Mendel Sperling

Verlegeort
Solinger Straße 10
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
September 2003
Geboren
02. April 1874 in Gorlin
Überlebt

Mendel Sperling wurde am 2. April 1874 in Gorlice in Galizien (heutiges Polen) geboren. Die Stadt liegt am Fluss Ropa etwa 140 Kilometer südöstlich von Krakau (Kraków) und gehörte zum Zeitpunkt der Geburt von Mendel Sperling zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Mendel war der Sohn von Juda Leib Sperling und von dessen Ehefrau Chana Hinda Sperling. Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Mendel in Gorlice haben sich keine weiteren Quellen erhalten. Es ist auch nicht bekannt, ob Mendel das einzige Kind seiner Eltern blieb oder ob er im Kreis von Geschwistern aufwuchs. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörten seine Eltern aber zur jüdischen Gemeinde der Stadt. Nach seinem Schulabschluss absolvierte Mendel eine kaufmännische Ausbildung und war als Kaufmann in Bochnia tätig, wo der 25-Jährige die fünf Jahre jüngere Beile (Bertha) Kleinberger, die 1879 geborene Tochter von Lipman Kleinberger und Golda Berhang (1849–1897), heiratete. Das Ehepaar ließ sich in Bochnia nieder, wo 1900 das erste Kind zur Welt kam - ihr Sohn Leo (Yehuda). In den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs folgten acht weitere Kinder: Rosa (Rachel) wurde 1903 in Bochnia geboren, Heinrich (Chaim) 1904, Hirsch (Zvi) 1907, Alexander (Sender) 1909, Toni (Taube Towa) im Jahr 1910 sowie Max Meier 1912 und Lea (Loni) 1913. Das Geburtsjahr von Esther (Estera) geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Bochnia zum umkämpften Kriegsschauplatz. Die Sperlings flohen 1914 mit ihren Kindern vor der russischen Invasion nach Deutschland und siedelten sich in Bielefeld an, wo sich die Familie eine Wohnung im Stadtzentrum in der Neuenkirchener Straße 2 nahm (heute überbaut). An derselben Adresse gründete Mendel ein Unternehmen, das in den Folgejahren die Existenzgrundlage der Familie sicherte. Es begann als Sackhandel in den Nachkriegsjahren, firmierte als Rohproduktenhandel in der Breitestraße 26 (1922), der Wertherstraße 88 (1924/1925) und am Güterbahnhof 9 (1926/1927) in Bielefeld und wurde Ende der 1920er-Jahre/Anfang der 1930er-Jahre als Wäscheversand zum Familienbetrieb „M. Sperling & Sohn“ ausgebaut. Gesellschafter des Unternehmens waren Mendel und sein Sohn Heinrich, der später folgende Angaben zum Familienbetrieb machte: „Das Geschäft betrieb die Fabrikation und den Versand von Wäsche und hatte in den Jahren ab 1930 einen erheblichen Umfang angenommen. […] Solange das Geschäft in Bielefeld war, waren durchweg acht Handelsvertreter angestellt. Außerdem arbeiteten bis 1934 noch zwei andere Söhne meines Vaters im Geschäft. Meine beiden Brüder waren im Außendienst als Vertreter tätig, während ich im Innenbetrieb sowohl wie im Außenbetrieb tätig war. Im Geschäft arbeiteten ferner zwei Töchter meines Vaters im Büro. Außerdem war im Büro auch eine Buchhalterin angestellt.“ Die Familie gehörte im Bielefeld der Weimarer Republik zur gutbürgerlichen Mittelschicht, unternahm Reisen, besuchte Konzerte und Veranstaltungen, engagierte sich kulturell-gesellschaftlich in der Stadt und in der jüdischen Gemeinde. So war Heinrich etwa Vorsitzender des örtlichen Sportvereins Makkabi-Bielefeld. Ihren Kindern ließen Mendel und Beile die bestmögliche Ausbildung zukommen – sie ergriffen hauptsächlich kaufmännische Berufe und gründeten teilweise später selbst Unternehmen. Leider haben sich keine weiteren Zeugnisse erhalten, die einen Einblick in das Familienleben im Bielefeld der Weimarer Republik geben könnten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Mendel Sperling und seine Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Seit 1933 waren die Sperlings außerdem als Geschäftsinhaber von den antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen 1938 erfuhren.

In den 1930er-Jahren gelang es, einigen der Kinder von Mendel und Beile Deutschland zu verlassen und sich im Ausland in Sicherheit zu bringen. Bereits 1933 emigrierte sein ältester Sohn, der Kaufmann Leo, mit seiner Ehefrau und einer Tochter in das britische Mandatsgebiet Palästina. Er war dort als Kaufmann tätig, ehrenamtlicher Richter am hebräischen Amtsgericht und Mitglied des Kreditvergabeausschusses „Koft Malwa for Immigrants“ für deutsche Einwanderer. In den 1930er-Jahren wanderten auch Alexander und Zvi nach Palästina aus, wo sie an der Gründung der „Palestine Motors Ltd.“ beteiligt waren, deren späterer Direktor Alexander werden würde. Max Meier gelang es im Juli 1938 von Berlin aus nach England zu entkommen. Die Schwestern Taube Towa, verheiratete Felder, Lea „Loni“ sowie Esther, verheiratete Honig, überlebten die NS-Verfolgung in Palästina.

In Deutschland waren die antisemitischen Repressionen unterdessen bis Mitte der 1930er-Jahre soweit fortgeschritten, dass Mendel Sperling zusammen mit seinem Sohn Heinrich beschloss, den Geschäftssitz in Bielefeld aufzulösen und das Unternehmen in kleinerem Maßstab von Berlin aus weiterzuführen. Mendel und seine Ehefrau nahmen sich eine Wohnung in der Solinger Straße 10 in Berlin-Mitte, von wo aus auch die Firma „M. Sperling & Sohn“ als Wäschefabrik und Versand geführt wurde, bis die verbliebenen Familienmitglieder ohne jegliche Vorwarnung als polnische Staatsbürger mit der sogenannten „Polen-Aktion“ im Oktober 1938 deportiert wurden. Heinrich schilderte die Umstände später wie folgt: „1938, im Oktober, erschienen in der Frühe gegen 5 Uhr zwei S. S. oder S. A. Leute, schleppten mich aus meinem Bett, misshandelten mich durch Stöße und Fußtritte, nahmen mich geradezu mit Gewaltanwendung mit zu einer Nazi-Sammelstelle in Berlin und versandten mich mit einem Transport nach Polen. Nichts konnte ich mitnehmen, nicht einmal etwas Nahrungsmittel. Nach der eintägigen Haft in der Sammelstelle wurde ich abtransportiert, ohne die geringste Ahnung, wohin.“ Die Abschiebungen, von denen auch Mendel seine Ehefrau sowie seine Tochter Rosa, verheiratete Unger, deren Ehemann Max und ihr Sohn Leo betroffen waren, gingen an die Grenze nach Bentschen (Zbąszyń), wo die Deportierten zunächst in Sammellagern interniert wurden. Diejenigen mit Verwandten in Polen konnten das Lager verlassen, wenn Angehörige für sie bürgten. Heinrich Sperling – und vermutlich auch seine Eltern – kamen zeitweise in Bochnia unter, Mendels Tochter Rosa mit ihrer Familie in Krakau. Für Dezember 1938 wurden Mendel und Beile vom Polizeipräsidenten Berlins eine Einreise für die Dauer von 14 Tagen gestattet, zur Erledigung von Auswanderungsformalitäten – doch die Eheleute sollten Deutschland nicht mehr betreten. Mendel verzichtete darauf, sein Geschäft in Berlin formal aufzulösen, erhielt in Polen ein Visum und emigrierte mit seiner Ehefrau im Winter 1938/1939 direkt nach Palästina. Auch Heinrichs Ehefrau, Aurelie, geborene Krauss (*1913), die er 1937 geheiratet hatte, gelang es, ihrem Mann Ausreispapiere nach Polen zukommen zu lassen. 1939 konnten Heinrich, Aurelie und ihr im August 1938 geborener Sohn Jehuda James per Bahn und Fähre über Hoek van Holland nach England ausreisen. Mitnehmen konnten sie – so sollte es Heinrich später schildern – nichts außer dem nötigsten Reisegepäck.

Mendel und seine Ehefrau Beile überlebten die NS-Verfolgung im Exil in Palästina, genauso wie seine Söhne Leo, Hirsch und Alexander sowie seine Töchter Taube Towa, verheiratete Felder, Lea und Esther, verheiratete Honig. Heinrich, dessen Ehefrau und Kinder James (*1938) und Esther Sylvia (*1940), sowie Max Meier Sperling überlebten die Verfolgung im Exil in England. Mendels Tochter Rosa Unger, ihr Ehemann Max, ihr 1928 geborener Sohn Leo und die 1939 geborene Tochter Chana wurden nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen verhaftet und im Ghetto Krakau interniert. Rosa wurde laut Angaben des Gedenkbuchs 1942 im Vernichtungslager Majdanek ermordet. Ihre Tochter Chana wurde im Frühjahr 1945 in der ostgalizischen Ortschaft Dolina (heutige Westukraine) ermordet. Max Meier befand sich zuletzt zusammen mit seinem Sohn Leo als Häftling im KZ Flossenbürg, bis er das Lager im März 1945 mit einem der sogenannten „Todesmärsche“ in Richtung des KZ Bergen-Belsen verließ. Sollte er es erreicht haben, so wurde er dort ermordet. Allein Leo Unger überlebte die Shoah.