Gerd Wollmann geb. Berlin

Verlegeort
Niebuhrstraße 71
Bezirk/Ortsteil
Wilmersdorf
Verlegedatum
24. März 2023
Geboren
09. November 1929 in Berlin
Flucht
1938 USA
Überlebt

Gerd Wollmann wohnte mit seinen Eltern Bruno Wollmann und Hildegard, geb. Graupe in der Niebuhrstraße 71. Gerd wurde am 9. November 1929 in Berlin geboren. Er erzählt 93jährig:
Wir waren eine der glücklichen Familien in Berlin, die dem Holocaust entkamen. 1938 erkannte mein Vater, was mit den Juden in Deutschland geschah und wie düster die Zukunft für unsere Familie war. Die Nazis hatten Zwangsbeschränkungen verhängt, mit unüberwindlichen Schwierigkeiten für jüdische Geschäftsinhaber wie meine Eltern. Im Alter von 8 Jahren wurde mir der Besuch einer öffentlichen Schule in Berlin verboten, weil ich Jude war. Wir sahen keine Möglichkeit zu entkommen, keinen Ort, an den wir gehen konnten. Dann erinnerte sich mein Vater an den entfernten Cousin meiner Mutter, der in Pasadena, Kalifornien lebte. Es war eine winzige Hoffnung, denn es bedeutete, dass Cousin Baldwin voll und ganz für uns verantwortlich sein würde. Meine Eltern waren überrascht, erleichtert und dann begeistert, als Baldwin antwortete: „Warum hast du so lange gebraucht?“

In späteren Jahren kamen mir jedes Mal die Tränen, wenn mein Vater diese Geschichte erzählte. Wir baten Oma Lina, mit der wir sehr eng verbunden waren, mit uns zu gehen. Traurig antwortete sie: „Einen alten Baum kann man nicht umpflanzen.“ Wir verließen Berlin am 8. November 1938, einen Tag vor der Reichspogromnacht, und kamen am 9. November 1938 in Paris an, was zufällig mein 9. Geburtstag war. Erst hinterher habe ich erkannt, dass wir nur knapp dem sicheren Tod entkommen sind, vielleicht nur um einen Tag. Nachdem wir uns von meiner Tante verabschiedet hatten, die in Paris lebte (bis sie vor dem Ansturm der Nazis fliehen musste), nahmen wir einen niederländischen Frachter aus Rotterdam. Es dauerte 6 Wochen, bis wir in Los Angeles waren, mit vielen Stopps, einschließlich des Panamakanals.

Wir versuchten verzweifelt, aber leider vergeblich, mit Oma Lina in Kontakt zu bleiben. Schließlich erhielten wir vom Roten Kreuz die Nachricht, dass sie vier Jahre nach unserer Abreise von Berlin nach Theresienstadt deportiert worden war und dort gestorben ist. Wir waren am Boden zerstört.

Meine Eltern lebten den Rest ihres Lebens als deutsche Flüchtlinge wie Transplantate. Sie sprachen immer Deutsch miteinander, kochten deutsches Essen, sprachen Englisch mit starkem Akzent und hatten einen Kreis deutsch-jüdischer Freunde in Los Angeles. Ich bin als Einzelkind aufgewachsen. Meine Eltern kämpften mit ihrem neuen Leben, und mein Vater schaffte es, mit dem Import europäischer Lebensmittel über die Runden zu kommen. Ich war entschlossen, so schnell wie möglich „amerikanisch“ zu werden. Ich weigerte mich, die kurze Hose zu tragen, die ich in Berlin getragen hatte, und verlor jeden Anflug von deutschem Akzent. Nur mein Name Gerd verrät meine deutsche Herkunft.

Nach der Schule ging ich an die UCLA und studierte dann Kieferorthopäde. Ich habe drei Kinder und sechs Enkelkinder. Mein ganzes Erwachsenenleben lang blieb ich neugierig auf meinen Geburtsort. Ich war schon einige Male wieder in Berlin, das letzte Mal vor meinem 90. Geburtstag mit meiner Familie. Es stellte sich heraus, dass ich immer noch etwas Deutsch sprechen kann, anscheinend mit einem leicht erkennbaren Berliner Akzent. Ich zeigte meinen Töchtern und Enkelkindern diese Straße – ich wurde gleich am anderen Ende geboren – und wir besuchten die nahe gelegene Synagoge, die für mich als Schule diente, als ich keine öffentliche Schule besuchen konnte. Wenn es meine Gesundheit erlaubt hätte, wäre ich heute hier, um an dieser Stolperstein-Zeremonie teilzunehmen.