Selma Grünthal kam als Selma Zerkowski am 5. Mai 1872 in Danzig zur Welt. Sie war eine Tochter von Simon Zerkowski und seiner Frau Rahel geb. Land. Selmas Vater war Mathematiker und Privatgelehrter. Selma heiratete den 1860 geborenen Adolf Grünthal, Sohn eines Bierbrauers, und lebte mit ihm in Beuthen (heute Bytom) in Oberschlesien. Adolf war ein in Beuthen angesehener Augenarzt und wurde 1911 zum Sanitätsrat ernannt.<br />
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Die Praxis prosperierte, nicht zuletzt weil im Bergbaumilieu Augenverletzungen häufig waren. 1894 wurde der Sohn Ernst geboren, vier Jahre später die Tochter Rahel. Wie ihre eigenen Eltern verstanden sich Selma und Adolf als konfessionslose Juden und erzogen ihre Kinder entsprechend. Sie wollten beiden, auch der Tochter, ein Universitätsstudium ermöglichen. Die Familie lebte in einer großzügigen Wohnung, wohl auch noch nachdem die Kinder das Elternhaus verlassen hatten: Ernst zum Medizinstudium nach Breslau und München – zwischendurch war er auch zum Kriegsdienst eingezogen – und dann auch Rahel, die, ihrem Bruder folgend, in München Chemie studierte und später heiratete.<br />
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Nachdem 1933 Hitler an die Macht kam, wurde der in Beuthen einst beliebte Augenarzt Adolf Grünthal zunehmend diskriminiert und drangsaliert, so dass das Ehepaar beschloss, nach Berlin umzuziehen. Vermutlich 1934 oder 1935 kamen sie in die Hauptstadt und es ist nicht belegt, dass Adolf Grünthal noch einmal eine Praxis eröffnet hätte, schließlich war er schon 75 Jahre alt. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie sich von Anfang an in der Pension von Alice Schlesinger in der Schlüterstraße 54 einmieteten. Im Unterschied zu Rosa Phiebig im gleichen Haus, vermietete Alice Schlesinger auch unmöblierte Zimmer und Grünthals konnten in zwei Räumen einen Teil ihrer Beuthener Einrichtung unterbringen. Den größeren Teil hatten sie unter dem Druck der Umstände wohl ungünstig in Beuthen verkaufen müssen.<br />
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Am 7. August 1941 starb Adolf Grünthal und seine Witwe wurde bald darauf gezwungen, in ein bescheideneres Zimmer in der Claudiusstraße 6 umzuziehen, bei Cohn. Auch ihre sechs Jahre ältere Schwester Tony Kober, geborene Zerkowski, wohnte dort, unklar ist, ob vor oder nach Selma. Lange konnte Selma auch dort nicht bleiben. Am 14. September 1942 wurden die 70- und 76-jährigen Schwestern mit weiteren eintausend Opfern nach Theresienstadt deportiert, gut zwei Wochen bevor ihre Wirtin Jeanette Cohn das gleiche Schicksal erlitt. Während die Deportationen nach Theresienstadt in der Regel 50-100 Menschen umfassten, die in verschlossene, an Regelzüge angehängte Einzelwaggons gesteckt wurden, waren Selma und Tony in einem von vier Berliner „Massentransporten“, bei denen über 1000 Menschen in einen „geschlossenen Sonderzug“ gepfercht waren. Vielleicht konnten die Schwestern sich auf dieser bedrückenden Fahrt in eine finstere Zukunft gegenseitig etwas Trost zusprechen. <br />
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In Theresienstadt, das vom NS-Regime zynischerweise als „vorbildliches Altersghetto“ vorgeführt wurde, waren die Lebensumstände erbärmlich. Überfüllung, Hunger, Kälte und Krankheiten rafften eine hohe Zahl der Insassen hin, Seuchen infolge der miserablen hygienischen Lage taten ein Übriges. Selma und ihre Schwester wurden in ein Zimmer im Gebäude Q312 eingewiesen und Selma musste erleben, wie Toni schon am 4. Januar 1943 den Tod fand, nach offizieller Darstellung wegen „Herzschwäche“ - kein Wunder bei den gewollt menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Selma Grünthal hielt ein ganzes Jahr durch, dann wurde auch sie am 27. September 1943 Opfer dieser Umstände. Ihre ehemalige Wirtin Jeanette Cohn kam nur wenige Wochen nach Ankunft im Ghetto ums Leben.<br />
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Selma Grünthals Kinder konnten überleben. Rahel hatte ein zweites Mal geheiratet, hatte sich christlich taufen lassen mit dem Vornamen Ilse und musste dennoch die letzten Monate vor Kriegsende untertauchen. Sie lebte danach mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in München. Ernsts Karriere an der Universität Würzburg wurde durch das NS-Regime jäh unterbrochen. Er konnte 1934 in die Schweiz flüchten und wurde später ein bekannter Psychiater und Hirnforscher. Er starb 1972 in Bern.<br />
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Text: Micaela Haas<br />
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Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Kartei der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Berliner Adressbücher; Fritjof Hartenstein: Leben und Werk des Psychiaters Ernst Grünthal, 1976; Theresienstadt Datenbank: <a href=http://www2.holocaust.cz/de/docume…;
Die Praxis prosperierte, nicht zuletzt weil im Bergbaumilieu Augenverletzungen häufig waren. 1894 wurde der Sohn Ernst geboren, vier Jahre später die Tochter Rahel. Wie ihre eigenen Eltern verstanden sich Selma und Adolf als konfessionslose Juden und erzogen ihre Kinder entsprechend. Sie wollten beiden, auch der Tochter, ein Universitätsstudium ermöglichen. Die Familie lebte in einer großzügigen Wohnung, wohl auch noch nachdem die Kinder das Elternhaus verlassen hatten: Ernst zum Medizinstudium nach Breslau und München – zwischendurch war er auch zum Kriegsdienst eingezogen – und dann auch Rahel, die, ihrem Bruder folgend, in München Chemie studierte und später heiratete.
Nachdem 1933 Hitler an die Macht kam, wurde der in Beuthen einst beliebte Augenarzt Adolf Grünthal zunehmend diskriminiert und drangsaliert, so dass das Ehepaar beschloss, nach Berlin umzuziehen. Vermutlich 1934 oder 1935 kamen sie in die Hauptstadt und es ist nicht belegt, dass Adolf Grünthal noch einmal eine Praxis eröffnet hätte, schließlich war er schon 75 Jahre alt. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie sich von Anfang an in der Pension von Alice Schlesinger in der Schlüterstraße 54 einmieteten. Im Unterschied zu Rosa Phiebig im gleichen Haus, vermietete Alice Schlesinger auch unmöblierte Zimmer und Grünthals konnten in zwei Räumen einen Teil ihrer Beuthener Einrichtung unterbringen. Den größeren Teil hatten sie unter dem Druck der Umstände wohl ungünstig in Beuthen verkaufen müssen.
Am 7. August 1941 starb Adolf Grünthal und seine Witwe wurde bald darauf gezwungen, in ein bescheideneres Zimmer in der Claudiusstraße 6 umzuziehen, bei Cohn. Auch ihre sechs Jahre ältere Schwester Tony Kober, geborene Zerkowski, wohnte dort, unklar ist, ob vor oder nach Selma. Lange konnte Selma auch dort nicht bleiben. Am 14. September 1942 wurden die 70- und 76-jährigen Schwestern mit weiteren eintausend Opfern nach Theresienstadt deportiert, gut zwei Wochen bevor ihre Wirtin Jeanette Cohn das gleiche Schicksal erlitt. Während die Deportationen nach Theresienstadt in der Regel 50-100 Menschen umfassten, die in verschlossene, an Regelzüge angehängte Einzelwaggons gesteckt wurden, waren Selma und Tony in einem von vier Berliner „Massentransporten“, bei denen über 1000 Menschen in einen „geschlossenen Sonderzug“ gepfercht waren. Vielleicht konnten die Schwestern sich auf dieser bedrückenden Fahrt in eine finstere Zukunft gegenseitig etwas Trost zusprechen.
In Theresienstadt, das vom NS-Regime zynischerweise als „vorbildliches Altersghetto“ vorgeführt wurde, waren die Lebensumstände erbärmlich. Überfüllung, Hunger, Kälte und Krankheiten rafften eine hohe Zahl der Insassen hin, Seuchen infolge der miserablen hygienischen Lage taten ein Übriges. Selma und ihre Schwester wurden in ein Zimmer im Gebäude Q312 eingewiesen und Selma musste erleben, wie Toni schon am 4. Januar 1943 den Tod fand, nach offizieller Darstellung wegen „Herzschwäche“ - kein Wunder bei den gewollt menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Selma Grünthal hielt ein ganzes Jahr durch, dann wurde auch sie am 27. September 1943 Opfer dieser Umstände. Ihre ehemalige Wirtin Jeanette Cohn kam nur wenige Wochen nach Ankunft im Ghetto ums Leben.
Selma Grünthals Kinder konnten überleben. Rahel hatte ein zweites Mal geheiratet, hatte sich christlich taufen lassen mit dem Vornamen Ilse und musste dennoch die letzten Monate vor Kriegsende untertauchen. Sie lebte danach mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in München. Ernsts Karriere an der Universität Würzburg wurde durch das NS-Regime jäh unterbrochen. Er konnte 1934 in die Schweiz flüchten und wurde später ein bekannter Psychiater und Hirnforscher. Er starb 1972 in Bern.
Text: Micaela Haas
Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Kartei der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Berliner Adressbücher; Fritjof Hartenstein: Leben und Werk des Psychiaters Ernst Grünthal, 1976; Theresienstadt Datenbank: http://www2.holocaust.cz/de/documen...