Dora Wolff geb. Karo

Verlegeort
Krefelder Straße 21
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
12. September 2016
Geboren
06. Juni 1880 in Gromaden / Gromadno
Deportation
am 14. November 1941 nach Minsk
Ermordet

Dora Karo wurde am 6. Juni 1880 im damals preußischen Gromaden (dem heutigen Gromadno in Polen), etwa 60 Kilometer westlich von Bromberg (Bydgoszcz) gelegen, geboren. Sie war die Tochter des Gastwirts Markus Karo (1847–1927) und von dessen Ehefrau Henriette Karo, geborene Schlochauer (1847–1934). Ihr Vater stammte ursprünglich aus Welschenburg (Oleszno); ihre Mutter aus Krone an der Brahe (Koronowo). Im Januar 1875 hatten Doras Eltern in Krone an der Brahe geheiratet und sich zuerst in Exin (Kcynia) niedergelassen, wo im November desselben Jahres Doras ältester Bruder Hugo Karo geboren wurde und sind dann nach Gromaden gezogen. Bis in die 1890er-Jahre kamen in Gromaden vier weitere Geschwister von Dora zur Welt: Ihre Brüder Eduard und Max Karo 1882 und 1885 sowie Richard und Bertha Karo 1890 und 1894. Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Dora und ihren Geschwistern in Gromaden während der Kaiserzeit haben sich keine weiteren Quellen erhalten. Ihre Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde der Ortschaft.

Im November 1904 heiratete die 24-jährige Dora den aus Schubin (Szubin) stammenden Viehhändler und Fleischermeister Marcus Wolff. Der 1879 geborene Marcus war der Sohn des Fleischermeisters Salomon Wolff und dessen Frau Maria, geborene Wrzezinska. Nach der Geburt ihrer Tochter Martha 1905, zog das Ehepaar Wolff nach Nakel an der Netze, dem heutigen Nakło nad Notecią, das etwa 30 Kilometer westlich von Bromberg liegt. Dort wurden 1907 und 1909 ihre Töchter Hildegard und Selma Wolff geboren. Die Familie lebte in einer Wohnung in der Petersilienstraße 62 (heutige ul. Długa) am Rande der Stadt. In Nakel existierte neben einer Synagoge seit 1844 auch eine jüdische Elementarschule, die Doras Töchter möglicherweise besucht haben, bevor die Familie nach Berlin übersiedelte.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Nakel gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages polnisch, woraufhin ein Teil der Einwohnerschaft den Ort verließ. Die Eheleute Wolff zogen mit ihren drei Töchtern im Jahr 1921 in die Hauptstadt um, wo Marcus Wolff in der Krefelder Straße in Moabit ein Fleischerfachgeschäft eröffnete. Später betrieb er außerdem einen Verkaufsstand in der Arminiusmarkthalle in Moabit. Die Wolffs lebten in Berlin zuerst in der Jagowstraße 43 im Westfälischen Viertel und zogen 1926/1927 in eine neue Wohnung in der ersten Etage des Hinterhauses Krefelder Straße 21. Als Inhaber einer Fleischerei dürften die Wolffs im Berlin der Weimarer Republik zur gutbürgerlichen Mittelschicht gezählt haben. Besonderen Augenmerk scheint das Ehepaar auf die Ausbildung ihrer Töchter gelegt zu haben. So besuchte Hildegard nach der Volksschule eine Töchterschule in Berlin, absolvierte anschließend eine Ausbildung zur Buchhalterin und war beim Damenkonfektionär „Moses & Schlochauer“ am Hausvogteiplatz beschäftigt. Zuletzt nahm sie eine Stelle bei einem Elektronenröhrenunternehmen in der Sickingenstraße an. Martha Wolff war nach ihrer Schulausbildung als Sozialfürsorgerin tätig. Leider haben sich keine weiteren Quellen zum Familienleben im Berlin der Weimarer Republik erhalten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Dora Wolff und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden und Anfang der 1930er-Jahre hatte die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zugenommen. Ab 1933 institutionalisierte sich der Antisemitismus mit Hilfe staatlicher Autorität. Gesetze und Sondererlasse drängten die Angehörigen der Familie Wolff zunehmend in die Position von Rechtlosen. Seit 1933 waren die Wolffs außerdem als Geschäftsinhaber von den antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen im Juni und November 1938 in Berlin erfuhren.

Wie ihre Tochter Martha Wolff später angab, wurde Marcus Wolffs Schlächterei in der Arminiushalle – mit zwei Verkaufsständen, einem modern eingerichteten Betrieb samt Kühlanlage, Industriewaagen und Registrierkassen – während der Novemberpogrome vollständig zerstört und Marcus Wolff musste das Geschäft in der Folge zwangsweise aufgeben. Mehreren Verwandten von Dora gelang es in den 1930er-Jahren, Deutschland zu verlassen: Ihre Tochter Martha konnte mit ihrem Ehemann Julius David Goldschmidt 1939 nach England ausreisen. Eduard, ihr Bruder, war mit seiner Ehefrau Eva, geborene Rumjanek (1880–1946), und den Kindern bereits 1934 in das britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert. Max Karo verließ Deutschland 1939 und lebte später in den USA. Richard Karo und seine Ehefrau Gertrud, geborene Prinz (1893–1962), flüchteten ebenfalls in die USA. Ob auch Dora und Marcus Wolff in den 1930er-Jahren Pläne verfolgten, aus Deutschland zu entkommen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese.

Spätestens Anfang der 1940er-Jahre war das Leben für Dora und Marcus in Berlin zum reinen Existenzkampf geworden. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ vom 19. des Monats an nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Nach der erzwungenen Aufgabe der Fleischerei wurde Marcus Wolff in den Berliner Adressbüchern noch als Pfleger (1939) und Haushaltsgehilfe (1940 und 1941) in der Schwäbischen Straße 9 geführt. Es ist recht wahrscheinlich, dass es sich bei den bekleideten Stellen um Zwangsarbeit gehandelt hat.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Jüdinnen und Juden beginnen würde. Das Ehepaar Wolff erhielt den Deportationsbescheid noch im Winter 1941. Sie mussten ihre langjährige Wohnung in der Krefelder Straße 21 verlassen und wurden in einem der Berliner Sammellager interniert. Von dort schrieb Marcus Wolff am 13. November 1941 noch eine kleine Karte – zehn Zeilen – an seine „lieben Kinder“. Er teilte ihnen mit den wenigen Worten, die ihm erlaubt waren, mit, dass es ihm und Dora soweit gut gehe, aber alles Geld abgenommen worden sei. Am nächsten Morgen, einem Freitag, erwarteten sie die Deportation mit unklarem Ziel – gerüchteweise in das nicht lange zuvor eingenommene Riga (heutiges Lettland). Im Sammellager wären sie auf einige Bekannte getroffen, wie die Rosenzweigs. Er riet seinen Kindern vorsichtig zu bleiben und schloss mit den Worten „Lebet Wohl alles Gute Grüße Marcus“. Es war das letzte Lebenszeichen, dass die Kinder von Dora und Marcus erhielten. Vom Sammellager aus wurden sie am 14. November 1941 mit dem „V. Transport“ in das Ghetto Minsk deportiert und entweder dort oder zu einem späteren Zeitpunkt in einem der Vernichtungslager ermordet. Beide Ehepartner gehörten in jedem Fall nicht zu den wenigen Überlebenden des Minsker Ghettos. Dora war zum Zeitpunkt der Deportation 61 Jahre alt; ihr Ehemann Marcus ein Jahr älter.

Ihre Tochter Selma, die nach NS-Terminologie in „privilegierter Mischehe“ lebte, überlebte die Verfolgung mit ihrem Ehemann Kurt Grzywna und ihrem Sohn Wolfgang in Berlin. Martha überlebte mit ihrem Ehemann im Exil in England. Doras Tochter Hildegard, ihr Ehemann Hans Preuss (*1906) und ihr Sohn Joachim Michael Preuss (*1936) wurden im Februar 1943 aus Berlin in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Doras Bruder Eduard lebte mit seiner Familie bis zu seinem Tod 1944 im britischen Mandatsgebiet Palästina; ihre Brüder Max und Richard im Exil in den USA. Sowohl Hugo Karo als auch Bertha und ihr damaliger Ehemann Siegmund Manasse (*1871) wurden 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Alle drei erlebten die Befreiung des Ghettos durch die Rote Armee im Mai 1945. Hugo sollte später in den USA leben, genauso wie Bertha, die dort in dritter Ehe den über Shanghai geflohenen Adolf Jakobsberg (*1890) heiratete. Berthas erster Ehemann, Siegfried Jeruchem (*1891) war 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Ein Sohn aus dieser Ehe, der 1919 in Nakel geborene Leo Jeruchem, überlebte die NS-Verfolgung im Exil in den USA.