Berta Erdsiek geb. Kowalsky

Verlegeort
Kurfürstendamm 100
Bezirk/Ortsteil
Halensee
Verlegedatum
06. August 2011
Geboren
18. Januar 1873 in Labiau (Ostpreußen) / Polessk
Deportation
am 18. Juni 1942 nach Theresienstadt
Ermordet
19. April 1944 in Theresienstadt

Man traf sich oft und gern – die Familie, die Freunde, die Künstler. In der herrschaftlichen Wohnung am Kurfürstendamm 100. Die „Amtsgerichtsratswitwe“ Berta Erdsiek wohnte hier zwischen geschnitzten Möbeln, ledernen Sesseln, Chaiselongues und Gemälden. Schräg gegenüber dem neuen, avantgardistischen, von Erich Mendelsohn erbauten Theater „Schaubühne“ und nicht weit vom Amüsierviertel am Halensee - der Kurfürstendamm war in wenigen Jahren zum neuen Berliner Boulevard geworden, obwohl er bis 1920 in den damals noch selbständigen Großstädten Charlottenburg und Wilmersdorf lag. Wann genau Berta Erdsiek in das prächtige Haus einzog, ist unklar. Sicher nicht vor 1932, das belegen die alten Adressbücher. Im Jahr 1935 gab es dann eine „Vermögenserklärung“ der „Berta Sara Erdsiek“ für die Wohnadresse Kurfürstendamm 100. „Tante Spohn“ nannten ihre jüngeren Verwandten liebevoll die damals gut situierte Witwe. Was dieser Kosename bedeutete, wusste niemand in der großen Familie. Auch heute in Berlin lebende Nachkommen rätseln weiter darüber. Vielleicht etwas Jiddisches? Etwas aus der alten Heimat nahe dem Kurischen Haff?<br />
<br />
Das jüdische Leben in Ostpreußen war im 19. Jahrhundert sehr stark von den Inputs aus der litauischen Nachbarschaft beeinflusst. Jüdische Bewohner aus den litauischen Shtetls in der Nähe der ehemaligen Grenzregion kamen oft nach Ostpreußen herüber. Sie hatten Geschäfte auf der anderen Seite oder besuchten ihre Verwandten. Der am 23. Februar 1848 geborene Kaufmann Isaak Kowalski - Bertas Vater – stammte aus dem litauischen Wystiten. Später avancierte er in Tilsit zum Gutsbesitzer und Kaufmann. Mit seiner Frau Sarah, geborene Krohn, zog er später nach nach Labiau (russ.: Polessk) nordöstlich von Königsberg. <br />
<br />
Die israelitische Gemeinde des Landkreises Labiau hatte etwa 130 Mitglieder und es gab es eine Synagoge. Viele Juden wanderten weiter nach Westen bis nach Berlin. Isaak Kowalski erreichte am 11. April 1900 seine Einbürgerung in Ostpreußen. Da war seine Tochter Berta bereits 27 Jahre alt. Die am 18. Januar 1973 geborene Berta hatte keinen Beruf erlernt. Mit 33 Jahren heiratet sie den 46jährigen Amtsgerichtsrat Johannes Erdsiek (*17. Juli 1860). Am 20. August 1906 wird die Ehe auf dem Standesamt „Berlin XII a“ geschlossen. Ob es auch eine jüdische Hochzeitszeremonie gab? Wohl eher nicht, denn Erdsiek gehörte der evangelischen Kirche an. Einer der beiden Trauzeugen hieß Max Jacobsohn und war Rechtsanwalt.<br />
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Bernhard Heinrich Gottlob Johannes Erdsiek stammte aus einer Pfarrersfamilie in Halle an der Saale. Die Eltern zogen später in den Kreis Labiau. Johannes Erdsiek (*17.Juli 1860) und sein Bruder wurden dort geboren. Johannes studierte Rechtswissenschaft und machte später eine Karriere als Amtsgerichtsrat in Berlin-Wedding. Sein jüngerer Bruder Gustav wurde Kaufmann und betrieb in Berlin einen Flachs- und Hanfhandel. Die Wohnadresse des Amtsgerichtsrats war erst die Paulstraße 15 nahe dem Schloss Bellevue. Direkt nach der Heirat zieht das Ehepaar Erdsiek in die Mommsenstraße 22. Ab dem Jahr 1910 ist diese Anschrift in den Adressbüchern zu finden. Nach vierzehn Ehejahren, am 10. Januar 1921, stirbt Johannes Erdsiek mit 60 Jahren. Die kinderlose Berta ist nun fast 48 Jahre alt und muss ihr Leben neu ordnen. <br />
<br />
Finanziell ist das erst mal kein großes Problem. Berta kann in der großen herrschaftlichen Wohnung bleiben. Sie bezieht eine Witwenpension von 2400 Reichsmark. Anfang der dreißiger Jahre zieht sie nach Halensee, Kurfürstendamm 100. Warum? Wir wissen es nicht. Denn die neue Wohnung ist ebenso „herrschaftlich“ wie die alte. Berta kümmert sich liebevoll um ihre Verwandten. Einige von ihnen wohnen in der Schlüterstraße 72. Die besondere Fürsorge der Witwe gilt ihrer 1896 in Mehlauken/Kreis Labiau geborenen Nichte Margot, der Tochter ihrer Schwester Gertrud, die mit dem jüdischen Kaufmann Max Lauterstein verheiratet war. Doch Tochter Margot ist keine „Volljüdin“. Sie entstammt einer außerehelichen Beziehung ihrer Mutter. Der „arische“ Kaufmann Ernst Glowienka gab das kurz vor seinem Tode – noch während der Nazi-Zeit – zu Protokoll. Ein vermutlich lebensrettendes Geständnis. Ein mit der Familie Lauterstein befreundeter Notar schreibt 1947: „Diese Ermittlungen habe ich im Jahre 1936 angestellt, um den Nachweis erbringen zu können, dass Frau Margot Wegner nicht Volljüdin, sondern Mischling war, sodass sie vor den schwersten Anfeindungen geschützt werden konnte.“ Margot wächst zeitweise Teil bei ihrer Tante Berta auf, in späteren Dokumenten wird sie als „Pflegetochter“ bezeichnet. Margot, inzwischen katholisch getauft, heiratet den Rechtsanwalt Paul Wegner, der 1930 stirbt. Ihre beiden Söhne werden als deutsche Soldaten eingezogen, nur einer überlebt. <br />
<br />
Als Berta im Jahr 1921 zur Witwe wird, ist ihre Nichte Margot 25 Jahre alt. Die junge Frau hat keinen Beruf erlernt, war von 1919 bis 1930 Ehefrau, arbeitete Ende der zwanziger Jahre eine Zeitlang als Stenotypistin beim „Deutschen Beamten-Genossenschaftsverband e.V.“ und betrieb bis 1933 eine kleine Leihbücherei. Berta unterstützt ihre Nichte, so gut sie kann, vererbt ihr 1929 testamentarisch ihr gesamtes Vermögen, ihre Pensionsansprüche und ihre Lebensversicherung. Doch die über alles geliebte Nichte wird nie etwas davon bekommen, auch später - nach dem Krieg - nicht. Sie möchte wieder eine Familie gründen, doch die Machtübernahme der Nazis verhindert die Ehe mit einem „Arier“. Im Oktober 1933 wird Margots Tochter Antonie daher unehelich geboren, die Mutter der heute in Berlin lebenden Ilona Seedorf. Erst im Jahr 1958 wird die „Verbindung“ von Antonies Eltern offiziell als „Ehe“ anerkannt werden.<br />
<br />
Berta verstärkt ihre Bemühungen, ihre Nichte Margot finanziell abzusichern. Vereinbart am 31. Oktober 1941 notariell eine Schenkung über ihr Vermögen. Es ist zu spät. Nur neun Monate später, im Juni 1942, verfügen die Nazi-Behörden den Einzug ihres gesamten Vermögens. Da war die 69jährige Berta bereits aus dem Haus am Kurfürstendamm getrieben und mit einem Lastwagen in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 gekarrt worden. Am 18. Juni 1942 wurde sie mit dem Zug ins Ghetto Theresienstadt gebracht. Dort musste sie noch zwei Jahre unter grausamen Umständen verbringen. Am 19. April 1944 verstarb Berta Erdsiek. „Meine ‚Tante Spohn‘ mit dem riesigen Herzen blieb immer unvergessen“, sagt ihre Urgroßnichte Ilona Seedorf, „bei meiner Oma, meiner Großtante und besonders bei meiner Mutter, die über das Trauma ihrer Ermordung nie hinwegkam.“

Man traf sich oft und gern – die Familie, die Freunde, die Künstler. In der herrschaftlichen Wohnung am Kurfürstendamm 100. Die „Amtsgerichtsratswitwe“ Berta Erdsiek wohnte hier zwischen geschnitzten Möbeln, ledernen Sesseln, Chaiselongues und Gemälden. Schräg gegenüber dem neuen, avantgardistischen, von Erich Mendelsohn erbauten Theater „Schaubühne“ und nicht weit vom Amüsierviertel am Halensee - der Kurfürstendamm war in wenigen Jahren zum neuen Berliner Boulevard geworden, obwohl er bis 1920 in den damals noch selbständigen Großstädten Charlottenburg und Wilmersdorf lag. Wann genau Berta Erdsiek in das prächtige Haus einzog, ist unklar. Sicher nicht vor 1932, das belegen die alten Adressbücher. Im Jahr 1935 gab es dann eine „Vermögenserklärung“ der „Berta Sara Erdsiek“ für die Wohnadresse Kurfürstendamm 100. „Tante Spohn“ nannten ihre jüngeren Verwandten liebevoll die damals gut situierte Witwe. Was dieser Kosename bedeutete, wusste niemand in der großen Familie. Auch heute in Berlin lebende Nachkommen rätseln weiter darüber. Vielleicht etwas Jiddisches? Etwas aus der alten Heimat nahe dem Kurischen Haff?

Das jüdische Leben in Ostpreußen war im 19. Jahrhundert sehr stark von den Inputs aus der litauischen Nachbarschaft beeinflusst. Jüdische Bewohner aus den litauischen Shtetls in der Nähe der ehemaligen Grenzregion kamen oft nach Ostpreußen herüber. Sie hatten Geschäfte auf der anderen Seite oder besuchten ihre Verwandten. Der am 23. Februar 1848 geborene Kaufmann Isaak Kowalski - Bertas Vater – stammte aus dem litauischen Wystiten. Später avancierte er in Tilsit zum Gutsbesitzer und Kaufmann. Mit seiner Frau Sarah, geborene Krohn, zog er später nach nach Labiau (russ.: Polessk) nordöstlich von Königsberg.

Die israelitische Gemeinde des Landkreises Labiau hatte etwa 130 Mitglieder und es gab es eine Synagoge. Viele Juden wanderten weiter nach Westen bis nach Berlin. Isaak Kowalski erreichte am 11. April 1900 seine Einbürgerung in Ostpreußen. Da war seine Tochter Berta bereits 27 Jahre alt. Die am 18. Januar 1973 geborene Berta hatte keinen Beruf erlernt. Mit 33 Jahren heiratet sie den 46jährigen Amtsgerichtsrat Johannes Erdsiek (*17. Juli 1860). Am 20. August 1906 wird die Ehe auf dem Standesamt „Berlin XII a“ geschlossen. Ob es auch eine jüdische Hochzeitszeremonie gab? Wohl eher nicht, denn Erdsiek gehörte der evangelischen Kirche an. Einer der beiden Trauzeugen hieß Max Jacobsohn und war Rechtsanwalt.

Bernhard Heinrich Gottlob Johannes Erdsiek stammte aus einer Pfarrersfamilie in Halle an der Saale. Die Eltern zogen später in den Kreis Labiau. Johannes Erdsiek (*17.Juli 1860) und sein Bruder wurden dort geboren. Johannes studierte Rechtswissenschaft und machte später eine Karriere als Amtsgerichtsrat in Berlin-Wedding. Sein jüngerer Bruder Gustav wurde Kaufmann und betrieb in Berlin einen Flachs- und Hanfhandel. Die Wohnadresse des Amtsgerichtsrats war erst die Paulstraße 15 nahe dem Schloss Bellevue. Direkt nach der Heirat zieht das Ehepaar Erdsiek in die Mommsenstraße 22. Ab dem Jahr 1910 ist diese Anschrift in den Adressbüchern zu finden. Nach vierzehn Ehejahren, am 10. Januar 1921, stirbt Johannes Erdsiek mit 60 Jahren. Die kinderlose Berta ist nun fast 48 Jahre alt und muss ihr Leben neu ordnen.

Finanziell ist das erst mal kein großes Problem. Berta kann in der großen herrschaftlichen Wohnung bleiben. Sie bezieht eine Witwenpension von 2400 Reichsmark. Anfang der dreißiger Jahre zieht sie nach Halensee, Kurfürstendamm 100. Warum? Wir wissen es nicht. Denn die neue Wohnung ist ebenso „herrschaftlich“ wie die alte. Berta kümmert sich liebevoll um ihre Verwandten. Einige von ihnen wohnen in der Schlüterstraße 72. Die besondere Fürsorge der Witwe gilt ihrer 1896 in Mehlauken/Kreis Labiau geborenen Nichte Margot, der Tochter ihrer Schwester Gertrud, die mit dem jüdischen Kaufmann Max Lauterstein verheiratet war. Doch Tochter Margot ist keine „Volljüdin“. Sie entstammt einer außerehelichen Beziehung ihrer Mutter. Der „arische“ Kaufmann Ernst Glowienka gab das kurz vor seinem Tode – noch während der Nazi-Zeit – zu Protokoll. Ein vermutlich lebensrettendes Geständnis. Ein mit der Familie Lauterstein befreundeter Notar schreibt 1947: „Diese Ermittlungen habe ich im Jahre 1936 angestellt, um den Nachweis erbringen zu können, dass Frau Margot Wegner nicht Volljüdin, sondern Mischling war, sodass sie vor den schwersten Anfeindungen geschützt werden konnte.“ Margot wächst zeitweise Teil bei ihrer Tante Berta auf, in späteren Dokumenten wird sie als „Pflegetochter“ bezeichnet. Margot, inzwischen katholisch getauft, heiratet den Rechtsanwalt Paul Wegner, der 1930 stirbt. Ihre beiden Söhne werden als deutsche Soldaten eingezogen, nur einer überlebt.

Als Berta im Jahr 1921 zur Witwe wird, ist ihre Nichte Margot 25 Jahre alt. Die junge Frau hat keinen Beruf erlernt, war von 1919 bis 1930 Ehefrau, arbeitete Ende der zwanziger Jahre eine Zeitlang als Stenotypistin beim „Deutschen Beamten-Genossenschaftsverband e.V.“ und betrieb bis 1933 eine kleine Leihbücherei. Berta unterstützt ihre Nichte, so gut sie kann, vererbt ihr 1929 testamentarisch ihr gesamtes Vermögen, ihre Pensionsansprüche und ihre Lebensversicherung. Doch die über alles geliebte Nichte wird nie etwas davon bekommen, auch später - nach dem Krieg - nicht. Sie möchte wieder eine Familie gründen, doch die Machtübernahme der Nazis verhindert die Ehe mit einem „Arier“. Im Oktober 1933 wird Margots Tochter Antonie daher unehelich geboren, die Mutter der heute in Berlin lebenden Ilona Seedorf. Erst im Jahr 1958 wird die „Verbindung“ von Antonies Eltern offiziell als „Ehe“ anerkannt werden.

Berta verstärkt ihre Bemühungen, ihre Nichte Margot finanziell abzusichern. Vereinbart am 31. Oktober 1941 notariell eine Schenkung über ihr Vermögen. Es ist zu spät. Nur neun Monate später, im Juni 1942, verfügen die Nazi-Behörden den Einzug ihres gesamten Vermögens. Da war die 69jährige Berta bereits aus dem Haus am Kurfürstendamm getrieben und mit einem Lastwagen in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 gekarrt worden. Am 18. Juni 1942 wurde sie mit dem Zug ins Ghetto Theresienstadt gebracht. Dort musste sie noch zwei Jahre unter grausamen Umständen verbringen. Am 19. April 1944 verstarb Berta Erdsiek. „Meine ‚Tante Spohn‘ mit dem riesigen Herzen blieb immer unvergessen“, sagt ihre Urgroßnichte Ilona Seedorf, „bei meiner Oma, meiner Großtante und besonders bei meiner Mutter, die über das Trauma ihrer Ermordung nie hinwegkam.“