Berta Hess geb. Stern

Verlegeort
Wilhelmsaue 136
Bezirk/Ortsteil
Wilmersdorf
Verlegedatum
30. Juli 2005
Geboren
28. Juni 1887 in Nordeck
Deportation
1941 nach
Ermordet

Berta Hess, die auf der Geburtsurkunde noch Bertha Stern hieß, kam am 28. Juni 1887 als Kind einer jüdischen Familie in Nordeck, einem kleinen Ort in der Nähe von Marburg in Hessen, auf die Welt. Sie war die Tochter des Kaufmanns Meyer Stern (1853–1923?) und seiner Ehefrau Julie (Julchen), geb. Lion (1854–1941). Berta hatte vier Brüder: Heinemann (*1878), Louis (*1883) und Leo (*1892). – Der vierte Bruder, der 1889 geborene Friedrich Sally, war bereits mit drei Monaten gestorben.

Nordeck besaß eine alte, aber recht kleine jüdische Gemeinde. Zum Zeitpunkt der Geburt von Berta waren ungefähr sieben Prozent der Einwohner jüdischer Religion. Die Familien Stern und Lion gehörten zu den einflussreichen Gemeindemitgliedern: Bis 1898 war Moses Lion Synagogenältester und Gemeindevorsteher, dann folgte ihm Bertas Vater von Meyer Stern und blieb es bis 1923. 

Die Familie wohnte in einer Zeit, in der es dort keine (oder kaum?) Straßennamen gab, im „Haus Nr. 57“. Ihr Vater war Mitinhaber eines Geschäfts für „Landesprodukte, Mehl und Futterartikel“. Als Ende des 19. Jahrhunderts die jüdischen Haushalte in Nordeck verzeichnet wurden, waren die älteren Brüder nicht (mehr) in Nordeck, sondern wohl beim Militär oder in der Ausbildung. Berta und ihr jüngerer Bruder Leo gingen noch zur Schule. (Es gab in Nordeck eine jüdische Schule.) Die Großmutter Lion wohnte als Witwe eine Zeit lang bei ihrem Schwiegersohn und seiner Familie, sie starb 1903.

Der älteste Bruder Heinemann Stern wurde Lehrer und lebte viele Jahre in Oberschlesien. Louis Stern wurde Kaufmann und wohnte zuletzt in Görlitz. Der jüngste Bruder Leo Stern blieb in Nordeck und besaß dort ein Geschäft für Textilwaren, in dem seine Ehefrau Erna, geb. Strauss, Geschäftsführerin war. Das Paar bekam drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.

Von Berta selbst erfahren wir weniger: Sie lernte keinen Beruf, und sie heiratete den 1894 in Dortmund geborenen Kaufmann Julius Hess. Mit ihm wohnte sie im Ruhrgebiet, zwischen Zechen und Fabriken. – Das Industrierevier an der Ruhr war das Gegenteil des idyllischen Ortes, in dem sie aufgewachsen war. – Am 29. Juni 1926 kamen die Zwillinge Hannelore und Rosemarie auf die Welt. Als Geburtsort wird Langendreer angegeben: Langendreer gehört seit 1929 zu Bochum, grenzt aber auch an Dortmund.

Die Ehe hielt nicht, und nach der Scheidung zog Berta Hess mit ihren Töchtern nach Berlin. Dort wohnte bereits seit Jahren ihr Bruder Heinemann Stern mit seiner Ehefrau Johanna. Er hatte Oberschlesien verlassen, in Hamburg promoviert und arbeitete als Rektor der Jüdischen Mittelschule. Über Berlin hinaus war er ein bekannter Mann geworden: Er war führendes Mitglied in vielen jüdischen Verbänden, darunter im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.), und Vorsitzender des Jüdischen Lehrerverbands Deutschlands. Zur Pädagogik verfasste Heinemann Stern außerdem eine Reihe von viel gelesenen Schriften.

Berta Hess führte von 1934 bis 1938 in Berlin-Steglitz ein Lebensmittelgeschäft (laut Berliner Adressbuch eine Textilwarenhandlung in der Albrechtstraße), und sie wohnte ebenfalls im Bezirk Steglitz. Ihre Töchter besuchten die Volksschule und wechselten Ostern 1937 zur Mittelschule der Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße. Sie wohnten im Auerbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee 162a. Warum?

In den 1930er-Jahren lebten  Heinemann und Johanna in der Varziner Straße in Berlin-Friedenau. Im Jahr der Volkszählung 1939 wohnte Berta Hess bei ihnen.

Ihre Töchter Hannelore und Rosemarie hatte sie im Januar 1939 mit einem Kindertransport in die Niederlande retten können. Eine niederländische Bankiersfrau hatte diese Transporte organisiert. Die Kinder durften einen Koffer, eine Tasche, ein Photo, aber kein Spielzeug mitnehmen. Den Bahnsteig durften die Eltern zum Abschied nicht betreten. – Ob sich Berta Hess an diese Regeln gehalten hat, halten musste? In den Niederlanden mussten die Zwillinge immer wieder umziehen: Sie lebten in Familien und Waisenhäusern, in den Orten Wijk aan Zee, Amsterdam, Den Haag und Utrecht.

Im Mai 1940 konnten Bruder Heinemann Stern und seine Ehefrau Johanna nach Brasilien entkommen. Berta Hess zog in das Haus Wilhelmsaue 136. Sie war Untermieterin bei Jettka Rosner, die als Lehrerin an der Jüdischen Mittelschule gearbeitet hatte. Dort wohnte auch die ehemalige Mittelschullehrerin Alice Pasch. Man kann wohl sicher sein, dass beide Frauen Berta Hess’ Bruder Heinemann und vielleicht auch Bertas Töchter gekannt haben.

Berta Hess wohnte nur kurze Zeit in der Wilhelmsaue 136. Sie wollte zu den Töchtern in die Niederlande, und sie wollte eine Berufsausbildung im Gartenbau absolvieren. Am 28. Juni 1941 starb die Mutter von Berta Hess in der Auguststraße 14–15, einem Kranken- und Siechenheim der Jüdischen Gemeinde. Sie war bei der Sterbenden und zeigte deren Tod an.

Berta Hess konnte Deutschland nicht mehr verlassen und wurde noch 1941 deportiert. Das genaue Datum, der Deportationsort und ihr Sterbeort sind bis heute unbekannt. Die Töchter von Berta Hess wurden in den Niederlanden festgenommen und über das Sammellager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt. Dort wurden Hannelore und Rosemarie Hess am 5. März 1943 ermordet.

 

Die übrige Familie: Ihr Bruder Louis Stern konnte emigrieren. Bruder Leo war 1936 mit seiner Familie von Nordeck nach Göppingen gezogen und wurde am 1. Dezember 1941 mit Ehefrau und Tochter von Stuttgart aus nach Jungfernhof, einem Außenlager des Ghettos Riga, deportiert. In den Wäldern nahe Riga wurden sie einige Monate später ermordet. Ihre beiden Söhne konnten entkommen und lebten zuletzt in den USA. Der geschiedene und wiederverheiratete Ehemann Julius Hess emigrierte im Dezember 1938 aus Bremen nach Shanghai. Er lebte später ebenfalls in den USA und starb dort 1948.