Vera Wolff geb. Silberstein

Verlegeort
Klopstockstraße 5
Bezirk/Ortsteil
Hansaviertel
Verlegedatum
29. November 2013
Geboren
13. Juni 1919 in Berlin
Deportation
am 15. August 1942 nach Riga
Ermordet
18. August 1942 in Riga

Vera Silberstein wurde am 13. Juni 1919 in Berlin geboren. Sie war die Tochter des Kaufmanns Walther Silberstein (1871–1930) und der Stenotypistin Adelheid „Ada“ Silberstein, geborene Arnstein (1887–1942). Für beide ihrer Eltern war es die zweite Ehe: Ihr Vater stammte ursprünglich aus der kleinen ostpreußischen Ortschaft Serteggen (dem heutigen Żerdziny in Polen). Er war mit seinem Vater nach Berlin gekommen, hatte dort 1899 Lea Ilse Levy geheiratet und das Modegeschäft „The Gentleman“ mit englischer Mode an der Ecke Friedrichstraße 87 / Unter den Linden eröffnet. Bis in die 1920er-Jahre hatte sich das Geschäft einen exzellenten Ruf und ausgesuchten Kundenkreis erarbeitet und war zu einem der führenden Modegeschäfte Berlins avanciert. Zu den Kunden zählten der König von Griechenland und die Prinzessin zu Waldeck und Pyrmont. Das Geschäft ermöglichte der Familie Silberstein ein großbürgerliches Leben im Berlin der Kaiserzeit und Weimarer Republik. Walther konnte seinen vielfältigen Aktivitäten in philanthropischen Vereinen, der Kunst- und Kulturszene der Hauptstadt und seinem Engagement in der jüdischen Gemeinde Berlins nachgehen. Aus der Ehe mit Lea Silberstein waren drei Kinder hervorgegangen: 1899 war Werner geboren worden; in den Jahren 1901 und 1904 folgten Else Ruth und Margot Silberstein. Eine Zwillingsschwester von Else Ruth namens Hilda war kurz nach der Geburt verstorben. Nachdem Walthers erste Ehefrau Lea 1917 gestorben war, heiratete er 1919 Adelheid Arnstein. Veras Mutter stammte aus dem oberschlesischen Ratibor (heutiges Racibórz), wo sie als Tochter des Artes und Sanitätsrat Dr. Josef Arnstein (1860–1923) und Gertrud, geborene Rosenthal (1864–1937), zur Welt gekommen war. 1909 hatte sie in Zabrze den Holzkaufmann Siegfried Grünwald geheiratet und mit ihm zwei Kinder bekommen: Heinz im Jahr 1909 und Lily Toni im Jahr 1911. Nachdem ihr Ehemann 1915 im früheren Zabrze (von 1915 bis 1945 Hindenburg O. S.) verstarb, ging sie mit ihren beiden Kindern nach Berlin, wo sie Walther heiratete.

Familie Silberstein lebte in einer Zehnzimmerwohnung in der Klopstockstraße 56 (heute überbaut) im Hansaviertel. Nach späteren Berichten der Kinder von Walther Silberstein war es ein humanistischer, strenggläubiger Haushalt und beliebter Mittelpunkt gesellschaftlicher Zusammenkünfte. In der Silberstein'schen Wohnung verkehrten vielerlei bedeutende und interessante Persönlichkeiten der Zeit. Besonders Künstlern standen die Türen des kunstinteressierten Walther stets offen und mit der Zeit konnte er sich eine respektable Privatsammlung aufbauen – unter anderem zierte die Wände in der Klopstockstraße ein Portrait Walther Silbersteins aus der Hand des mit ihm befreundeten Lovis Corinth (1858–1925). Auch Werke von Max Liebermann, Adolph Menzel, Lesser Ury und vielen weiteren bedeutenden Künstlern der Zeit befanden sich in Walthers Besitz.

Die Kindheit von Vera verlief behütet in einem lebendigen und von den vielfältigen Interessen ihrer großen Familie geprägten Haushalt. Ihre Eltern besuchten regelmäßig Konzerte, die Oper und die Berliner Theater und Veras musikbegeisterter Vater verfasste dazu manchmal Zeitungskritiken. Er engagierte sich außerdem politisch für die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP). Auch Ausflüge und Reisen spielten für das unternehmungslustige Ehepaar Silberstein eine wichtige Rolle: So zeigt eine erhaltene Fotografie die Eheleute beim Spazieren in Sankt Moritz 1926, eine andere beim Winterurlaub 1925 in den Schweizer Bergen und ein Bild Walther Silberstein mit seiner Tochter Margot im Kurort Marienbad (Mariánské Lázně) im Sommer 1925.

Ihren Kindern ließen die Silbersteins die bestmögliche Ausbildung zukommen: Walthers Töchter Else und Margot besuchten die Lette-Schule in Berlin. Margot half nach ihrer Ausbildung bei der Leitung des väterlichen Geschäfts. Walthers Sohn Werner studierte nach seinem Schulabschluss Medizin und promovierte 1924 mit einer Arbeit zum Thema „Die Spülbehandlung bei Entleerungsbehinderung des Magens“. Nach dem Studium arbeitete er an der Charité und forschte ab 1926 als Bakteriologe am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin. Heinz absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften, promovierte und war später als Referendar und Versicherungsbeamter tätig. Vera Wolff dürfte eine der Berliner Volksschulen besucht haben, aber es haben sich keine konkreten Quellen zu ihrer schulischen Laufbahn erhalten. Im März 1930 starb ihr Vater Walther Silberstein im Alter von 60 Jahren. Die verwitwete Ada führte das Herrenbekleidungsgeschäft „The Gentleman“ wohl noch bis 1934 weiter, danach firmierte es –nicht mehr in Familienhand – als Filiale des Damenmodehauses „Stein im Hofe GmbH“. Veras Mutter bezog nach dem Tod Walthers mit den noch bei ihr wohnenden Kindern eine Vierzimmerwohnung in der Cuxhavener Straße 12 im Hansaviertel.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden seit 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Vera Silberstein und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden und Anfang der 1930er-Jahre hatte die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zugenommen. Ab 1933 institutionalisierte sich der Antisemitismus mit Hilfe staatlicher Autorität.

Gesetze und Sondererlasse drängten die Angehörigen der Familie Silberstein zunehmend in die Position von Rechtlosen. Einen Aspekt der sich verschärfenden Diskriminierungen erfuhr die heranwachsende Vera unmittelbar im Bildungswesen: Bereits 1933 war der 14-Jährigen mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ die Chance auf einen höheren Bildungszweig versperrt worden und ein Erlass von 1935 sah eine „möglichst vollständige Rassentrennung“ in Schulen vor, bevor 1938 jüdischen Schüler der Besuch staatlicher Schulen grundsätzlich verboten und die meisten Ausbildungswege versperrt wurden. Ihr Halbbruder Werner war bereits im Frühjahr 1933 mit dem antisemitischen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus seiner Stellung am RKI entlassen worden. Er wurde außerdem aus dem Ärzteverband ausgeschlossen und ihm wurde seine Kassenzulassung entzogen. Noch im selben Jahr emigrierte er mit seiner Ehefrau Ronja, geborene Kolodny (1899–1978), in das britische Mandatsgebiet Palästina. Kurz bevor Veras Halbbruder Heinz, der zuletzt Landgerichtsrat gewesen war, im Oktober 1933 ebenfalls nach Palästina auswanderte, verkleinerte sich Ada Silberstein erneut und zog mit Vera in eine Zweizimmerwohnung in der Kurfürstenstraße 107. Ihrer Halbschwester Margot, die mit ihrem Ehemann Gedalja Hepner zuletzt in Leipzig gelebt hatte, gelang 1939 mit ihrem Mann und den gemeinsamen Kindern in letzter Minute die Flucht nach Großbritannien. Lily Toni Grünwald, verheiratete Heimann, war mit ihrem Mann nach Belgien gegangen, wo sie zu Kriegsbeginn in Brüssel lebte. Ob auch Ada Silberstein in den 1930er-Jahren Pläne verfolgte, mit Vera aus Deutschland zu entkommen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollte sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. Spätestens Anfang der 1940er-Jahre war das Leben für Vera Wolff und ihre Mutter in Berlin zum reinen Existenzkampf geworden. So konnte sie sich vom 19. September 1941 an, wie alle im „Reich“ verbliebenen Jüdinnen und Juden, nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Bis zuletzt lebte Vera mit ihrer Mutter in der Kurfürstenstraße und zuletzt auch mit ihrem Ehemann, den aus Breslau (Wrocław) stammenden Heinz Wolff (*1920), den sie im März 1941 heiratete.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die Jüdischen Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Jüdinnen und Juden beginnen würde. Veras Mutter erhielt den Deportationsbescheid im Winter 1941. Sie wurde in einem der Berliner Sammellager interniert und von dort aus am 19. Januar 1942 mit dem „IX. Transport“ in das Ghetto Riga deportiert. Die damals 54-jährige Ada wurde entweder unmittelbar nach der Ankunft des Transports in Riga ermordet oder zu einem späteren Zeitpunkt. Sie gehörte jedenfalls nicht zu den wenigen Überlebenden des Rigaer Ghettos. Vera und Heinz Wolff nahmen sich eine Wohnung in der Hauptstraße 13 in Schöneberg, in der sie bis in den Sommer 1942 lebten, als auch sie den Deportationsbescheid erhielten. Sie wurden am 15. August 1942 mit dem „18. Osttransport“ ebenfalls in das Ghetto Riga deportiert. Auch sie überlebten nicht. Vera Wolff war zum Zeitpunkt der Deportation 23 Jahre alt.

Von ihren Geschwistern überlebten Heinz Grünwald, Werner und Margot Silberstein mit ihren Familien im Exil in Palästina und Großbritannien. Ihre Halbschwester Lily Toni Heimann wurde mit ihrem Ehemann Fritz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Belgien 1940 verhaftet. Das Schicksal von Fritz Heimann geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor, es ist aber unwahrscheinlich, dass er überlebte, da seine Verwandten nach 1945 kein Lebenszeichen von ihm erhielten. Lily Toni Heimann war zuletzt in der Kaserne Dossin im SS-Sammellager Mecheln (Malines) interniert. Sie wurde von dort aus am 15. Januar 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Veras Onkel mütterlicherseits, Curt Arnstein war im Juni 1938 in Berlin-Schargendorf verstorben. Seiner Ehefrau Ilse Arnstein, geborene Franck (*1899), gelang im April 1939 mit ihren zwei Söhnen die Flucht nach Kuba. Später lebte sie in den USA.