Regina Victor geb. Friedenthal

Verlegeort
Sybelstr. 19
Bezirk/Ortsteil
Charlottenburg
Verlegedatum
06. Oktober 2021
Geboren
23. Februar 1873 in Posen
Deportation
am 20. August 1942 nach Theresienstadt
Ermordet
04. September 1942 in Theresienstadt

Regina Victor geb. Friedenthal, die man auch Rena rief, wurde am 23. Februar 1873 in Posen (Poznán) geboren, das damals zu Preußen gehörte. Sie war die Tochter von Salomon Friedenthal (1843-1914) und dessen Frau Doris, geb. Unger (1851-?). Sie hatte vier jüngere Geschwister, Clara (*1874), Carl (1875*), Martha (*1878) und Michael (*1883).

Regina war die Mutter des Schriftstellers Walther Victor (1895-1971). Er hinterließ eine Autobiographie und mehrere autobiographische Skizzen, weshalb über die Familie einige recht private Details bekannt sind. Walther begeisterte sich schon in jungen Jahren für den Marxismus; sein Verhältnis zu seinem gutbürgerlichen Elternhaus war nicht ohne Spannungen.

Reginas Vater und Großvater waren die führenden Steinkohlehändler der Gegend und belieferten unter anderem wichtige Eisenbahnunternehmen. Familie Friedenthal besaß ein großes Haus in Posen am Wilhelmsplatz 10 (heute Plac Wolności) in einem der vornehmsten Viertel der Stadt, das erst vor kurzem in einem prächtigen gründerzeitlichen Stil neu gebaut worden war. Die Friedenthals waren weltoffen und modern: Ihr Haus verfügte über einen Fahrstuhl, das Kontor des Kohlegroßhandels über eine der ersten Schreibmaschinen. Walther Victor erinnert sich, wie Reginas Großvater in Gehrock und Zylinder vor dem Haus stand, seinen Spazierstock schwang und wohlwollend den Passanten zuschaute - „ein schlanker, eleganter Herr, der seinen graumelierten Spitzbart trug wie ein Grandseigneur".

Regina war selbstbewusst und kulturinteressiert, spielte Klavier und sang, schrieb Gedichte, las viel und gerne, flirtete auch gerne und galt laut ihrem Sohn als das schönste Mädchen von Posen: „Keine pikante, interessante, elegante, sondern eine prall-natürliche Schönheit mit gesunden Farben und strahlendem Gebiss, blondhaarig und blauäugig und mit rosa Wangen, die die Lebenslust gemalt hatte (...) Eine Königin, die Regina hieß".

Am 15. Juli 1894 heiratete sie Simeon (Simon) Victor (*6.1.1868), Sohn von Moritz Victor und dessen Frau Leonora geb. Cohn. Seine Schwester Anna, später verh. Stoessel, wurde ein Jahr später geboren. Sie nahm sich 1942 in Berlin das Leben. (Stolperstein Eisenzahnstr. 4 Stolpersteine Eisenzahnstraße 4 - Berlin.de  

 Sein Vater besaß eine Ziegelei im nahegelegenen Fabianowo, die er von einem Büro in Posen aus leitete. Die Familie Victor war finanziell ähnlich gestellt wie die Familie Friedenthal, doch im Gegensatz zu den säkularen Friedenthals waren die Victors orthodox. Simeon hatte schon früh das Bedürfnis verspürt, sich von seiner Familie etwas zu distanzieren und zog nach Berlin, wo er einige Semester Chemie studierte. Seine Liebe zu der emanzipierten Regina konnte sein Vater nicht gutheißen; das Paar traf sich heimlich beim Standesamt und brach dann sofort zu einer glanzvollen Hochzeitsreise auf, die sie nach Mailand und Florenz, Paris und München führte. Danach obsiegte die Vernunft und sie zogen ins westfälische Bad Oeynhausen, wo Simeon eine Stelle als technischer Direktor einer Dachpappenfabrik antrat.

Walther Victor beschreibt die Ehe seiner Eltern als leidenschaftlich, sinnlich und so wild, dass er sich an Bizets Oper „Carmen" erinnert fühlte. Hochschwanger mit ihrem ersten Sohn, wollte Regina unbedingt alle Sehenswürdigkeiten Westfalens besichtigen. Sie zwang ihren Mann, sie im Zweispänner zum Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald zu fahren: „Und Regina Victor kletterte den Berg hinan, die Stufen im dreißig Meter hohen Unterbau hinauf, sie nahm, den händeringend Beschwörungen ausrufenden Mann hinter sich, erfolgreich die Leitersprossen in Angriff, die weitere siebenundzwanzig Meter bis in die Schwertspitze des Cheruskers führen, und dort (...) hielt sie inne, schien sich einen Augenblick zu besinnen und erklärte dem "Um Gottes Willen, was ist denn?" schreienden Mann, dass man besser eine Hebamme rufe, ihr sei so eigenartig zumute". Wirklich kam Walther am selben Tag, dem 21. April 1895, in Bad Oeynhausen auf die Welt.

Nach der ersten Verliebtheit scheint sich die Leidenschaft der Eheleute Victor in viel Streit entladen zu haben. Walther erzählt, dass ihm sein Vater später immer wieder gepredigt habe, bloß nie aus Liebe zu heiraten.

Simeon Victor legte die Orthodoxie mit seiner Hochzeit ab. Er trat sogar einer Freimaurerloge bei. Simeon und Regina verstanden sich als deutsche Patrioten. Sie vergötterten, wie ihr Sohn berichtet, Kaiser Wilhelm II.: „Er, der "Herrlichste von allen", spielte bei uns (...) seine besondere Rolle in dem von Assimilationsdrang beflügelten Kampf um gesellschaftliche Anerkennung". 1899, bei den so genannten Kaisermanövern in Westfalen, hatten sie dann sogar die Ehre, den Kaiser in einer zu der Dachpappenfabrik gehörigen Villa unterzubringen und ein Diner für ihn zu veranstalten. Walther Victor erinnert sich amüsiert, wie er schon als Vierjähriger gegen „seinen Kaiser" revoltierte, laut zu heulen begann und überall Eigelb verkleckerte. Wilhelm II. war allerdings von seiner charmanten Gastgeberin so entzückt, dass er ihr eine wertvolle, mit einem großen W gezierte Brosche schenkte, auf die Regina sehr stolz war. Etwa 1899 bekam sie in Bad Oeynhausen ihr zweites Kind, einen zarten Jungen namens Ernst.

Um 1900 kehrte die nun 4-köpfige Familie nach Posen zurück. Simeon übernahm die Ziegelei seines Vaters. Laut Walther Victor reaktivierten seine Eltern bei ihrer Heimkehr die jüdischen Traditionen und er, der als kleiner Junge nicht einmal ein Nachtgebet gesprochen hatte, musste sich plötzlich auf seine Bar Mitzwa vorbereiten.

Am 18. Mai 1908 bekam Regina noch eine Tochter, Ilse. Reginas Mutter Doris, die kurz vorher verwitwet und eine sehr liebevolle Frau war, verwöhnte ihre Enkelkinder in dem großen Haus am Wilhelmsplatz. Wenn alljährlich zu Kaisers Geburtstag eine Parade abgehalten wurde, stand die ganze Familie dort begeistert auf dem Balkon. Regina Victor leitete einen großbürgerlichen Haushalt. Sie lebte, anders als ihr sparsamer Mann, gerne auf großem Fuße. Eine Gouvernante half bei der Kindererziehung und fuhr jeden Sommer mit den Kleinen ins Ostseebad Kolberg. Es gab oft Streit, zunehmend auch mit dem rebellischen Walther, der manchmal wochenlang bei den Nachbarn einquartiert wurde, wenn er sich zu viel herausnahm.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt begann Regina Victor, stets unter Pseudonym, für die liberale Tageszeitung „Posener Neue Nachrichten" zu schreiben. Laut ihrem Sohn bot „(...) die muffige Provinzstadt sonst nicht das Mindeste für ihr Temperament". Regina habe in einem bilderreichen und beschwingten Stil geschrieben und sich vor allem fürs Theater begeistert. Den Redakteur der Posener Neuen Nachrichten empfing sie oft in ihrem Salon, und das Posener Stadttheater war ihr „vom Direktor bis zum letzten Chormädchen insgesamt ans Herz gewachsen".

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren Regina und Simeon in großer Sorge um Walther. Auf Rat des Vaters, der selbst als ehemaliger Landsturm-Unteroffizier oft an Reservistenübungen teilnahm, meldete er sich als Freiwilliger zur Artillerie, um einer Einberufung zur gefährlicheren Infanterie zu entgehen. Es gelang den Eltern, ihn ein Jahr lang in der Posener Garnison zu halten, 1915 musste er dann doch an die Front. Er überstand den Krieg traumatisiert aber körperlich unbeschadet. 1916 verließ er die jüdische Glaubensgemeinschaft. Er studierte in Halle und gründete eine sozialistische Studentengruppe. Dann wurde er Journalist, zog nach Hamburg und heiratete dort 1921 die Tochter eines sozialdemokratischen Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft, Cilli Schönfelder.

Reginas Ehe war nicht zu retten. Mitte der 1920er- Jahre ließen sich die Victors scheiden, nach einem wohl sehr zähen und unerfreulichen Prozess. Bald darauf brach Regina ihre Zelte in Posen ab und zog nach Berlin-Charlottenburg. Spätestens ab 1928 und bis mindestens 1933 lebte sie allein in der Knesebeckstraße 70/71 im Gartenhaus, nur ein paar Schritte vom Kurfürstendamm entfernt. Simeon Victor hatte nach der Scheidung Posen ebenfalls verlassen und zog spätestens 1929 nach Breslau.

Reginas Schwestern Clara (verheiratete Rath) und Martha (verheiratete Grieß) wohnten ebenfalls in Berlin. Clara starb 1934. Ihre Schwester Martha Grieß und deren Mann Moritz wurden im Oktober 1941 deportiert und im Ghetto Litzmannstadt ermordet.

In der Familie wurde erzählt, dass Regina, die ihren Beruf als "Rentiere" angab,  nach ihrer Scheidung angefangen hatte, in Hosen herumzulaufen, was, gerade für eine Frau über 50, an einen Skandal grenzte. Sie begann wieder zu schreiben, unter Pseudonym für eine renommierte Berliner Zeitung; um welche es sich handelte oder wie das Pseudonym lautete, war leider nicht herauszufinden. Auch ihr Sohn Walther war mit seiner Frau Cilli, mit der er einen Sohn hatte und von der er sich 1935 scheiden ließ, nach Charlottenburg gezogen. Er hatte inzwischen zwei Romane veröffentlicht und wurde 1932 Feuilletonchef des „8 Uhr-Abendblatts". Auch ihm bot Regina sofort Artikel an, die er aber ablehnte. Ihr Verhältnis scheint damals trotzdem recht gut gewesen zu sein und besonders Cilli besuchte ihre Schwiegermutter sehr gerne.

Reginas Sohn Ernst emigrierte sofort nach der Machtergreifung 1933 nach Argentinien. Walther floh 1935 in die Schweiz. Er wurde nach drei Jahren ausgewiesen, floh nach Luxemburg und dann nach Frankreich. In Paris wurde er verhaftet und mehrfach interniert. Nach einer Flucht über die Pyrenäen nach Spanien und bis nach Portugal konnte er sich im Herbst 1940 in Lissabon auf dem Passagierdampfer „Nea Hellas" einschiffen, der vielen europäischen Intellektuellen, darunter Franz und Alma Werfel und Heinrich und Golo Mann, die Flucht in die Vereinigten Staaten ermöglichte.

Reginas Tochter Ilse hatte den Berliner Carl Meissner geheiratet und lebte mit ihm ebenfalls eine Weile in Charlottenburg. Später zog das Ehepaar nach Hamburg. 1939 floh Ilse allein oder mit ihrem Mann in die Schweiz. Auch sie, so ihr Bruder Walther, wurde Opfer des Rassenwahns: Sie nahm sich am 26. Februar 1940 in Zürich das Leben.

Weder Regina Victor in Berlin noch ihr geschiedener Mann Simeon in Breslau scheinen eine Flucht ins Ausland je in Erwägung gezogen zu haben. Simeon hatte noch einmal geheiratet, eine junge, nichtjüdische Frau aus armen Verhältnissen. Vielleicht fühlte er sich in dieser "Mischehe" halbwegs sicher. 1936 besuchte er seinen Sohn Walther im Schweizer Exil und war nicht zu bewegen, dort zu bleiben: „Lächelnd, als ganz unmöglich für ihn, lehnte er ab, im Ausland zu bleiben. Wovon soll ich leben? fragte er. Was machst du, wenn sie dich morgen hier wegweisen? Du hast doch gar keine Papiere!"  Simeon Victor überlebte alle Schikanen und Erniedrigungen bis kurz vor Kriegsende. Im Frühjahr 1945, „als die letzten in Breslau lebenden Juden, während man die Kanonen der sowjetischen Befreier schon hörte, abtransportiert werden sollten", nahm sich der 77jährige mit Gift das Leben.

Mitte der 1930er- Jahre zog Regina Victor aus ihrer Wohnung in der Knesebeckstraße aus und lebte zur Untermiete in der Sybelstraße 19. Ihren Vermietern, dem Juristen Dr. Erich Mamelok und seiner Frau Margot, gelang 1940 die Flucht in die Vereinigten Staaten. Nach der Flucht ihrer Vermieter wurde Regina zwangsweise aus dieser Wohnung aus- und in die Eisenzahnstraße 6 - wiederum in ein Untermietverhältnis - eingeweisen. „Eine ganze Reihe Nachbarn haben mir Einzelheiten aus ihrer letzten Lebenszeit erzählt," schreibt Walther Victor. „Sie war die alte geblieben. (...) Sie hatte das Leben geliebt, und wo es ihr entgegengetreten war, genossen". Der letzte Brief, den Regina an ihren Sohn schrieb, enthielt ein Gedicht über ihre Tochter Ilse, die sich gerade das Leben genommen hatte: Es endete „mit der Perspektive auf ein Wiedersehen nach dem Tode".

Regina Victor musste sich in dem von den Nazis als „Sammellager" missbrauchten „Ersten Altenheim der Jüdischen Gemeinde zu Berlin" in der Großen Hamburger Straße 26 einfinden. Am 20. August 1942 wurde sie mit dem sog. „46. Alterstransport" von Gleis 17 des Güterbahnhofs Grunewald ins Ghetto Theresienstadt verschleppt. Nach nur zwei Wochen starb sie dort am 4. September 1942. Der Totenschein verzeichnet Enteritis, Marasmus (Auszehrung in Folge von Unterernährung) und Herzschwäche als Todesursache.

Die Deportationsliste des „46. Alterstransports", der Regina Victor in den Tod führte, verzeichnet als hundertsten und letzten Deportierten einen 72jährigen Witwer aus Westpreußen, Isaak Mentzel. Die Geschichte, die Walther Victor über seine Mutter und Isaak Mentzel erzählt, der zwei Tage vor Regina in Theresienstadt angeblich an einem Herzschlag starb, ist nicht zu verifizieren. Sie ist aber so tief im Familiengedächtnis der Victors verankert - und möglicherweise nicht so unwahrscheinlich wie sie klingt - dass sie hier nicht verschwiegen werden soll. Walther Victor, der Mentzel fälschlich für einen Nichtjuden zu halten scheint, erzählt: „Als Regina Victor 1942 in Berlin auf den Bahnhof bestellt wurde, um ihre letzte Reise, die nach Theresienstadt, anzutreten, da erschien spontan ein älterer Herr, auch der Name ist mir zuverlässig berichtet worden, er hieß Menzel (sic), und verlangte von den Nazi-Behörden, mitfahren zu dürfen. Er liebte die zu deportierende Nichtarierin Victor und wollte sich nicht von ihr trennen. "Na, denn fahr mit, du Schwein!", sagte man ihm und stieß ihn in den Zug. Meine Mutter war damals, als ein Mann, um ihr nahe zu sein, in den Tod ging, siebzig Jahre. Das war meine Mutter. So war sie. Sie liegt in einem Massengrab, und ich will in Gedanken dort stehen und das Glas heben."