Charlotte Gabriel

Verlegeort
Köpenicker Str. 39
Bezirk/Ortsteil
Mitte
Verlegedatum
Mai 2018
Geboren
18. Februar 1896 in Berlin
Verhaftet
1939 im Arbeitshaus Lichtenburg
Deportation
am 29. November 1942 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Charlotte Gabriel wurde am 18. Februar 1896 in der Berliner Charité geboren. Ihre Eltern waren Lina Gabriel, geborene Freiberg, und der Kürschner Adolf Gabriel, die zur Zeit der Geburt ihrer Tochter in der Amalienstraße 8 (der heutigen Rosa-Luxemburg-Straße) in Berlin-Mitte wohnten. Zwei Jahre später zog die kleine Familie in eine Wohnung in der zweiten Etage der Weydingerstraße 2, die ebenfalls im damaligen Scheunenviertel lag. Über die Kindheit, Jugend und Ausbildung von Charlotte Gabriel im Berlin der ausgehenden Kaiserzeit haben sich keine Informationen erhalten – auch nicht, ob sie möglicherweise noch Geschwister hatte. Ihre Eltern gehörten aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde Berlins.

Für Charlotte bot das Aufwachsen in dem bunten und quirligen Quartier der Spandauer Vorstadt sicher zahlreiche Gelegenheiten für Erfahrungen und Erlebnisse. Der Kiez rund um den Hackeschen Markt war seit dem 18. Jahrhundert das Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin. In der Zeit kurz vor und um die Jahrhundertwende hatte die Hauptstadt im Rahmen von Landflucht und als Zwischenstation von Überseemigration einen starken Zustrom an Menschen aus den ländlichen Regionen erfahren. Viele Neuankömmlinge fanden in den kleinteiligen Altbauten des Scheunenviertels eine erste Bleibe. Ob auch die Gabriels zu den Neuberlinern dieser Zeit gehörten, bleibt genauso im Bereich der Spekulation, wie die Frage, inwieweit sie von den drängenden Problemen grassierender Armut im Kiez dieser Zeit berührt waren. Als Kürschner dürfte Adolf Gabriel zur unteren bis mittleren Einkommensschicht im Scheunenviertel gehört haben. 1906/1907 beschloss der Magistrat eine Umgestaltung des Quartiers, die mit dem Abriss vieler Gebäude insbesondere rund um den heutigen Rosa-Luxemburg-Platz verbunden war. Die Gabriels zogen im Folgejahr um, in eine Wohnung im Winsviertel in der Mülhausener Straße 2 (heutige Mülhauser Straße), wo sie zumindest bis zum Ende des Krieges 1918/1919 wohnen blieben. Hier mussten sie auch die Ausschreitungen miterleben, mit denen am 5. November 1923 das Scheunenviertel zum Ziel antisemitischer Pogrome wurde.

In den Berliner Adressbüchern wird Adolf Gabriel ab 1925 als Rentenempfänger in der Mülhausener Straße 3/4 geführt und ein letzter Eintrag findet sich an dieser Adresse zu Charlotte Gabriel im Jüdischen Adressbuch 1931/1932, so dass davon ausgegangen werden muss, dass ihr Vater in diesen Jahren verstarb. Zum Schicksal ihrer Mutter gibt es keine Quellen – und auch nicht zur Adresse von Charlotte Gabriel in der Folgezeit, was darauf hindeutet, dass sie zur Untermiete wohnte. Am 23. Mai 1926 kam Charlottes erstes Kind in der Berliner Charité zur Welt, ihre Tochter Lieselotte Gabriel – Lilo genannt – eineinhalb Jahre später folgte am 6. Dezember 1927 ihr Sohn Harry Gabriel, den sie im Rudolf-Virchow-Krankenhaus im Wedding entband. Charlotte blieb unverheiratet, der Vater der Kinder unbekannt. Harry Gabriel wird später angeben, dass er seinen leiblichen Vater nie kennengelernt hat und dieser auch nicht zum Einkommen der Familie beigetragen hat. Unter welchen konkreten Umständen Charlotte Gabriel den Entschluss fasste, ihre Kinder ins Waisenhaus zu geben, bleibt uns verschlossen, bis zuletzt war sie aber bemüht, ihren Sohn Harry zu unterstützen. Für ihre Tochter Lieselotte darf man das gleiche annehmen. Harry Gabriel kam in das Städtische Waisenhaus in der Alten Jakobstraße in Kreuzberg, bis er mit zwei bis drei Jahren, also um 1930, von Willy und Eliese Redlich als Pflegekind aufgenommen wurde. Willy Redlich arbeitete in der Hermsdorfer Synagoge des Jüdischen Religionsvereins für die nördlichen Vororte (heute Falkentaler Steig 16 in Hermsdorf) als Hausmeister und hatte hier eine angrenzende Wohnung, wo Harry lebte und nach Zeugnis von Willy Redlich im jüdischen Glauben erzogen wurde. Lieselotte Gabriel wuchs wohl im Auerbach´schen Waisenhaus in der Schönhauser Allee 162a auf, jedenfalls ist das ihre letzte Adresse in Berlin.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch Zwangsmaßnahmen gegen die Gabriels. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Bildungs- und Berufsleben. Durch die Maßnahmen im Bildungswesen wurden den antisemitischen Anfeindungen durch Mitschüler und Lehrer, denen sich jüdische Schüler regelmäßig ausgesetzt sahen, auch rechtlich Vorschub geleistet. So sah ein Erlass von 1935 eine „möglichst vollständige Rassentrennung“ durch die „Einrichtung gesonderter jüdischer Schulen“ vor. Harry Gabriel besuchte bis Ostern 1942 eine Volksschule, laut seiner Erinnerung in der Choriner Straße 8. Er wollte ursprünglich nach dem Schulabschluss eine Ausbildung zum Schlosser machen.

Zum Zeitpunkt der Volkszählung im Mai 1939 befand sich Charlotte Gabriel in Haft in Rummelsburg, dem damals so genannten „Städtischen Arbeits- und Bewahrungshaus Berlin-Lichtenberg“. Aus den erhaltenen Quellen geht nicht hervor, aus welchem Grund und für wie lange Charlotte in dem von den Nationalsozialisten ausgebauten Arbeitslager interniert war. Möglicherweise war sie im Zuge der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ 1938 inhaftiert worden: Männer waren dabei in der Regel im Zusammenhang mit Verfehlungen in ihrem Arbeitsverhalten verfolgt worden, bei Frauen dominierte der Vorwurf des Fehlverhaltens im Sexual- und Familienleben. In den Jahren zwischen 1939 und 1941 muss Charlotte Gabriel aus der Haft entlassen worden sein und anschließend zur Untermiete in einer Wohnung in der Köpenicker Straße 39 gewohnt haben – wie aus einer Karteikarte der „Vermögensverwertungsstelle“ des Oberfinanzpräsidiums Berlin hervorgeht. Mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ konnten sie und ihre beiden Kinder sich nur noch mit dem stigmatisierenden „Judenstern“ in Berlin bewegen – auch zu ihrem Arbeitsplatz bei einem nicht mehr näher bestimmbaren Berliner Betrieb, für den sie ab November 1941 Zwangsarbeit verrichten musste.

Der damals 14-jährige Harry Gabriel musste nach seiner Schulentlassung im April 1942 Zwangsarbeit bei der Wäscherei und chemischen Reinigung „Gubeler & Krause“ in der Frankfurter Allee 135 in Lichtenberg leisten. Von hier aus unternahm er einen Fluchtversuch und schrieb dazu später: „Im August 1942 versuchte ich illegal über die Grenze nach Dänemark zu kommen; wurde gefaßt, nach Berlin [gebracht] und im Polizeigefängnis Alexanderplatz einen Monat festgehalten. Dem Transport nach Polen entzog ich mich durch einen Sprung aus dem Zug.“ Harry Gabriels Name ist in der Transportliste des so genannten „20. Osttransports“ erfasst, der aus Frankfurt am Main kommend am 26. September 1942 den Güterbahnhof Moabit verließ und in welchem insgesamt 1043 Menschen nach Raasiku bei Reval deportiert worden sind. Lange Zeit galt Harry Gabriel als einer der Opfer dieses Transports, von dem man bislang annahm, dass nur 25 Personen dieses Transportes die Deportation und den Krieg überlebten.

Nach der halsbrecherisch geglückten Flucht aus dem Güterzug, schlug sich Harry Gabriel zurück nach Berlin durch, wo er sich drei Tage in der Wohnung seiner Pflegeeltern in Hermsdorf versteckte. Anfang Oktober floh er aus Berlin in Richtung Süden, am 19. November 1942 gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Bis Kriegsende war Harry Gabriel in schweizerischen Lagern interniert.

Am 29. November 1942 wurde die 46-jährige Charlotte Gabriel mit dem „23. Osttransport“ aus Berlin nach Auschwitz deportiert. In dem gleichen Transport, mit dem insgesamt 1001 Personen deportiert worden waren, befand sich auch – als eines der 75 deportierten Kinder und Jugendlichen des Baruch-Auerbach´schen Waisenhauses – ihre damals 17-jährige Tochter Lilo. Beide Frauen gehörten nicht zu den wenigen Überlebenden von Auschwitz. Sie wurden vermutlich bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft im Vernichtungslager am 30. November 1942 ermordet.

Harry Gabriel gelangte nach dem Krieg Anfang 1946 über Italien nach Palästina, wo er sich nach einmonatiger Internierung durch die Engländer im Lager Athlith dem Kibbuz Kiryat Anavim westlich von Jerusalem anschloss. Er änderte seinen Namen in Arieh Gabriel, schloss im Juni 1948 eine landwirtschaftliche Ausbildung ab, ließ sich mit seiner Ehefrau im Kibbuz nieder und wurde Vater mindestens dreier Kinder.