Hermann Sziff

Location 
Marienstraße 27
District
Mitte
Stone was laid
20 October 2014
Born
21 March 1875 in Groß-Karben
Deportation
on 15 August 1942 to Riga
Murdered
18 August 1942 in Riga

Hermann Schiff wurde am 21. März 1875 im damals noch eigenständigen Groß-Karben (1970 zur Stadt Karben eingemeindet) im hessischen Wetteraukreis geboren. Er war der Sohn des Schuhmachers Maier Schiff und von dessen Ehefrau Johanna, geborene Strauß (1847–1930). Hermanns Eltern hatten 1874 in Groß-Karben geheiratet und sich eine gemeinsame Wohnung genommen. In den Jahren 1877, 1879 und 1888 kamen Hermanns jüngere Geschwister Jenni, Hugo und Gustav zur Welt. Hugo verstarb noch im Säuglingsalter. Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Hermann und seinen Geschwistern haben sich sonst keine weiteren Quellen erhalten. Seine Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde der Kleinstadt, zu der zum Zeitpunkt der Geburt Hermanns etwa 220 der rund 920 Einwohner zählten. Die Gemeinde gehörte zum liberalen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen. Die jüdischen Schülerinnen und Schüler besuchten eine private Schule. Auch wenn sich über die schulische Ausbildung von Hermann keine direkten Quellen erhalten haben, muss er eine humanistisch-musikalische Erziehung genossen haben. Er war später als Lehrer und Kantor im brandenburgischen Nauen beschäftigt, unterhielt eine Musikalienhandlung und ein Radiogeschäft und gab Musikunterricht an verschiedenen Instrumenten, vorwiegend am Klavier.

In den 1890er-Jahren zog die Familie nach Frankfurt am Main um, wobei Hermann Schiff spätestens Anfang der 1900er-Jahre in einer eigenen Wohnung im niedersächsischen Bodenfelde lebte. Am 29. September 1904 heiratete er in der hessischen Kleinstadt Gedern Clara Loewenstein. Die Tochter des Metzgermeisters Jakob Loewenstein (1848–1924) und von dessen Ehefrau Sara, geborene Grünbaum (1852–1906) wurde 1874 in Gedern geboren. Nach der Eheschließung zog das Paar nach Nauen in Brandenburg, wo Hermann eine Stelle als Lehrer und Kantor der Gemeinde annahm. Die Wohnung der Eheleute lag 1908 in der Potsdamer Straße 11 (heutige Goethestraße) im obersten Stock des Synagogengebäudes, das die dortige Gemeinde im Jahr 1800 eingeweiht hatte.

Hermanns jüngerer Bruder Gustav arbeitete als Tapezierer in Frankfurt am Main, wo er mit seiner Ehefrau Paula, geborene Reiss, lebte, als er sich 1914 zum Kriegsdienst meldete. Er fiel im Sommer 1916. Ob auch Hermann im Ersten Weltkrieg eingezogen wurde, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Gustavs Schwester Jenni Schiff, verheiratete Mahler, lebte mit ihrem Ehemann ebenfalls in Frankfurt am Main, wo 1914 ihre Tochter Else Mahler zur Welt kam. Spätestens seit den 1920er-Jahren führten Hermann und Clara Schiff das „Musik- und Piano-Haus C. Schiff“ in der Potsdamer Straße 55 neben dem „Berliner Hof“ in Nauen. In dem Geschäft wurden auch Radio-Artikel verkauft – was sich in der „Funkstadt Nauen“, berühmt für ihre Fernmeldeanlage, anbot. Die Wohnung der Schiffs lag Mitte der 1920er-Jahre in der Mittelstraße 12–16 – im sogenannten Barz’schen Haus in der Altstadt. Später zogen sie in eine Wohnung in der Potsdamer Straße im Geschoß oberhalb ihres Musikaliengeschäftes. Hermann Schiff gab hier Nauener Schülern Musikstunden an verschiedenen Instrumenten, insbesondere am Klavier, und betrieb das Geschäft – neben seiner Tätigkeit als Kantor der jüdischen Gemeinde – auch weiter, als seine Ehefrau 1933 verstarb. Leider haben sich keine weiteren Quellen erhalten, die einen Einblick in das Leben von Hermann Schiff im Nauen der Weimarer Republik geben könnten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Hermann und seine Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. In einer Kleinstadt wie Nauen – Anfang der 1930er-Jahre lebten knapp zwanzig jüdische Familien dort – waren die jüdischen Mitbürger besonders exponiert. Der reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933 traf die Gemeinde hart, insbesondere auch, weil er vorankündigte, welches antisemitische Potential sich in der Stadt entladen konnte. Die „Havelländische Rundschau” berichtete am 1. April 1933: „Gestern Abend kündete ein Umzug durch die Straßen der Stadt Nauen den Beginn des heute auch hier einsetzenden Boykotts der jüdischen Geschäfte und Ärzte an. Unter Vorantritt der SS- und SA-Reservekapelle marschierten die Nauener SA, die Motorstaffel, die SA-Reserve und Mitglieder der NSBO unter Mitführung von Transparenten, die zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufforderten […]. Die Kapelle spielte dort das Lied: ‘Muß i denn, muß i denn zum Städele hinaus ...’“ In den 1930er-Jahren verließen die meisten Verfolgten die Stadt, zogen nach Berlin und andere Großstädte oder versuchten ins Ausland zu entkommen. Hermann blieb vorerst als letzter Kantor der jüdischen Gemeinde in Nauen. Es ist nicht bekannt, ob er in den 1930er-Jahren Pläne verfolgte, Deutschland zu verlassen. Sollte er konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese.

Während der Pogrome im November 1938 wurde in Nauen nicht nur die Inneneinrichtung der Synagoge vollkommen zertrümmert, sondern auch unter anderem die Wohnung von Hermann Schiff „durch die allgemeine Empörung in Mitleidenschaft gezogen“, wie die Havelländische Rundschau verharmlosend schrieb. Das Klavier Hermanns wurde aus dem Fenster geworfen, ebenso seine aufgeschlitzten Betten. Den 63-jährigen Kantor hielt man, mit dem Kopf nach unten, aus dem Fenster. Zehn Jüdinnen und Juden wurden während der Pogrome verhaftet, neun von ihnen, darunter Hermann, mit dem dringenden Verweis, dass sie Nauen schnellstmöglich zu verlassen hätten, nach einigen Stunden wieder entlassen. Hermann ging nach Berlin, wo er sich eine Wohnung in der dritten Etage der Marienstraße 27 in Mitte nahe des Karlplatzes nahm und vermutlich darauf hoffte, in der Anonymität der Großstadt einen gewissen Schutz zu finden. Spätestens in den 1940er-Jahren wurde das Leben für ihn in Berlin zum reinen Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnte er sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ vom 19. des Monats an nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdischen Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Jüdinnen und Juden beginnen würde. Hermann Schiff erhielt den Deportationsbescheid im Sommer 1942. Er wurde in einem der Berliner Sammellager interniert und von dort aus am 15. August 1942 über den Güterbahnhof Moabit mit dem „18. Osttransport“ nach Riga deportiert, wo er nach seiner Ankunft am 18. August 1942 – wie alle 1004 mit diesem Transport deportierten Menschen – in den Wäldern bei Rumbula oder Biķernieki erschossen wurde.

Hermanns Schwägerin Paula Reiss war im März 1941 in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Weilmünster in Hessen im Rahmen der systematischen Massenmorde an Anstaltsinsassen (sogenannte „Krankenmorde“) ermordet worden. Hermanns verwitwete Schwester Jenni war zusammen mit ihrer Tochter Else im November 1941 aus ihrer letzten Wohnung in Frankfurt am Main in das Ghetto Kaunas (Kowno) deportiert und in der dortigen Festungsanlage Fort IX ermordet worden.