Recha Zeidler née Simon

Location 
Poststraße 20
District
Mitte
Stone was laid
20 September 2013
Born
12 December 1886 in Kolmar/ Chodziez
Deportation
on 04 August 1943 to Theresienstadt
Later deported
on 09 October 1944 to Auschwitz
Murdered
in Auschwitz

Die Angaben auf dem Stolperstein geben einen früheren Recherchestand wieder. Nach neueren Erkenntnissen wurde Recha Zeidler im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.

Recha Simon wurde am 12. Dezember 1886 in der Kleinstadt Usch (dem heutigen Ujście in Polen) geboren. Die Stadt liegt am Südufer der Netze (Noteć) etwa zehn Kilometer südlich von Schneidemühl (Piła) in der damaligen preußischen Provinz Posen. Recha war die Tochter des Kaufmanns Hermann Simon (†1911) und der Henriette Simon, geborene Bernstein (1857–1942). Recha wuchs im Kreis von drei jüngeren Geschwistern auf: Ihre Schwestern Frieda und Elsbeth kamen 1887 und 1889 in Usch zur Welt und ihre Schwester Meta 1893. Aus der ersten Ehe ihres Vaters mit der 1881 verstorbenen Pauline, geborene Förder, hatte sie außerdem vier Halbgeschwister: Michaelis (*1869), Max (*1874), Betty (*1875) und Georg Simon (*1880). Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Recha und ihren Geschwistern haben sich nur wenige Informationen erhalten. Ihre Eltern gehörten aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde der Stadt, zu der zum Zeitpunkt der Geburt von Recha etwa 90 der rund 2160 Einwohner zählten. Recha besuchte wie ihre Geschwister die Volksschule am Ort und anschließend die höhere Töchterschule in Schneidemühl. Nach ihrem Schulabschluss absolvierte sie eine Ausbildung im väterlichen Betrieb, einem Engros-Handelsgeschäft in der Stadt. Recha wurde in der Lagerhaltung und dem Versandt sowie weiteren kaufmännischen Bereichen des Betriebs ausgebildet.

Nach dem Tod ihres Vaters 1911 zog Recha Simon in den 1910er-Jahren nach Berlin, wo sie als kaufmännische Angestellte unter anderem in der Niederlassung des Unternehmens „Gebr. Grumach“ (ab 1922 Aktiengesellschaft) in der Königstraße 57a–59 (heutige Rathausstraße) nahe des Alexanderplatzes als Einkäuferin für Seidenwäsche beschäftigt war. Ihre damalige Wohnung lag in der Fürther Straße 8 in Wilmersdorf, bis sie im März 1919 den Berliner Kaufmann Hermann Dobriner (1881–1931) heiratete und mit ihm eine gemeinsame Wohnung am Enckeplatz 2 (heutige Enckestraße) in Kreuzberg an der königlichen Sternwarte bezog – das Haus ist überbaut worden, an dem Standort befindet sich heute der Besselpark. Recha Dobriner kündigte ihre Anstellung und arbeitete in den Folgejahren im Betrieb ihres Ehemannes, der eine Engros-Kohlenhandlung unterhielt. Am 8. Juli 1923 kam das erste und einzige Kinde des Ehepaares zur Welt, ein Sohn, dem sie den Namen Horst gaben. Leider haben sich keine weiteren Quellen erhalten, die einen Einblick in das Leben der Familie im Berlin der Weimarer Republik geben könnten. Kurz vor dessen Tod in der Heil- und Pflegeanstalt Herzberge, ließ sich Recha Dobriner von ihrem Ehemann im November 1931 scheiden. Im selben Jahr hatte sie sich eine Zweizimmerwohnung in der ersten Etage, Vorderhaus der Poststraße 20 in Mitte genommen. Den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn bestritt sie mit einer selbstständigen Seidenwäschefabrikation, deren Fertigung sie in der Poststraße betrieb und deren Produkte sie an den Einzelhandel verkaufte.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Recha Dobriner und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden und Anfang der 1930er-Jahre hatte die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zugenommen. Ab 1933 institutionalisierte sich der Antisemitismus mit Hilfe staatlicher Autorität. Gesetze und Sondererlasse drängten Recha Dobriner zunehmend in die Position einer Rechtlosen. Seit 1933 war sie außerdem auch als Unternehmerin von den antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen im Juni und November 1938 in Berlin erfuhren. Ihre Schwester Elsbeth schrieb später zu der Situation: „Da sie ab 1936 durch den Boykott der arischen Geschäfte [da diese keine Aufträge mehr an sie vergaben, Anm. d. A.] ihren Umsatz sinken sah, nahm sie noch einen zweiten Artikel in eigener Fabrikation auf und zwar Berufskittel.“ In den 1930er-Jahren gelang es einigen ihrer Geschwister mit ihren Familien, das Land zu verlassen: So konnte etwa Elsbeth Simon, verheiratete Sandmann, 1937 nach Argentinien auswandern. Ebenso gelang es Georg Simon mit seiner Ehefrau Johanna, geborene Humberg, und Frieda Simon, verheiratete Laser, mit ihrem Ehemann Hermann nach Südamerika zu entkommen. Recha Dobriner versuchte ebenfalls Papiere für ihre Ausreise zu erhalten, was ihr aber nicht gelang. Ihre Schwester Elsbeth schrieb dazu später: „Den letzten Brief 1940 schrieb sie, als sie die wunde Ahnung hatte, abgeschoben zu werden und mich himmelhoch bat, sie anzufordern, was aber nicht gelang. Seitdem fehlt jede Spur von ihr.“

Spätestens Anfang der 1940er-Jahre war das Leben für Recha in Berlin zum reinen Existenzkampf geworden. So konnte sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ vom 19. des Monats an nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Die Fabrikation von Textilien in der Poststraße musste sie aufgeben. Im Dezember 1941 heiratete sie in zweiter Ehe den aus dem brandenburgischen Hohenfinow stammenden Berthold Zeidler. Ihr Ehemann war 1885 geborene Sohn des Kaufmanns Adolf Zeidler und der Henriette, geborene Mendelsohn. Aus erster Ehe hatte er zwei Söhne: den 1921 in Hohenfinow geborenen Arno und den 1924 geborenen Bruno. Nach der Eheschließung zog Berthold – vermutlich mit seinen beiden Söhnen – in die Wohnung von Recha und ihrem Sohn Horst in der Poststraße ein. Berthold, der 1938 für einige Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert gewesen war, musste seit Ende der 1930er-Jahre / Anfang der 1940er-Jahre Zwangsarbeit leisten: zuletzt bei den Deutschen Tachometerwerken (Deuta-Werke) in der Oranienstraße 25 in Kreuzberg.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Jüdinnen und Juden beginnen würde. Rechas Sohn Horst Dobriner erhielt den Deportationsbescheid im Winter 1942/1943. Er wurde in einem der Berliner Sammellager interniert, von dort aus am 12. Januar 1943 mit dem „26. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Bertholds Söhne Arno und Bruno wurden im Rahmen der „Fabrik-Aktion“, bei der die letzten offiziell in der Hauptstadt verbliebenen Jüdinnen und Juden deportiert werden sollten, im Frühjahr 1943 von der Gestapo an ihrem Arbeitsplatz verhaftet. Beide wurden am 1. März 1943 mit dem „31. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Recha und Berthold erhielten den Deportationsbescheid im Sommer 1943. Sie wurden im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 interniert und von dort aus am 4. August 1943 in das KZ Theresienstadt deportiert. Berthold Zeidler überlebte die dortigen unmenschlichen Bedingungen fast ein Jahr, bevor er am 29. Juni 1944 in Theresienstadt ermordet wurde – entweder infolge direkter oder indirekter Gewalteinwirkung mittels planvoller Mangelernährung, versagter Medikamente, Kälte und körperlichen Misshandlungen. Recha verblieb bis zum Oktober 1944 in Theresienstadt, bevor sie am 9. Oktober 1944 weiter in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort – vermutlich unmittelbar nach der Ankunft des Transports – ermordet wurde. Zum Zeitpunkt der zweiten Deportation war sie 57 Jahre alt.

Von ihren Geschwistern überlebten Elsbeth, Georg und Frieda die NS-Verfolgung im Exil in Südamerika. Betty Simon, verheiratete Lipinsky wurde im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und im Mai 1944 nach Auschwitz, wo sie ermordet wurde. Max Simon wurde im Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert, im Oktober 1944 weiter in das Vernichtungslager Auschwitz. Auch er wurde ermordet. Michaelis Simon wurde im Juli 1942 aus Hamburg in das KZ Theresienstadt deportiert, im September 1942 weiter in das Vernichtungslager Treblinka und dort ermordet. Meta Simon, verheiratete Gutknecht, wurde im Januar 1944 nach Theresienstadt deportiert. Sie erlebte die Befreiung durch die Rote Armee am 8. Mai 1945 und lebte später in den USA. Rechas damals 87-jährige Mutter Henriette war im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet worden.