Gertrud Nehlhans geb. Hirschfeld

Verlegeort
Torstraße 210
Bezirk/Ortsteil
Mitte
Verlegedatum
07. Juni 2013
Geboren
24. Juni 1905 in Gießen
Deportation
am 29. November 1942 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Gertrud Hirschfeld wurde am 24. Juni 1905 in Gießen als eine von drei Töchtern in eine orthodoxe deutsch-jüdische Familie geboren. Ihr Vater war der Philosoph und Gießener Rabbiner Dr. Leo Jehuda Hirschfeld (1867–1933), ihre Mutter, die gebürtige Frankfurterin Adele Hirschfeld, geborene Schwab (1876–1924). Leo Hirschfeld hatte am Berliner Rabbinerseminar und an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heutige Humboldt-Universität zu Berlin) studiert, 1893 an der Universität Heidelberg promoviert und war ab 1895 Rabbiner der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft in Gießen, die um die Jahrhundertwende ihre neu errichtete Synagoge in der Steinstraße einweihte. Ab 1897 war er außerdem als „Großherzoglicher Provinzial-Rabbiner“ zuständig für die orthodoxen Landgemeinden in Oberhessen. Am 28. Oktober 1898 hatten Gertruds Eltern in Frankfurt am Main geheiratet und sich eine gemeinsame Wohnung in Gießen genommen, wo am 4. März 1900 Gertruds ältere Schwester Rosalie geboren worden war. Nach Gertruds Geburt 1905 kam mit Hannah die jüngste der drei Töchter des Ehepaares Hirschfeld zur Welt. 1905 lebten die Hirschfelds in einer Wohnung an der Adresse Nordanlage 9, zogen 1909 in die Plockstraße 14 in der Gießener Innenstadt und 1913 schließlich in die zweite Etage der Ludwigstraße 42, welche in den nächsten Jahrzehnten die Familienwohnung der Hirschfelds bleiben sollte. Über die schulische und berufliche Ausbildung von Gertrud Hirschfeld haben sich keine Zeugnisse erhalten.

Am 12. März 1931 heiratete die 25-Jährige in Berlin den sechs Jahre älteren Kaufmann Arthur Nehlhans. Arthur war der Sohn von Max Markus Nehlhans (1871–1942) und der Betty Bertha, geborene Seide (1875–1942). Sein Vater führte in Berlin ein Geschäft für Luxuspapierwaren und Postkarten und war außerdem Gemeindevorsteher der Alten Synagoge in der Heidereutergasse 4. Mit seinem Zwillingsbruder Erich Nehlhans sollte Arthur später das Familiengeschäft übernehmen. Nach der Hochzeit zog Gertrud nach Berlin, wo sie sich mit ihrem Ehemann eine gemeinsame Wohnung in der Flensburger Straße 20 im Hansaviertel nahm. Leider haben sich keine weiteren Quellen erhalten, die einen Einblick in das Leben der Eheleute im Berlin der Weimarer Republik geben könnten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Gertrud Nehlhans und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung sowie des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden und Anfang der 1930er-Jahre hatte die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zugenommen. Ab 1933 institutionalisierte sich der Rassismus mit Hilfe staatlicher Autorität. Gesetze und Sondererlasse drängten Gertrud zunehmend in die Position einer Rechtlosen.

1934 zogen Gertrud und Arthur Nehlhans in die Altonaer Straße 13, nicht allzu weit entfernt von ihrer letzten Wohnung. Im selben Jahr kam am 2. Dezember 1934 ihre Tochter Adele zur Welt. In den 1930er-Jahren gelang den Schwestern von Gertrud die Flucht aus Deutschland: Rosalie Hirschfeld, verheiratete Adler, konnte mit ihrem Ehemann Jakob Adler und den gemeinsamen Kindern Adele (*1927) und Naomi (*1929) im Oktober 1938 über Rotterdam in die USA ausreisen; Hannah Hirschfeld, verheiratete David, rettete sich mit ihrem Ehemann Ernst in das britische Mandatsgebiet Palästina. Ob auch Gertrud und ihr Ehemann in den 1930er-Jahren versuchten, mit ihrer Tochter aus Deutschland zu entkommen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese.

Seit Mitte der 1930er-Jahre führte Arthur zusammen mit seinem Bruder Erich das Familiengeschäft des Vaters fort, zuerst mit einem Luxuspapiergeschäft in der Neuen Königsstraße 18, ab 1937/1938 mit eigenen Ladengeschäften an ihren Wohnadressen. Erich arbeitete nun in der Prenzlauer Straße 12a und Arthur in der Artilleriestraße 31, wo das Ehepaar mit seiner Tochter seit 1938 lebte. Beide Brüder mussten ihre Geschäfte zwangsweise nach den Pogromen im Juni und November 1938 in Berlin aufgeben.

Ende 1939 oder Anfang 1940 zogen Gertrud und Arthur mit der fünfjährigen Adele an ihre letzte Wohnungsadresse in der Elsässer Straße 54 (heutige Torstraße 210) in Mitte. Am 31. Oktober 1941 kam ihre zweite Tochter Judis zur Welt. Spätestens Anfang der 1940er-Jahre war das Leben für die Familie zum reinen Existenzkampf geworden. So konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ vom 19. des Monats an nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass Arthur und Gertrud zu Zwangsarbeit in Berliner Betrieben herangezogen worden waren.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Jüdinnen und Juden beginnen würde. Gertrud Nehlhans und ihr Ehemann erhielten den Deportationsbescheid im Herbst 1942. Sie mussten ihre Wohnung in der Elsässer Straße 54 räumen und wurden mit ihren Töchtern in einem der Berliner Sammellager interniert. Am 29. November 1942 wurden die vier mit dem „23. Osttransport“ aus Berlin in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Gertrud war zum Zeitpunkt der Deportation 37 Jahre alt, ihr Ehemann 43. Adele und Juris wurden gerade sieben bzw. ein Jahr alt.

Von ihren Familienangehörigen überlebten ihre Schwestern Rosalie und Hannah mit ihren Ehemännern und Kindern die NS-Verfolgung im Exil in den USA und Palästina. Aus dem Familienzweig ihres Mannes überlebten nur sehr wenige die Shoah: Gertruds Schwiegereltern wurden im August 1942 aus Berlin in das KZ Theresienstadt deportiert und von dort aus im September weiter in den Tod im Vernichtungslager Treblinka. Ihre Schwägerin Frieda Rosenthal, geborene Nehlhans, wurde zusammen mit ihrem Ehemann Ludwig und Sohn Günther Joachim im Januar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Gertruds Schwägerin Lydia Nehlhans, verheiratete Krakauer, wurde im August 1939 nach Polen abgeschoben, und laut Angaben von Familienangehörigen mit ihrem Ehemann Adolf Krakauer in den 1940er-Jahren in Auschwitz ermordet. Deren Tochter Resi Krakauer (*1923) war in Berlin untergetaucht, wurde aber 1943 oder 1944 verhaftet. Anders als Resis Bruder Arno (*1929), der Häftling in Auschwitz, Mauthausen und Buchenwald gewesen war, bevor er befreit wurde, überlebte sie den Genozid nicht. Arthurs jüngerer Bruder Richard wurde im März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dessen Ehefrau Rosa, geborene Katzenberg, war kurz vor der Deportation im Februar 1943 in Berlin verstorben. Arthurs Zwillingsbruder Erich konnte untergetaucht in Berlin überleben. Er war nach dem Krieg erster Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und maßgeblich an deren Wiederaufbau beteiligt. 1950 verstarb er in sowjetischer Lagerhaft, nachdem er von einem Militärgericht wegen vermeintlicher Agitation verurteilt worden war. Die Ehefrau Erichs, Edith, geborene Perlinsky, war im März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.