Chaim Sperling

Verlegeort
Solinger Straße 10
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
September 2003
Geboren
04. Dezember 1904 in Salzberg / Bochnia
Überlebt

Heinrich (Chaim) Sperling wurde am 4. Dezember 1904 in der damals zu Österreich-Ungarn gehörenden galizischen Ortschaft Bochnia (heutiges Polen) geboren. Die Stadt liegt an der Raba rund 40 Kilometer östlich von Krakau (Kraków). Heinrich war der Sohn des Kaufmanns Mendel Sperling (1874–1954) und von dessen Ehefrau Beile (Bertha) Sperling, geborene Kleinberger (1879–1961). Sein Vater stammte ursprünglich aus dem nahe gelegenen Gorlice und hatte sich nach der Hochzeit mit Beile 1899 in Bochnia niedergelassen. Heinrich wuchs im Kreis von acht Geschwistern auf: Sein älterer Bruder Leo (Yehuda) Sperling war 1900 in Bochnia geboren worden; seine Schwester Rosa (Rachel) Sperling im Jahr 1903. In den Jahren 1907, 1909, 1910, 1912 und 1913 kamen Heinrichs jüngere Geschwister Hirsch (Zvi), Alexander (Sender), Taube Towa (Toni), Max Meier und Lea (Loni) Sperling zur Welt. Das Geburtsjahr seiner Schwester Esther Sperling geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 besuchte der heranwachsende Heinrich Sperling eine Privatschule in Bochnia. Mit Beginn des Krieges wurde die Stadt zum umkämpften Kriegsschauplatz und die Sperlings entschieden sich, mit ihren Kindern nach Deutschland auszuwandern. Sie ließen sich 1915 in Bielefeld nieder, wo sich die Familie eine Wohnung im Stadtzentrum in der Neuenkirchener Straße 2 nahm (heute überbaut). An derselben Adresse gründete Heinrichs Vater ein Unternehmen, das in den Folgejahren die Existenzgrundlage der Familie sicherte. Es begann als Sackhandel in den Nachkriegsjahren, firmierte als Rohproduktenhandel in der Breitestraße 26 (1922), der Wertherstraße 88 (1924/1925) und am Güterbahnhof 9 (1926/1927) in Bielefeld und wurde Ende der 1920er-Jahre / Anfang der 1930er-Jahre als Wäscheversand zum Familienbetrieb „M. Sperling & Sohn“ ausgebaut.

Heinrich Sperling besuchte in Bielefeld ab 1915 die Volksschule und absolvierte nach dem Schulabschluss eine kaufmännische Ausbildung. Er besuchte zwischen 1918 und 1921 die Handelsschule Bielefeld und erhielt eine praktische Berufsausbildung als Lehrling im Kaufhaus Eisenstein in Gütersloh. Danach trat er in das väterliche Unternehmen ein und wurde dort Mitinhaber und geschäftsführender Gesellschafter. Zu Art und Umfang des Familienunternehmens schrieb Heinrich Sperling später: „Das Geschäft betrieb die Fabrikation und den Versand von Wäsche und hatte in den Jahren ab 1930 einen erheblichen Umfang angenommen. […] Solange das Geschäft in Bielefeld war, waren durchweg acht Handelsvertreter angestellt. Außerdem arbeiteten bis 1934 noch zwei andere Söhne meines Vaters im Geschäft. Meine beiden Brüder waren im Außendienst als Vertreter tätig, während ich im Innenbetrieb sowohl wie im Außenbetrieb tätig war. Im Geschäft arbeiteten ferner zwei Töchter meines Vaters im Büro. Außerdem war im Büro auch eine Buchhalterin angestellt.“ Die Familie gehörte im Bielefeld der Weimarer Republik zur gutbürgerlichen Mittelschicht, unternahm Reisen, besuchte Konzerte und Veranstaltungen, engagierte sich kulturell-gesellschaftlich in der Stadt und in der jüdischen Gemeinde: So war Heinrich Sperling etwa Vorsitzender des örtlichen Sportvereins Makkabi-Bielefeld, interessierte sich leidenschaftlich für Fußball, den er auch selbst spielte, war Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Bielefeld und später in Berlin. Leider haben sich keine weiteren Zeugnisse erhalten, die einen Einblick in das Familienleben im Bielefeld der Weimarer Republik geben könnten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Heinrich Sperling und seine Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Seit 1933 waren die Sperlings außerdem auch als Geschäftsinhaber von den antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen 1938 erfuhren.

In den 1930er-Jahren gelang es, einigen von Heinrichs Geschwistern Deutschland zu verlassen und sich im Ausland in Sicherheit zu bringen. Bereits 1933 emigrierte sein Bruder, der Kaufmann Leo Sperling mit seiner Ehefrau und einer Tochter in das britische Mandatsgebiet Palästina. Er war dort als Kaufmann tätig, ehrenamtlicher Richter am hebräischen Amtsgericht und Mitglied des Kreditvergabeausschusses „Koft Malwa for Immigrants“. In den 1930er-Jahren wanderten auch Alexander und Zvi in das britische Mandatsgebiet aus, wo sie an der Gründung der „Palestine Motors Ltd.“ beteiligt waren, deren späterer Direktor Alexander werden würde. Max Meier gelang es im Juli 1938 von Berlin aus nach England zu entkommen. Die Schwestern Taube Towa, verheiratete Felder, Lea „Loni“ sowie Esther, verheiratete Honig, überlebten die NS-Verfolgung in Palästina. In Deutschland waren die antisemitischen Repressionen unterdessen bis Mitte der 1930er-Jahre soweit fortgeschritten, dass Heinrich zusammen mit seinem Vater beschloss, den Geschäftssitz in Bielefeld aufzulösen und das Unternehmen in kleinerem Maßstab von Berlin aus weiterzuführen. Heinrich und seine Eltern nahmen sich eine Wohnung in der Solinger Straße 10 in Moabit, von wo aus auch die Firma „M. Sperling & Sohn“ als Wäschefabrik und Versand geführt wurde.

1937 heiratete Heinrich in Berlin die neun Jahre jüngere Aurelie Krauss, die 1913 in Prešov (heutige Slowakei) geboren worden war. Das Ehepaar hatte gerade einen Sohn, den im August 1938 geborenen Jehuda James Sperling, bekommen, als Heinrich im Oktober 1938 ohne jede Vorwarnung in der sogenannten „Polen-Aktion“ deportiert wurde, da er polnischer Staatsbürger war. Er schilderte die Umstände später wie folgt: „1938, im Oktober, erschienen in der Frühe gegen 5 Uhr zwei S. S. oder S. A. Leute, schleppten mich aus meinem Bett, misshandelten mich durch Stöße und Fußtritte, nahmen mich geradezu mit Gewaltanwendung mit zu einer Nazi-Sammelstelle in Berlin und versandten mich mit einem Transport nach Polen. Nichts konnte ich mitnehmen, nicht einmal etwas Nahrungsmittel. Nach der eintägigen Haft in der Sammelstelle wurde ich abtransportiert, ohne die geringste Ahnung, wohin.“ Die Abschiebungen, von denen auch Mendel und Beile sowie Heinrichs Schwester Rosa, verheiratete Unger, deren Ehemann Max und ihr Sohn Leo betroffen waren, gingen an die Grenze nach Bentschen (Zbąszyń), wo die Deportierten zunächst in Sammellagern interniert wurden. Nach den Erinnerungen von Heinrich war er zunächst in einem überfüllten Stall untergebracht und beschrieb seinen Zustand wie folgt: „Tiefste Erschütterung, als ich in Polen in [ein] höchst primitives Lager kam. Nerven- und Seelenzustand nach meiner Erinnerung nahezu leblos. Einzelnes über körperliche Beschwerden kann ich nur sehr schwer beschreiben. Ich fühlte, offenbar durch die Misshandlung hervorgerufen, Infarkt-Schmerzen im Rücken und in den Rippen.“ Nach mehreren Wochen konnte Heinrich Sperling das Lager verlassen, da Verwandte für ihn bürgten. Er kam in seiner Geburtsstadt Bochnia unter. Ende Dezember 1938 schaffte es seine Frau, die in Berlin geblieben war, ihm ein Ausreisevisum zukommen zu lassen. Im Frühjahr 1939 konnten Heinrich und Aurelie Sperling sowie ihr Sohn per Bahn und Fähre über Hoek van Holland nach England ausreisen. Mitnehmen konnten sie – so sollte es Heinrich später schildern – nichts außer dem nötigsten Reisegepäck. Der Plan war es, später nach Palästina weiterzureisen, was aber durch den Kriegsausbruch verhindert wurde. Zunächst auf Unterstützung durch Verwandte angewiesen, gründete Heinrich später mit seinem ebenfalls in England lebenden jüngerem Bruder Max Meier ein Textilunternehmen. 1940 wurde das zweite Kind von Heinrich und Aurelie geboren, ihre Tochter Ester Sylvia.

Heinrich Sperling, seine Familie und sein Bruder Max Meier Sperling überlebten die NS-Verfolgung im Exil in England. Heinrichs Eltern war es im Winter 1938/1939 gelungen, aus Polen nach Palästina zu entkommen. Sie überlebten die Kriegsjahre und die Verfolgung in Palästina, genauso wie Heinrichs Geschwister Leo, Hirsch und Alexander sowie die Schwestern Taube Towa, verheiratete Felder, Lea und Esther, verheiratete Honig. Heinrichs Schwester Rosa Unger, deren Ehemann Max und ihr Sohn Leo (*1928) waren aus dem Lager in Bentschen (Zbąszyń) bei Verwandten in Krakau untergekommen. Sie wurden zusammen mit der 1939 geborenen Tochter Chana nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen verhaftet und im Ghetto Krakau interniert. Von ihnen überlebte nur Leo Unger, der zuletzt mit seinem Vater als Häftling im Konzentrationslager Flossenbürg körperliche Schwerstarbeit verrichten musste („Vernichtung durch Arbeit“). Rosa Unger wurde laut Angaben des Gedenkbuchs 1942 im Vernichtungslager Majdanek ermordet. Ihre Tochter Chana wurde im Frühjahr 1945 in der ostgalizischen Ortschaft Dolina (heutige Westukraine) ermordet. Leo sah seinen Vater zuletzt im März 1945, als der das Lager mit einem der sogenannten Todesmärsche in Richtung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen verließ. Sollte er Bergen-Belsen erreicht haben, so wurde er dort ermordet.