Ottilie Reich née Scharff

Location 
Barnimstraße 18
Historical name
Barnimstr. 20
District
Friedrichshain
Stone was laid
08 May 2023
Born
28 May 1907 in Eichenau (Schlesien) / Dąbrówka Mała
Occupation
Haushaltsgehilfin
Deportation
on 26 February 1943 to Auschwitz
Murdered
February 1943 in Auschwitz

Ottilie Reich geb. Scharff wurde am 28. Mai 1907 in Eichenau (heute ein Stadtteil von Katowice) in Schlesien geboren. Sie gab im Jahre 1938 an, seit 1925 in Berlin zu wohnen. Am 14. Oktober 1928 wurde ihre Tochter Gina Scharff unehelich in Berlin geboren. Der Vater des Kindes war der Arbeiter Bernhard Behrendt.

Am 17. März 1932 heiratete Ottilie, die als Haushaltshilfe arbeitete, in Berlin den 1909 in Charlottenburg geborenen Fräser Herbert Reich. Das Paar, das bereits seit 1931 einen gemeinsamen Sohn hatte, wohnte zum Zeitpunkt der Hochzeit in der Friedenstraße 40. Die Ehe wurde 1936 wieder geschieden. Der gemeinsame Sohn lebte fortan bei seinem Vater, ab April 1938 in der Ebersstraße 12a in Schöneberg. Ottilie sollte trotz Scheidung weiterhin den Nachnamen Reich tragen.

Ihren zweiten Sohn Michael brachte Ottilie am 1. April 1938 unehelich im Jüdischen Krankenhaus in Berlin zur Welt. Der Vater war wieder Bernhard Behrendt, der zwischenzeitlich verwitwet war. Ottilie und der kleine Michael wohnten nun mit Bernhard Behrendt und dessen Sohn Günther (Gideon) Behrendt in der Elsässer Straße 34 bei Gerber (im Vorderhaus) zusammen.

Die unehelichen Kinder Gina und Michael Scharff standen unter der Vormundschaft des Jugendamtes. Ottilie Reich musste sich wegen aller Fragen, die ihre Kinder und deren Unterbringung betrafen, an den Stadtvormund wenden. Ihre Tochter Gina lebte zu dieser Zeit im Reichenheim'schen Waisenhaus am Weinbergsweg 13 in Berlin und besuchte die jüdische Mädchenvolksschule in der Auguststraße.

Der Vater von Gina und Michael, Bernhard Behrendt, konnte seinen Unterhaltsverpflichtungen für die beiden unehelichen Kinder mit Ottilie Reich nicht mehr nachkommen, denn am 13. Juni 1938 war er früh in seiner Wohnung verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert worden. Sein Sohn Günther (Gideon), der die Verhaftung seines Vaters miterleben musste, kam noch im Juni 1938 ins jüdische Kinderheim in der Fehrbelliner Straße 92. Dort hatte er vorher nach der Schule immer seine Schulaufgaben erledigt. Ottilie Reich hatte wohl über die Jüdische Gemeinde die Unterbringung für den Jungen im Heim organisiert.

Ottilie Reich versuchte, ihre finanzielle Situation zu verbessern; sie sprach beim Wohlfahrtsamt Berlin-Mitte vor und suchte auch um Unterstützung bei der Jüdischen Gemeinde in Berlin.

Im Oktober 1938 bewohnten Ottilie Reich und ihr Sohn Michael Scharff eine Kochstube in der Barnimstraße 20 v. II. Diese Wohnung gehörte dem städtischen Wohlfahrtsamt.

Michaels Halbbruder, Günther (Gideon) Behrendt, konnte Ende 1938 das Kinderheim in der Fehrbelliner Straße verlassen und mit dem ersten Kindertransport am 1. Dezember 1938 von Berlin nach England entfliehen.

Ottilie Reich machte Anfang Januar 1939 in einem Schreiben an den gesetzlichen Vormund der Kinder auf ihre schwierige finanzielle Situation aufmerksam. Ihr Sohn Michael war gerade acht Monate alt. 

Der Historiker Wolf Gruner (W.G.) zitierte im Jahr 2002 aus Ottilie Reichs Schreiben und erläuterte die besondere Zwangslage hilfebedürftiger jüdischer Menschen während der NS-Zeit: »Durch die am 31. Dezember 1938 herausgegebene ›Zweite Verordnung über Mietbeihilfen‹ wurden bedürftige Juden dann von der Gewährung der Kreismietbeihilfen ausgeschlossen. In der Wohlfahrtspraxis wirkte sich das für die Betroffenen in Berlin wie folgt aus: Ottilie Reich, alleinerziehende Mutter zweier unehelicher Kinder, verdiente 30 RM wöchentlich. Sie hatte bisher ergänzend dazu 11 RM Zuschuß von der städtischen Fürsorge sowie eine monatliche Mietbeihilfe (13,30 RM) erhalten. Sie schrieb verzweifelt an den Vormund ihrer unehelichen Kinder in der Jüdischen Gemeinde Berlin, ›wie es ja Ihnen Herr Dr. bekannt ist, fällt der [Mietzuschlag] für uns Juden weg. Ich weiß nicht, was werden soll, entweder [...] Sie helfen mir weiter oder der Junge muß nach Schönhausen [Berlin-Niederschönhausen – ein jüdisches Kinderheim, W.G.] untergebracht werden, daß ich mir selbst Arbeit suche und meine Verhältnisse gebessert werden. Wie Sie ja wissen [...], ist der Vater des Kindes im Lager, die Verantwortung kann ich nicht auf mich nehmen, das Kind verhungern zu lassen, ich selbst habe getan, was in meinen Kräften stand, jetzt kann ich nicht mehr weiter.‹«

Ottilie Reichs Lebensgefährte Bernhard Behrendt wurde am 10. Januar 1939 aus dem KZ Buchenwald entlassen. Er war fast sieben Monate im Konzentrationslager inhaftiert und entschloss sich danach zur Flucht. Er lebte viele Jahre in Shanghai/China. Bis zu seiner Ausreise weilte er noch in Berlin und wohnte wahrscheinlich bei Ottilie Reich und seinem Sohn Michael. Auf seiner Effektenkarte des KZ Buchenwald war vermerkt worden, dass er »nach Barnimstr. 20« entlassen wurde.

Am 20. Juni 1939 konnte auch Gina Scharff, wie schon zuvor ihr Halbbruder Günther (Gideon) Behrendt, auf einen Kindertransport nach England gelangen und so gerettet werden. Sie wurde später von einer Familie namens Thompson in Glasgow adoptiert.

Im Oktober 1941 begannen die systematischen Deportationen der jüdischen Bevölkerung auch von Berlin aus. Etwa ein Jahr später wohnten Ottilie Reich und ihr Sohn Michael wahrscheinlich in einer sog. „Judenwohnung“ in der Friedenstraße 4 zur Untermiete bei Markus.

Ein halbes Jahr später, am 26. Februar 1943, wurden Ottilie Reich und ihr jüngster Sohn Michael Scharff mit dem 30. Osttransport von Berlin nach Auschwitz deportiert. Am Tag des Abtransportes war Ottilie Reich 35 Jahre, ihr Sohn Michael 4 Jahre und 10 Monate alt.

Es ist davon auszugehen, dass Mutter und Sohn direkt nach ihrer Ankunft ermordet wurden.