Gastbeitrag: Stolpersteine in der Ukraine

Das Projekt Stolpersteine in der Ukraine
Über die Erfahrung des Gedenkens an die Holocaust-Opfer in der modernen Ukraine


von Dr. Anatolii Podolskyi (Leiter des Ukrainischen Zentrums für Holocaust-Studien, Kyjiw)
www.holocaust.kiev.ua


Stolpersteine sind ein internationales Projekt zum Gedenken an die Opfer, die zwischen 1933 und 1945 durch das nationalsozialistische Verbrecherregime verfolgt und in den meisten Fällen ermordet wurden. Es wurde Mitte der 1990er-Jahre in Deutschland von dem deutschen Künstler Gunter Demnig initiiert – also schon vor über 25 Jahren. Die Idee besteht darin, am letzten frei gewählten Wohnort einer verfolgten Person einen „Gedenkstein“ in den Gehweg einzulassen. Der Name der Person und die wichtigsten Lebensdaten, wie Geburts- und Todesjahr, Datum der Verhaftung oder Deportation, sind auf einer Messingplatte an der Oberfläche eingraviert. Die Passanten „stolpern“, metaphorisch gesprochen, über diesen Gedenkstein und können einen Moment innehalten, um an die Person zu denken, die früher dort lebte. Das soll ein Gefühl der Nähe hervorrufen, als ob man dieser Person wirklich „begegnen“ und die schrecklichen Zeiten erleben würde, in denen sie lebte und starb.

Das Projekt Stolpersteine ist in zahlreichen Städten in Deutschland und Europa verankert. Stolpersteine werden zum Gedenken an die Juden Europas, Holocaust-Opfer sowie an Sinti und Roma, Menschen aus dem politischen und religiösen Widerstand, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Opfer der „Euthanasie“ oder „Asoziale“ verlegt.

In der Ukraine wurden erstmals 2009 in der kleinen, alten Stadt Perejaslaw-Chmelnyzkyj, die etwa 100 km östlich von Kiew entfernt liegt, Stolpersteine verlegt. Dies geschah auf Initiative der örtlichen Vertreter der internationalen Nichtregierungsorganisation „Internationale Stiftung für gegenseitiges Verständnis und Toleranz (International Foundation for Mutual Understanding and Tolerance)“. Zwischen 2009 und 2017 wurden in der Stadt neun Stolpersteine für die Opfer der nationalsozialistischen Besetzung der Ukraine und die Holocaust-Opfer verlegt.

Die ersten vier Steine erinnern an die hingerichtete Ester Dikinstein, Direktorin einer jüdischen Schule, an Jefrossynija Passazka und Tatjana Trochymenko, zwei junge Frauen, die die bei der Zwangsarbeit in Deutschland ermordet wurden, und an die Lehrerin Marija Jakiwez, die wegen ihrer Verbindungen zu Partisanen in Perejaslaw gefoltert wurde.

Seit November 2011 erinnern zwei weitere Stolpersteine an den Chemielehrer der örtlichen Schule, den Juden Yakiw Biloschyzkyj, und den Untergrundarzt Hryhorij Bjeljajew. Die beiden Männer retteten Menschen in der Stadt vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Im Juli 2017 wurden drei Stolpersteine zum Gedenken an die jüdischen Einwohner von Perejaslaw verlegt: Lejwyk Hechtman, Marija Falkowska und den neugeborenen Jungen Jossyp Liwschyz, die 1941 in Babyn Jar in Perejaslaw erschossen wurden. Stolpersteine wurden auch in der Nähe der ehemaligen Synagoge verlegt.

Die nächste Stadt in der Ukraine, die sich für Stolpersteine engagierte, war die alte Wolhynien-Stadt Riwne, die mehr als 300 km westlich von Kiew liegt. Am 26. Juli 2018 wurden in Riwne fünf Stolpersteine in das Pflaster eingelassen für Menschen, die Opfer der deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs wurden: Wolodymyr Myssetschko (ein orthodoxer Priester, der sich weigerte, mit den Nazis zusammenzuarbeiten), Jakiw Suchenko (Gerechter unter den Völkern), Susanna Hintschanka (eine polnische Dichterin jüdischer Herkunft) sowie Jakiw und Rachel Krulyk (eine jüdische Familie, Vater und seine junge Tochter).

In Riwne hat eine öffentliche, wissenschaftlich-pädagogische Organisation, das Zentrum „Mnemonika“, die sich mit der Kultur und Politik des Gedenkens an die Opfer des Totalitarismus befasst, die Initiative zur Verlegung von Stolpersteinen ergriffen. „Mnemonika“ stiftete die Herstellung von vier Stolpersteinen; die Herstellung des fünften – für die polnische Dichterin Susanna Hintschanka – wurde von der deutschen Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Jutta Lindenkugel finanziert. An einem sonnigen Tag sind die Messingsteine zwischen den Pflastersteinen besonders gut erkennbar. „Wir sind daran gewöhnt, dass die meisten Denkmäler oben stehen, aber diese Denkmäler sind im Boden eingelassen und zwingen uns, uns zu bücken, um uns an die Menschen zu erinnern, die einst durch dieselben Straßen gingen“, sagt der bekannte ukrainische Historiker und Leiter von „Mnemonika“, Professor Maxym Gon.

In einer der berühmtesten historischen und kulturellen Städte der Ukraine, Tscherniwzi (Czernowitz), in der Nordbukowina etwa 600 Kilometer westlich von Kiew gelegen, wurde am 6. Juli 2021 eine „Stolperschwelle“ zum 80. Jahrestages des Beginns des Holocaust in der Bukowina eingeweiht. Diese „Stolperschwelle“ erinnert an die Juden von Tscherniwzi, die 1942 aus dem Stadion „Makkabi“ deportiert wurden. In dieser Stadt gibt es bisher keine Stolpersteine, aber hier wurde die erste „Stolperschwelle“ in der Ukraine verlegt. Einer der heimischen Initiatoren für die Errichtung eines solchen Gedenkzeichens war das Museum der Geschichte und Kultur der Juden in der Bukowina, insbesondere sein Direktor, der ukrainische Historiker Mykola Kuschnir. Er erläuterte die Idee der Verlegung der „Stolperschwelle“ in Tscherniwzi: „Wenn man nicht nur einer einzelnen Person, sondern eines Ereignisses, das viele Leute betroffen hat, gedenken will, wird anstelle von Stolpersteinen eine „Stolperschwelle“ verlegt – eine schmale, bis zu 40 Zentimeter lange Platte aus Kupfer oder Bronze mit einer entsprechenden Inschrift“.

Ende Juni 1942 hatten die rumänischen Besatzer an diesem Ort (dem Stadion „Makkabi“) mehrere tausend Juden aus Tscherniwzi für die zweite Deportationswelle nach Transnistrien gesammelt. Wie sich herausstellte, befanden sich unter den von dort Deportierten Zelma Meerbaum-Eisinger, die Eltern von Paul Celan und Peter Demant und viele andere, leider unbekannte Einwohner von Tscherniwzi. Nach Ansicht von Mykola Kuschnir haben die Besatzungsbehörden den ehemaligen Sportkomplex „Makkabi“ nicht zufällig als Durchgangslager ausgewählt. Er war weit vom Stadtzentrum entfernt, daher gab es keine unerwünschte Aufmerksamkeit, und da sich in der Nähe eine Eisenbahnlinie befand, konnten die Deportierten schnell an den Bestimmungsort gebracht werden. Dank dieses Gedenkzeichens kehrt der Ort in das kollektive Gedächtnis der Stadtbevölkerung zurück. Der Stadtrat von Tscherniwzi und die Gemeinde Lübeck haben durch Spendensammeln zur Verlegung der „Stolperschwelle“ beigetragen.

Seit 2021 liegen schließlich auch in Kyjiw (Kiew), der Hauptstadt der Ukraine, Stolpersteine. Vom 30. September bis zum 8. Oktober 2021 wurden zum 80. Jahrestag der Tragödie von Babyn Jar, zum Gedenken an die NS-Opfer während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besetzung der Stadt, zehn Stolpersteine verlegt. Diese Gedenkveranstaltung wurde den Kiewern, Juden und Nichtjuden, gewidmet, die von den Nazi-Besatzern ermordet wurden, denjenigen, die überlebt haben, und auch denjenigen, die das Leben anderer gerettet haben.

Dem Engagement des deutsch-ukrainischen Forschungs- und Bildungsprojekts „Ein Stein, ein Leben – 80 Stolpersteine für Kyjiw“ ist es zu verdanken, dass diese Stolpersteine verlegt wurden. Zwei Institutionen, das Ukrainische Zentrum für Holocaust-Studien und die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine, führten mit Unterstützung der Kiewer Stadtverwaltung das Projekt durch. Ziel war es, den Bürger*innen von Kiew eine tägliche „Begegnung“ mit den Menschen zu ermöglichen, die während der Besetzung der Stadt durch die Nationalsozialisten um Leben kamen oder unter deren Verfolgung litten. Diese Erinnerung soll in den städtischen Raum von Kyjiw verankert werden. An dem Projekt beteiligten sich sowohl Privatpersonen als auch Vertreter von Bildungseinrichtungen und öffentlichen Organisationen. Die Teilnehmerteams setzten sich aus Lehrkräften, Schüler*innen und Studierenden aus Bildungseinrichtungen der Ukraine zusammen, die den Wunsch hatten, an dem Projekt mitzuarbeiten und vom Ukrainischen Zentrum für Holocaust-Studien dafür ausgewählt wurden. Sie recherchierten unter anderem die Biografien der ermordeten Menschen, besuchten Bildungsveranstaltungen zur Geschichte von Babyn Jar und zur historischen Bedeutung dieses Ortes. Dementsprechend wurde das Projekt in Kyjiw nicht nur ein Gedenk-, sondern auch ein Bildungsprojekt.

Nach der Verlegung der ersten zehn Stolpersteine im Herbst 2021 soll die Arbeit fortgesetzt werden, 70 weitere Stolpersteine sind noch zu verlegen. Am Ende des Projektes werden auf der Karte von Kyjiw achtzig Namen von NS-Opfern zu sehen sein, deren Andenken für immer in der ukrainischen Hauptstadt verewigt sein wird. Außerdem hat das Projektteam eine offizielle Website eingerichtet, auf der alle Informationen und Biografien der Kiewer, deren im Rahmen des Projekts „Ein Stein, ein Leben – 80 Stolpersteine für Kyjiw“ gedacht wird, bereits online verfügbar sind: http: //kyivstones.org/

Hier sind die Namen derjenigen, denen die ersten zehn Stolpersteine in Kiew gewidmet wurden:

An die Juden, die in Babyn Jar umgekommen sind:
Dina Lewina, Yakiv Wynokur, Liudmyla Tkatsch, Georg Brief (hatte eine jüdische Ehefrau), Rahil Kozyra, Ida Zeitlin

An die Überlebenden:
Vasyl Myhailowsky, Dina Pronitschewa, Raisa Maystrenko

An den Gerechten unter den Völkern
Pfarrer Olexander Wyschnjakow

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Ukraine bereits 24 Stolpersteine in drei Städten des Landes verlegt wurden: Perejaslaw-Chmelnyzkyj, Riwne und Kyjiw. In Tscherniwzi gibt es eine „Stolperschwelle“. Diese Form des Gedenkens an die Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust verbreitet sich allmählich und wird in der Ukraine immer beliebter. Die Umsetzung des Projektes ist den Initiativen ukrainischer nichtstaatlicher Wissenschafts- und Bildungsorganisationen und dem Beitrag der deutschen Partner, vor allem der Stiftung Stolpersteine und dem Projektgründer, Herrn Gunter Demnig, zu verdanken, der die Verlegung der Stolpersteine in unserem Land genehmigt und unterstützt hat. Der Weg des Projekts in der Ukraine begann im Jahr 2009 und dauert bis heute an. Trotz bürokratischer Hürden, über die die Initiatoren berichtet haben, wurde die Verlegung von Stolpersteinen überall von den Gemeinden und Stadtverwaltungen unterstützt. Wir sind optimistisch und glauben daran, dass ein solches Gedenkprojekt in der Ukraine eine große Zukunft hat, weil nicht nur Nichtregierungsorganisationen und Enthusiasten, sondern auch lokale und zentrale Behörden der Ukraine bereits an dem Projekt beteiligt sind. Die Verlegung von Stolpersteinen ist schließlich Entscheidung und Forderung der ukrainischen Gesellschaft.

Kommentar zum Gastbeitrag von Peter Wetzel M.A. (Geschichtswerkstatt Merseburg-Saalekreis e.V. www.geschichtswerkstatt-merseburg…):

"Der Autor verweist in seinem Artikel auf die ersten drei Verlegungen 2009, 2010 und 2017 in der Stadt Perejaslaw-Chmelnyzkyj. Was in dem Artikel leider nicht zur Erwähnung kommt ist, dass es sich hier um ein internationales Erinnerungsprojekt handelte. Die NGO aus Perejaslaw-Chmelnyzkyj kooperierte seit 2009 mit der Geschichtswerkstatt Merseburg-Saalekreis e.V., einem Verein aus Sachsen-Anhalt. Vermittelt hatte diesen Kontakt die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ). Im Rahmen von insgesamt sieben Internationalen Jugendcamps begegneten ukrainische und deutsche (aber auch polnische, niederländische, russische) Jugendliche Zeitzeugen aus beiden Ländern einander.
Beim Erstkontakt in Merseburg 2008 waren die ukrainischen Partner von der Projektkonzeption „Stolperstein“ sofort begeistert. Es wurde vereinbart, dass in den Archiven der Stadt Perejaslaw-Chmelnyzkyj mit Genehmigung der Stadtverwaltung recherchiert wird, um Personen für eine erste Verlegeaktion zu finden. Mit großer Öffentlichkeit wurden die ersten vier Stolpersteine durch Gunter Demnig verlegt. Jugendliche aus einer lokalen Schule übernahmen die Patenschaft. Finanziert wurden diese Steine durch Spenden der deutschen NGO, die durch Jugendliche gesammelt wurden. Auch die folgenden Steinverlegungen hatten das gleiche Projektkonzept. Recherche und Genehmigungen in Perejaslaw-Chmelnyzkyj, Organisation einer bilateralen Jugendbegegnung und Verlegungsaktion, Finanzierung durch die Partnerorganisation. Die Verlegung der drei Steine 2017 war der Erinnerung an den lokalen Holocaust in Perejaslaw-Chmelnyzkyj widmet. Bei der Recherche war das Jüdische Kulturbüro der Stadt ein ganz wertvoller Partner. Die Gruppen aus Perejaslaw-Chmelnyzkyj und Sachsen-Anhalt verknüpften diese Verlegung dann auch mit Rekultivierungsarbeiten an der Erschießungs-stelle auf dem Friedhof, an welcher ca. 800 jüdische Menschen von den Einsatzgruppen ermordet wurden.
Diese neun Stolpersteine in unserer befreundeten Stadt sind seitdem ein Zeichen des gemeinsamen Gedenkens an die Zeit nationalsozialistischer Besatzung. Aber auch ein Symbol für unser gemeinsames Engagement für Demokratie und Versöhnung unserer Völker.
In der Zeit der Aggression Russlands gegen das Volk der Ukraine hat unsere deutsche NGO mit Spenden überlebenden Zeitzeugen helfen können. Unsere Partnerschaft ist lebendig, auch durch und mit den Stolpersteinen."