Sehr geehrte Fräulein Kollegin,
Ich bringe Ihnen hiermit zur Kenntnis, dass Ihre Promotion in der Fakultätssitzung vom 9. Februar 1938 stattgefunden hat, wozu ich Ihnen gratuliere. Den Auftrag zur Anfertigung des Doktordiplomes habe ich der Universität erteilt. (1)
Diese lang erhoffte Nachricht erhielt Herta Ruth Selbiger, anders als so viele nicht-arische deutsche Studentinnen und Studenten in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Sie sollte aber ihre Doktorarbeit im Fach Medizin an der Universität Bern in der Schweiz schreiben, da sie an ihrer Heimatuniversität in Berlin aus rassischen Gründen nicht promovieren durfte.
Der kurze Lebenslauf, den Herta Ruth Selbiger ihrer Dissertation beifügte, erzählt sehr wenig über das Leben dieser Frau. Mit Hilfe verschiedener Quellen konnten wir über ihre Geschichte mehrere Einzelheiten, die nicht unbedingt eine lückenlose Kontinuität bilden, herausfinden.
Herta Ruth Selbiger wurde am 24. September 1910 in Berlin geboren. Ihr Vater, Georg Selbiger, war ein Kaufmann, der im Landkreis Schlochau in Westpreußen geboren wurde. Ihre Mutter Erna (geb. Lasker) stammte ebenfalls aus Westpreußen, aus der Stadt Lessen. (2) Das Ehepaar hatte zwei Kinder: Herta und Herbert (geboren 1913). (3)
Herta Selbiger besuchte von April 1917 bis April 1918 die 2. Mädchen-Mittel-Schule, danach bis 1923 das 1. Lyzeum Neukölln und absolvierte im April 1930 die 1. Städtische Studienanstalt. Im Sommersemester 1930 begann sie ihr Medizinstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, und studierte dort bis dem Wintersemester 1935/1936. (4) Während dieser Zeit bestand sie die ärztliche Staatsprüfung, durfte aber ihr Studium bis zur Promotion aus rassischen Gründen nicht fortsetzen. (5)
Da die Ausübung des Arztberufes in Deutschland für sie verboten war, legte Herta Selbiger in Berlin das Krankenschwesterexamen ab und arbeitete ab 1937 in verschiedenen Abteilungen des Jüdischen Krankenhauses Berlin. (6)
Im Jahr 1937 immatrikulierte sie sich an der Universität Bern, wo sie das medizinische Fachexamen ablegte und ihre Doktorarbeit mit dem Titel Beitrag zur Chirurgie des Pankreas mit besonderer Berücksichtigung der Störung seiner inneren und äußeren Sekretion, unter der Betreuung ihres Doktorvaters, des bekannten Professors de Quervain, schrieb. (7) In seinem Gutachten über die Arbeit schrieb Prof. de Quervain, dass die Dissertation weniger grundsätzlichen als casuistischen Charakter [hat], enthält aber einiges Interessante und Wissenswerte, und stellte fest, dass eine gründlichere Bearbeitung einiger Teile, vor allem wegen der gegenwärtigen politischen Situation der nicht-arischen Doktoranden in Deutschland nicht erfolgen könne. (8)
Nach ihrer Promotion arbeitete Herta Selbiger weiter im Jüdischen Krankenhaus. Nach dem Krieg sammelte ihr Bruder, der überlebt hat, einige Dienstzeugnisse, die sie als hervorragende Mitarbeiterin beschreiben. Die Laboratoriumsarbeiten machte sie mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit, (9) wurde von der Abteilung für Lungenkranke berichtet. Ich kann Frl. Dr. S. das Zeugnis ausstellen, dass sie mit großer Gewissenhaftigkeit und mit viel Verständnis die ihr übertragenen Pflegen ausgeführt hat [...] ich kann sie bestens empfehlen schrieb der Leiter der geburtshilflich-gynäkologischen Abteilung. (10)
Sie hat jederzeit Verständnis und menschliche Teilnahme im Umgang mit den Patienten gezeigt, deren Wünsche zu erfüllen sie sich stets bemühte [...] Ein besonders starkes Verantwortungsbewusstsein, sowie Anpassungs- und Einordnungsfähigkeit machen sie für jede Krankenanstalt und überall in der Krankenpflege zu einer wertvollen Kraft, so die Tuberkulose-Abteilung. (11)
Ende der 1930er Jahre emigrierten ihr Bruder und seine Frau über Belgien nach Brasilien, (12) aber Herta Selbiger blieb mit ihren Eltern in ihrer Wohnung in der Weichselstraße 65 in Neukölln. Sie erreichte der Befehl zur Räumung der Wohnung, der sie aufforderte, am 20. November 1941 zur Vermeidung schärferer Maßnahmen (13) in der Oranienburger Straße 31 zu erscheinen. In der Vermögenserklärung, die sie bei der Evakuierung der Wohnung ausfüllen musste, notierte sie neben anderer persönlicher Habe auch ihren Arztschrank, ihre Arztablage und diverse ärztliche Instrumente. (14)
Herta Ruth Selbiger wurde am 5. September 1942 zusammen mit ihren Eltern von Berlin nach Riga deportiert. Alle drei wurden drei Tage später ermordet. (15)
Sehr geehrte Fräulein Kollegin,
Ich bringe Ihnen hiermit zur Kenntnis, dass Ihre Promotion in der Fakultätssitzung vom 9. Februar 1938 stattgefunden hat, wozu ich Ihnen gratuliere. Den Auftrag zur Anfertigung des Doktordiplomes habe ich der Universität erteilt. (1)
Diese lang erhoffte Nachricht erhielt Herta Ruth Selbiger, anders als so viele nicht-arische deutsche Studentinnen und Studenten in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Sie sollte aber ihre Doktorarbeit im Fach Medizin an der Universität Bern in der Schweiz schreiben, da sie an ihrer Heimatuniversität in Berlin aus rassischen Gründen nicht promovieren durfte.
Der kurze Lebenslauf, den Herta Ruth Selbiger ihrer Dissertation beifügte, erzählt sehr wenig über das Leben dieser Frau. Mit Hilfe verschiedener Quellen konnten wir über ihre Geschichte mehrere Einzelheiten, die nicht unbedingt eine lückenlose Kontinuität bilden, herausfinden.
Herta Ruth Selbiger wurde am 24. September 1910 in Berlin geboren. Ihr Vater, Georg Selbiger, war ein Kaufmann, der im Landkreis Schlochau in Westpreußen geboren wurde. Ihre Mutter Erna (geb. Lasker) stammte ebenfalls aus Westpreußen, aus der Stadt Lessen. (2) Das Ehepaar hatte zwei Kinder: Herta und Herbert (geboren 1913). (3)
Herta Selbiger besuchte von April 1917 bis April 1918 die 2. Mädchen-Mittel-Schule, danach bis 1923 das 1. Lyzeum Neukölln und absolvierte im April 1930 die 1. Städtische Studienanstalt. Im Sommersemester 1930 begann sie ihr Medizinstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, und studierte dort bis dem Wintersemester 1935/1936. (4) Während dieser Zeit bestand sie die ärztliche Staatsprüfung, durfte aber ihr Studium bis zur Promotion aus rassischen Gründen nicht fortsetzen. (5)
Da die Ausübung des Arztberufes in Deutschland für sie verboten war, legte Herta Selbiger in Berlin das Krankenschwesterexamen ab und arbeitete ab 1937 in verschiedenen Abteilungen des Jüdischen Krankenhauses Berlin. (6)
Im Jahr 1937 immatrikulierte sie sich an der Universität Bern, wo sie das medizinische Fachexamen ablegte und ihre Doktorarbeit mit dem Titel Beitrag zur Chirurgie des Pankreas mit besonderer Berücksichtigung der Störung seiner inneren und äußeren Sekretion, unter der Betreuung ihres Doktorvaters, des bekannten Professors de Quervain, schrieb. (7) In seinem Gutachten über die Arbeit schrieb Prof. de Quervain, dass die Dissertation weniger grundsätzlichen als casuistischen Charakter [hat], enthält aber einiges Interessante und Wissenswerte, und stellte fest, dass eine gründlichere Bearbeitung einiger Teile, vor allem wegen der gegenwärtigen politischen Situation der nicht-arischen Doktoranden in Deutschland nicht erfolgen könne. (8)
Nach ihrer Promotion arbeitete Herta Selbiger weiter im Jüdischen Krankenhaus. Nach dem Krieg sammelte ihr Bruder, der überlebt hat, einige Dienstzeugnisse, die sie als hervorragende Mitarbeiterin beschreiben. Die Laboratoriumsarbeiten machte sie mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit, (9) wurde von der Abteilung für Lungenkranke berichtet. Ich kann Frl. Dr. S. das Zeugnis ausstellen, dass sie mit großer Gewissenhaftigkeit und mit viel Verständnis die ihr übertragenen Pflegen ausgeführt hat [...] ich kann sie bestens empfehlen schrieb der Leiter der geburtshilflich-gynäkologischen Abteilung. (10)
Sie hat jederzeit Verständnis und menschliche Teilnahme im Umgang mit den Patienten gezeigt, deren Wünsche zu erfüllen sie sich stets bemühte [...] Ein besonders starkes Verantwortungsbewusstsein, sowie Anpassungs- und Einordnungsfähigkeit machen sie für jede Krankenanstalt und überall in der Krankenpflege zu einer wertvollen Kraft, so die Tuberkulose-Abteilung. (11)
Ende der 1930er Jahre emigrierten ihr Bruder und seine Frau über Belgien nach Brasilien, (12) aber Herta Selbiger blieb mit ihren Eltern in ihrer Wohnung in der Weichselstraße 65 in Neukölln. Sie erreichte der Befehl zur Räumung der Wohnung, der sie aufforderte, am 20. November 1941 zur Vermeidung schärferer Maßnahmen (13) in der Oranienburger Straße 31 zu erscheinen. In der Vermögenserklärung, die sie bei der Evakuierung der Wohnung ausfüllen musste, notierte sie neben anderer persönlicher Habe auch ihren Arztschrank, ihre Arztablage und diverse ärztliche Instrumente. (14)
Herta Ruth Selbiger wurde am 5. September 1942 zusammen mit ihren Eltern von Berlin nach Riga deportiert. Alle drei wurden drei Tage später ermordet. (15)