Hanni Ruschin geb. Ert

Verlegeort
Torstraße 216
Bezirk/Ortsteil
Mitte
Verlegedatum
Oktober 2014
Geboren
31. August 1922 in Berlin
Deportation
am 09. Dezember 1942 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Hanni Ert wurde am 31. August 1922 in Berlin geboren. Sie war die Tochter des Bäckermeisters Leonhard, Leo genannt, Ert (1879–1942) und der Martha Ert, geborene Olschinski (1881–1942). Beide Eltern stammten aus traditionsreichen Bäckerfamilien. Ihr Vater hatte das Handwerk von Hannis Großvater Emanuel Ert erlernt, der mit seiner Frau Henriette, geborene Meijer, aus den Niederlanden nach Deutschland immigriert war und in Hannover eine auf Lebkuchen spezialisierte Bäckerei eröffnet hatte. Das Ert’sche Honiggebäck, mit dem Emanuel Ert Grossisten belieferte und eigene Stände auf großen Märkten in Deutschland betrieb, erfreute sich bei der Kundschaft großer Beliebtheit.

Martha wiederum war die Tochter des Bäckers Simon Olschinski und dessen Ehefrau Johanna, geborene Glas. Simon hatte für die jüdische Gemeinde Adass Jisroel eine Bäckerei in der Linienstraße eröffnet, die später in Räumlichkeiten in der Neuen Schönhauserstraße 15 umzog. Außerdem leitete er eine Bäckerei im Hinterhof der Grenadierstraße 37 (heutige Almstadtstraße), in der die Backwaren hergestellt wurden. Nach der Hochzeit von Hannis Eltern, zogen diese in eine Wohnung in der Zehdenicker Straße 14 in Mitte, in der zweiten Etage des dortigen Wohnhauses. Hanni war das jüngste Kind des Ehepaares: Zwischen 1911 und 1916 waren ihre Geschwister Hans (*1911), Margot (*1912), Hilde (*1914) und Joachim (*1916) zur Welt gekommen. Zwei weitere Geschwister – Ruth (*1909) und Erwin Emanuel (1918–1920) verstarben im Säuglings- beziehungsweise Kleinkindalter.

Leo Ert begann im Ladenbetrieb seines Schwiegervaters mitzuarbeiten und wurde Mitinhaber. Als sich Hannis Großvater Simon in den Folgejahren aus dem Geschäft immer weiter zurückzog, übernahm Leo die Leitung des Betriebs, dessen Sortiment er um die aus seinem Elternhaus bekannten Honigkuchenerzeugnisse erweiterte. Er führte auch die Tradition des Verkaufs auf Märkten fort: Seine Honigkuchenerzeugnisse, die an großen Verkaufsständen unter anderem in Rostock, Stralsund, Greifswald, Oldenburg, Dresden, Bremen, Bremerhaven und Hamburg verkauft wurden, erfreuten sich ausgesprochener Beliebtheit bei der Kundschaft. Hannis Mutter kümmerte sich um den Haushalt, die Kindeserziehung und half, wo sie konnte. Vor Weihnachten wurde die ganze Familie beim Verkauf und beim Versand von Lebkuchen an die Kunden eingespannt. Am Vorabend des Pessach wurde in der Bäckerei von Mitgliedern der Gemeinde Adass Jisroel Matze gebacken.

Die Erts zählten im Berlin der Weimarer Republik zum gutbürgerlichen Mittelstand: Die Kinder besuchten die Volksschulen, das Schulwerk der Adass Jisroel am Monbijouplatz und andere Lehranstalten. Nach ihrem Schulabschluss begannen die älteren eigene berufliche Wege zu beschreiten: So nahm sich Hannis Bruder Hans eine Wohnung in der Bachstraße 2 und begann in der Metallindustrie tätig zu sein. Die Familie Ert engagierte sich außerdem in der Adass Jisroel und die Kinder waren Mitglieder in der jüdischen Jugendbewegung „Ezra“. Sie besuchten Museen und beteiligten sich an weiteren Aktivitäten der Jugendbewegung. Freunde und Bekannte der Familie trafen sich gerne im Walhalle-Theater am Weinbergsweg, einem Gartencafé mit Tanzsaal und Aufführungen. Sonntags ging es manchmal in den Tiergarten. Ab dem Frühjahr 1927 besuchte Hanni die Volksschule der Adass Jisroel. „Wir waren eine jüdische Berliner Familie, die das Leben liebte“, berichteten Familienmitglieder später: „Jeder hatte Träume und Pläne für die Zukunft. Die Männer spielten Fußball, besonders gerne am Sonntag. Doch seit Ende 1933 war es unserer Familie, so wie allen anderen, nicht mehr möglich, so weiterzumachen. Wir mussten unsere Geschäfte schließen, mussten weg von den Universitäten.“

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Hanni Ert und ihre Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits 1933 war der 10-Jährigen mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ die Chance auf einen höheren Bildungsweg versperrt worden und ein Erlass von 1935 sah eine „möglichst vollständige Rassentrennung“ in Schulen vor. Im Frühjahr 1937 sah sich die vierzehnjährige Hanni verfolgungsbedingt gezwungen, die Schule zu verlassen. Sie begann eine dreijährige Lehre als Modistin im Hutgeschäft Cohn in der Brunnenstraße. Ihre Schwester Margot erinnerte sich später: „Aus Verfolgungsgründen mußte meine Schwester diese Lehre vorzeitig abbrechen; dies war nach meiner Erinnerung Ende des Jahres 1938 oder Anfang 1939. Meine Schwester beschloß nunmehr, auszuwandern und begab sich zur Vorbereitung der Auswanderung in das Umschulungslager. Aus Krankheitsgründen konnte sie dann an dem vorgesehenen Auswanderungstransport nicht teilnehmen, und auch später gelang ihr die Auswanderung nicht mehr.“ Bei dem Lager handelte es sich um das Umschulungs- und Einsatzlager am Grünen Weg in Paderborn, wo sie sich auf die Auswanderung (Hachschara) vorbereitete. Dort befand sich auch ihr Bruder Joachim Ert, dem 1940 die Ausreise mit falschen Papieren über die Schwarzmeerroute gelang und erreichte als Überlebender des Untergangs der SS „Patria“ Haifa. Bereits 1932 war Hannis Schwester Margot, später verheiratete Schneuer, in das britische Mandatsgebiet Palästina emigriert und 1935 hatte sich auch ihre Schwester Hilde, verheiratete Sheeloh, nach Palästina retten können.

Hanni hatte in Paderborn den 1915 in Posen (Poznań) geborenen Gerhard Ruschin kennengelernt und heiratete ihn am 3. April 1940 in Berlin. Beide lebten nach der Hochzeit in der Wohnung der Eltern von Hanni, die sich seit 1932/1933 in der Elsässer Straße 52 in Mitte (heutige Torstraße) befand. In der Vierzimmerwohnung waren zum Zeitpunkt der Volksmeldung im Mai 1939 neben Leo und Martha Ert, Hanni Ert (ab 1940 mit Gerhard Ruschin), Hans Ert, dessen erste Ehefrau Elli Ert, geborene Gimpel, und deren Tochter Vivian Ert (*1938) sowie zwei jüdische Untermieter gemeldet. Hannis Vater hatte seit 1932/1933 seine Handelstätigkeit auf Jahres- und Weihnachtsmärkten nicht mehr ausüben können, da er aus antisemitischen Gründen keine Standlizenzen mehr bekam. In den 1930er-Jahren hatte er sich auf den Engros-Verkauf der in der Grenadierstraße erzeugten Backwaren konzentriert, doch musste er mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ Ende 1938 den Betrieb einstellen und wurde – vermutlich ab Anfang der 1940er-Jahre – zu Zwangsarbeit bei der Städtischen Straßenreinigung in Berlin herangezogen.

Auch Hanni Ruschin und ihr Ehemann mussten Zwangsarbeit leisten: Hanni als Wicklerin im Wernerwerk von „Siemens & Halske“ in der Siemensstadt; Gerhard als Zwangsarbeiter im Barackenbau bei einem Unternehmen „Willi Müller“. Hans Ert, der ab 1940 Zwangsarbeiter bei Siemens war, ging 1942 in die Illegalität und lebte zwei Jahre lang untergetaucht in Berlin, bevor ihm 1944 die Flucht mit falschen Papieren nach Italien gelang.

Spätestens ab den 1940er-Jahren war das Leben für die Familienmitglieder Ert in Berlin zum reinen Existenzkampf geworden. Gesetze und Sondererlasse hatten sie zu Rechtlosen im eigenen Land gemacht. So konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ ab dem 19. des Monats nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ ihrer Schutzbefohlenen beginnen würde. Hanni und Gerhard Ruschin sowie Leo und Martha Ert erhielten den Deportationsbescheid im Winter 1942. Sie wurden im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 interniert und von dort aus am 9. Dezember 1942 mit dem „24. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Leo und Martha sind vermutlich unmittelbar nach der Ankunft des Transports in Auschwitz ermordet worden. Die 20-jährige Hanni Ruschin und der sieben Jahre ältere Gerhard sind entweder sofort ermordet oder zunächst als Häftlinge in das Lager selektiert und später ermordet worden. In jedem Fall gehörten alle vier nicht zu den wenigen Überlebenden von Auschwitz. Hannis Schwestern Margot Schneuer, und Hilde Sheeloh, überlebten genauso wie ihr Bruder Joachim die NS-Verfolgung im Exil in Palästina; ihr Bruder Hans in Mailand.