leben.<br />
Martha Boschwitz lebte nach ihrer Entlassung von der Isle of Man bei Kriegsende allein in London – infolge des tragischen Schicksals ihres Sohnes mit gebrochenem Herzen und immer kränklich. Sie nahm nicht am Leben ihrer Tochter Clarissa und ihrer Enkelkinder teil, sondern vergrub sich ganz in ihrer Trauer um Ulrich Alexander. Sie malte ein Portrait von ihm und schickte es ihrer Tochter Clarissa nach Israel. Dort hängt es noch heute im Wohnzimmer von Marthas Enkeltochter Reuella und erinnert die Nachkommen an einen Onkel und Großonkel, dem sie persönlich zwar nie begegnen konnten, der aber dennoch ein sehr wichtiges und sehr präsentes Mitglied der Familie ist. Nicht nur die Familie fragt sich, welch bedeutender deutscher Schriftsteller er hätte werden können.<br />
Martha Boschwitz starb am 18. Juli 1959 in London.<br />

Die Stolpersteine für Martha Boschwitz, geb. Wolgast, und ihre Kinder Clarissa und Ulrich Alexander wurden vom Künstler Gunter Demnig am 13. Juli 2019 in Anwesenheit der Enkelin Reuella Shachaf und ihres Bruders Doron Salzberg, vieler Nachkommen und des Bezirksbürgermeisters Reinhard Naumann verlegt. Sie wurden von Peter Hess (Hamburg), dem Verleger Peter Graf und dem Verlag Klett-Cotta gespendet.
Martha Ella Wolgast kam am 22. November 1886 in Langenfelde in der damaligen preußischen Provinz Pommern (heute Mecklenburg-Vorpommern) als Tochter von Dr. Gustav Wolgast und seiner Frau Clarissa, geb. Pitt, zur Welt. Deren Vater war der Lübecker Senator Heinrich Gustav Pitt. Martha wuchs in einer wohlhabenden protestantischen Familie auf, in der Kunst und Musik zum täglichen Leben gehörten. Sie studierte Malerei und Kunstgeschichte in Berlin und München.
Am 12. Januar 1911 heiratete Martha Wolgast in Berlin den jüdischen Kaufmann Sally Boschwitz, der am 15. August 1882 in Filehne im damaligen Pommern (heute Wieleń in der Woiwodschaft Großpolen) als Sohn von Phillip Boschwitz und dessen Frau Bertha, geb. Weil, zur Welt gekommen war. Er konvertierte früh zum protestantischen Glauben. Das junge Ehepaar zog in das hochherrschaftliche Haus am Hohenzollerndamm 81, das Sallys Bruder Eli Boschwitz gehörte. Am 25. September 1911 wurde die Tochter Clarissa geboren, ein zauberhaftes, blondgelocktes, aufgewecktes kleines Mädchen. Am 19. April 1915 kam Ulrich Alexander zur Welt.
Martha Boschwitz führte ein „großes Haus“ mit einigem Hauspersonal. Sie war eine strenge, aber auch sehr sozial eingestellte Person. Bekannte erzählten – und so wurde es in der Familie weitergegeben –, dass die Hausmädchen, die die Tür öffneten, wenn Besuch kam, meistens schwanger waren. Sie wurden im Hause Boschwitz aufgenommen, damit sie nicht „auf der Straße unter die Räder kämen“.
Marthas Ehemann Sally wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Soldat eingezogen. Er starb am 7. Mai 1915 an einem Hirntumor. Sein Sohn Ulrich Alexander war damals noch nicht einmal einen Monat alt.
Die junge Witwe führte nicht nur ihre kleine Familie durch die harten Kriegs- und Nachkriegszeiten, sondern auch die Unternehmung ihres Mannes weiter, obwohl sie keinerlei Ausbildung dafür hatte. Ihr Schwager Eli Boschwitz unterstützte sie dabei. Als „Unternehmerin“ handelte sie ebenfalls einerseits streng, andererseits sozial verantwortlich, denn sie gab den Lohn der Männer an deren Frauen oder Mütter, damit er nicht in die Kneipe getragen würde.
Mit Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde das Leben von Martha Boschwitz und ihren Kindern zunehmend schwieriger. Nach jüdischen Regeln waren Clarissa und Ulrich nicht jüdisch, da nicht die Mutter, sondern der Vater jüdisch geboren war. Martha erzog ihre Kinder im protestantischen Glauben und sagte ihnen nicht, dass ihr Vater jüdischer Herkunft war. Aber ein Hausmädchen aus Filehne, das die Familie Boschwitz von früher kannte, verriet den Kindern das „Geheimnis“ – ohne dass Martha davon wusste. Die Nazis in ihrem Rassenwahn stuften die Kinder als „halbjüdisch“ bzw. „Mischlinge ersten Grades“ ein (zwei jüdische Großeltern väterlicherseits).
Dramatisch wurde es, als Clarissa Anfang 1933 öffentlich als „typisch arische“ junge Frau präsentiert wurde und danach erklärte, dass sie jüdischer Abstammung sei. Damit stand sie im Fokus der Gestapo und ging in den Untergrund, um die Familie nicht zu gefährden. Kurz darauf – mit gerade 22 Jahren – flüchtete sie nach Palästina.
Nun war Martha Boschwitz mit ihrem Sohn Ulrich allein in Berlin. Als Ulrich 1935 in die Wehrmacht eingezogen werden sollte, war dies für sie das letzte Signal, Deutschland zu verlassen. Dazu beigetragen hat sicher auch, dass Marthas Bruder, Rechtsanwalt Dr. Alexander Wolgast, auf offener Straße ermordet wurde, weil er die „Nürnberger Gesetze“, durch die jüdische Menschen aus der Gesellschaft und dem „deutschen Volk“ ausgeschlossen wurden, als unwirksam bezeichnet hatte.
Martha und Ulrich Alexander flüchteten 1935 nach Norwegen, dann nach Schweden. Dort veröffentliche Ulrich, der schon früh sein schriftstellerisches Talent entwickelt hatte, 1937 seinen ersten Roman „Menschen neben dem Leben“ in schwedischer Übersetzung unter dem Titel „Människor utanför“. (Dieser Roman erschien im September 2019 zum ersten Mal in deutscher Originalfassung). Die Flucht ging weiter nach Luxemburg, nach Frankreich und schließlich nach England, wo ein Zweig von Marthas Familie lebte.
Um den Lebensunterhalt während dieser Odyssee bestreiten zu können, verkaufte Martha ihre Gemälde, die heute möglicherweise noch in mancher privaten Sammlung existieren. Eine Ausstellungskritik – vermutlich aus der Zeit in London – bestätigt ihr besonderes Talent, die expressive Farbgebung ihrer Werke und die Originalität ihres Schaffens, das keiner „Schule“ folgte, sondern allein ihrer eigenen Inspiration (siehe Anlage).
Ulrich Boschwitz wurde aus Luxemburg ausgewiesen, floh weiter nach Belgien und von dort zu seiner Mutter nach England. 1939 wurde sein zweiter Roman „Der Reisende“ veröffentlicht, den er unter dem Eindruck der Pogromnacht 1938 in wenigen Wochen geschrieben hatte. Unter dem Pseudonym John Grane erschien dieses Werk mit dem Titel „The Man who took the Trains“.
Mutter und Sohn glaubten, in England in einem sicheren Hafen angekommen zu sein. Aber bald nach dem Kriegseintritt Großbritanniens wurden alle Deutschen und Österreicher – mehrheitlich jüdische Flüchtlinge und Nazi-Gegner – als „alien enemies“ eingestuft, denen man Spionage für das „Dritte Reich“ unterstellte. Sie wurden in Lagern interniert, Martha und Ulrich Boschwitz auf der Isle of Man. Ulrich wurde 1940 nach Australien deportiert und im Lager Hay (New South Wales) interniert, durfte aber 1942 nach Großbritannien zurückkehren. Er kam auf der Rückreise zu seiner Mutter nach London auf dem MS Abosso, das von einem deutschen U-Boot torpediert wurde, im Alter von 27 Jahren ums Leben.
Martha Boschwitz lebte nach ihrer Entlassung von der Isle of Man bei Kriegsende allein in London – infolge des tragischen Schicksals ihres Sohnes mit gebrochenem Herzen und immer kränklich. Sie nahm nicht am Leben ihrer Tochter Clarissa und ihrer Enkelkinder teil, sondern vergrub sich ganz in ihrer Trauer um Ulrich Alexander. Sie malte ein Portrait von ihm und schickte es ihrer Tochter Clarissa nach Israel. Dort hängt es noch heute im Wohnzimmer von Marthas Enkeltochter Reuella und erinnert die Nachkommen an einen Onkel und Großonkel, dem sie persönlich zwar nie begegnen konnten, der aber dennoch ein sehr wichtiges und sehr präsentes Mitglied der Familie ist. Nicht nur die Familie fragt sich, welch bedeutender deutscher Schriftsteller er hätte werden können.
Martha Boschwitz starb am 18. Juli 1959 in London.