Nelly Henriette Reiss née Dach

Location 
Marienstraße 25
District
Mitte
Stone was laid
20 October 2014
Born
03 September 1901 in Schweppenhausen
Deportation
on 05 September 1942 to Riga
Murdered
08 September 1942 in Riga

Nelly Henriette Dach wurde am 3. September 1901 in Schweppenhausen geboren. Über ihr Elternhaus, ihre Kindheit und Jugend in der kleinen Ortschaft am Hunsrück, die damals zur preußischen Rheinprovinz (heute Rheinland-Pfalz) gehörte, haben sich ebenso wenig Informationen erhalten wie zu den Namen und Lebensdaten ihrer Eltern. Es ist auch nicht bekannt, ob Nelly im Kreis von Geschwistern aufwuchs. Ihre Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur kleinen jüdischen Gemeinde Schweppenhausens, zu der zum Zeitpunkt von Nellys Geburt etwa 30 der rund 500 Einwohner des Ortes zählten. Die Gemeinde verfügte über eine Religionsschule, die möglicherweise auch von Nelly besucht wurde, und unterhielt seit den 1840er-Jahren eine Synagoge, die nach einem Brand 1863 in der Schwabenstraße 4a neu wiederaufgebaut wurde. Es ist unbekannt, ob Nelly Dach nach ihrer Schulausbildung einen Beruf ergriff. Nach Ende des Ersten Weltkriegs heiratete sie den aus der mittelhessischen Kleinstadt Ulrichstein stammenden Kaufmann Louis Reiss, der 20 Jahre älter war als sie. Ihr Ehemann war 1880 als Sohn des Kaufmanns Nathan Reiss (1842–1911) und dessen Ehefrau Therese Deschen Reiss, geborene Spier (1849–1926), geboren worden. Das Ehepaar richtete sich nach der Hochzeit einen gemeinsamen Hausstand in Gießen ein, wo 1922 ihre Tochter Edith zur Welt kam. Kurz vor Ediths achtem Geburtstag verstarb der 49-jährige Louis Reiss unter nicht näher bekannten Umständen in Gießen. Er wurde im Familiengrab auf dem Neuen Friedhof Gießen bestattet. Die verwitwete Nelly Reiss kümmerte sich fortan alleinerziehend um ihre Tochter. Sie sollte nicht erneut heiraten. Zwischen 1933 und 1935 lebten Nelly und Edith Reiss in einer Wohnung in der Friedrichstraße 10 in der Gießener Innenstadt unweit des Universitätsklinikums der Ludwigs-Universität.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen Nelly Reiss und ihre Tochter. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Bildungs- und Berufsleben. Bereits 1933 begannen in Gießen die ersten Ausschreitungen und Boykotte gegen Juden. 1935 verließ Nelly Reiss mit ihrer Tochter die Stadt und zog nach Berlin, wo sie sich eine Wohnung in der Havelstraße 7 in Charlottenburg (heutige Arcostraße) nahe dem Charlottenburger Ufer nahm. Möglicherweise versprach sie sich von der Anonymität der Großstadt einen besseren Schutz für sich und ihre Tochter und hoffte den antisemitischen Verfolgungen in Berlin besser entgehen zu können. Im September 1936 zogen Nelly und Edith Reiss zur Untermiete in eine Wohnung in der zweiten Etage der Luisenstraße 65 in Mitte in der Nähe des Robert-Koch-Platzes. Hauptmieter dieser Wohnung war der 1903 in Schweppenhausen geborene Jurist Felix Dach, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Verwandten, vermutlich um den Bruder, von Nelly gehandelt hat. Felix Dach gelang mit seiner Ehefrau 1937 die Ausreise über Rotterdam in die USA, wo sie im Exil überlebten.

Nellys dreizehnjährige Tochter, die seit Dezember 1935 eine Berliner Schule besucht hatte, musste im Oktober 1936 krankheitsbedingt von der Schule genommen werden. Ihre Schulkarte verzeichnet ihren Abgang mit dem 2. Oktober 1936 und als Grund: Krankheit – ohne dass nähere Umstände vermerkt worden wären. Die antijüdische NS-Bildungspolitik sah mit einem Erlass von 1935 eine „möglichst vollständige Rassentrennung“ durch die „Einrichtung gesonderter jüdischer Schulen“ vor und nach den Pogromen im November 1938 wurde jüdischen Schülern der Besuch von öffentlichen Schulen grundsätzlich verboten. Aus den vorliegenden Quellen geht nicht hervor, ob Edith Reiss noch eine Schule der jüdischen Gemeinde in Berlin besuchen konnte. Zwischen 1937 und 1939 zogen Nelly und Edith Reiss in eine Wohnung in der Marienstraße 7 und später in die Marienstraße 25 in Mitte. Spätestens Ende der 1930er- / Anfang der 1940er-Jahre wurde das Leben für Mutter und Tochter Reiss in Berlin zum Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Nelly Reiss wurde außerdem zu Zwangsarbeit herangezogen: Sie war zuletzt als Arbeiterin im Navigationsbetrieb Tempelhof in der Bessemerstraße 76 tätig. Edith Reiss war zuletzt ehrenamtliche Helferin in einem Kindertagesheim der Jüdischen Gemeinde in der Auguststraße 17. Im Frühjahr 1942 mussten die beiden Frauen ihre Wohnung in der Marienstraße verlassen. Sie kamen als Untermieter bei Sigfried Bernstein in einer Wohnung in der Linienstraße 87 in Mitte unter, wo sie gemeinsam ein Zimmer bewohnten.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Nelly und Edith Reiss erhielten den Deportationsbescheid im Sommer 1942 und wurden im August 1942 in einem der Berliner Sammellager interniert. Am 31. August 1942 wurden die 40-jährige Nelly Reiss und ihre 19-jährige Tochter mit dem „19. Osttransport“ über den Güterbahnhof Moabit nach Riga deportiert und dort – vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft im Bahnhof Riga-Šķirotava – in den umliegenden Wäldern des Ghettos bei Rumbula erschossen.