Der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes teilte am 13. Oktober 1943 dem Ministerialdirigenten Willers im Reichsjustizministerium mit, dass am 10. August 1943 im KZ Sachsenhausen die folgenden Männer ohne Gerichtsurteil auf Befehl des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, erschossen wurden: Emil Becker, Ernst Beuthke, Friedrich Beuthke, Richard Beuthke, Walter Beuthke, Heinrich Müller, Fritz Radoch. Im selben Schreiben wird berichtet, dass einen Tag später, am 11. August 1943, die folgenden Frauen, ebenfalls ohne Gerichtsurteil, erschossen wurden: Dora Baumann, Anna Becker, Anna Beuthke, Charlotte Beuthke, Charlotte Hundt, Lina Müller, Wally Radoch, Ella Trebe.<br />
<br />
Die Opfer gehörten zur Familie Beuthke oder waren Freunde von ihnen. <br />
<br />
Viele Jahre später, anlässlich der Ehrung langjähriger Mitglieder der SPD hatte eine der Geehrten, Frau Marianne Reiff-Hundt, Tochter der in Sachsenhausen ermordeten Charlotte Hundt, eine Kopie des oben genannten Schreibens mitgebracht und zeigte es Frau Gabriele Thieme-Duske, ebenfalls eine der Jubilarinnen. Diese versuchte dann mit Eckhard Rieke, beide in der Reinickendorfer AG Stolpersteine, die Hintergründe dieser Mordtat zu klären. Am 7. Juni 2013 wurden daraufhin elf Stolpersteine für diejenigen Opfer verlegt, die damals in Reinickendorf gelebt hatten. <br />
<br />
Richard Beuthge wurde am 4. Juli 1880 in Berlin geboren. Laut Gestapoquelle war sein Beruf Hausdiener, an anderer Stelle wird er als Dreher bezeichnet. Als KPD-Mitglied hatte er aktiv an der Novemberrevolution 1918 teilgenommen. Er soll vor dem Reinickendorfer Rathaus die Revolution ausgerufen haben, und es finden sich sehr eloquente Redebeiträge von ihm im Berliner Arbeiter- und Soldatenrat. Später betrieb er ein Tabak- und Zigarrengeschäft in der Schubartstraße 36 (heute 61) in Borsigwalde. Über seine Frau Anna, geboren am 1. Juni 1883 als Anna Rossius in Viethmannsdorf in der Schorfheide, wissen wir sehr wenig. Das Ehepaar hatte drei Söhne: Ernst, geboren am 3. März 1903, Walter, geboren am 22. Juni 1904, und Friedrich, geboren am 19. Juni 1906. <br />
<br />
Ernst erlernte als einziger der Söhne keinen Beruf. Er arbeitete zuerst als Lagerarbeiter und leitete dann bei Siemens ein Lager. Von 1928 bis 1933 war er arbeitslos. Im Jahr 1927 heiratete er Ella, geborene Dahlke. Das Ehepaar hatte eine Tochter Doris, geboren am 15. August 1934.<br />
<br />
Der zweitälteste Sohn Walter war von Beruf Feinmechaniker und arbeitete nach dem Lehrabschluss in mehreren Betrieben, zuletzt als Werkmeister bei der Firma Patin am Charlottenburger Ufer. Verheiratet war er mit der am 13. April 1908 geborenen Charlotte Becker. Die Eheleute hatten zwei Töchter, Ingeborg (geboren 1934) und Bärbel (geboren 1943, fünf Tage vor dem Tod ihres Vaters), zudem hatten sie einen Jungen griechischer Herkunft adoptiert: Tussias Politarios, geboren 1927. Die Familie wohnte bis 1933 in der Schubartstraße 36 (heute 61), dem Wohnhaus von Walters Eltern.<br />
<br />
Friedrich Beuthke, genannt Fritz, war der jüngste Sohn. Er ergriff einen Metallberuf, wurde Schweißer und arbeitete bei der Firma Flohr in Reinickendorf. 1933 heiratete er Charlotte Wielsch, geboren am 6. Juni 1909. Zu dieser Zeit war Friedrich schon länger arbeitslos. Das Paar hatte keine Kinder.<br />
<br />
Die drei Söhne von Richard und Anna Beuthke lebten im Reinickendorfer Ortsteil Borsigwalde. Hier dominierte die Eisen- und Stahlindustrie (Rüstungsindustrie). Der Ortsname Borsigwalde zeigt es deutlich: Die Firma Borsig hatte den Ortsteil entstehen lassen. Der kommunistische Vater prägte die Söhne, auch sie wurden Kommunisten. Inwieweit das auch auf die Frauen zutraf, geht aus den Quellen nicht genau hervor. Die Frau von Ernst, Ella, war nach Aussage ihrer Tochter und einer Nachbarin ganz unpolitisch.<br />
<br />
Der Erste Weltkrieg, die wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik mit Inflation und Arbeitslosigkeit trafen auch die Familie Beuthke hart: Immer wieder waren die Männer arbeitslos, z.T. jahrelang. <br />
<br />
Lebensmittelpunkt der Familie war die Kleingartenkolonie „Gartenfreunde“. Sie erstreckte sich östlich der heutigen Otisstraße bis zum Fasanenweg und in dessen Verlängerung bis zur damaligen Promenade; die nördliche Begrenzung bildete die Wittestraße, im Süden die Seidelstraße. Die Kolonie war also erheblich größer als die heutige Kleingartenanlage.<br />
<br />
Nach einer Darstellung des Berliner Polizeipräsidenten von 1933 hatte der Verein 1933 ca. 600 Mitglieder, davon galten ca. 80 Prozent als Kommunisten. Zweck des Vereins war neben der Pflege der Geselligkeit und des Sports die praktische Unterweisung zur Erweiterung des Wissens der Mitglieder. Nach der sogenannten Gleichschaltung des Vereins sah die neue Satzung von 1934 als Vereinszweck die Nutzung des Kleingartenlandes im Sinne der Verbundenheit von Blut und Boden als Grundlage für Staat und Volk vor. Vor 1933 und trotz der Gleichschaltung auch danach war die Gartenkolonie offenbar ein kommunistisches Biotop, deswegen wurde sie im Volksmund „Klein Moskau“ genannt. Hier hatten die Eltern Richard und Anna eine große Laube, sie befand sich in der Innungsstraße, nach damaliger Zählung in der Nummer 44. Hier lebte nach 1933 auch Sohn Walter mit seiner Familie. Sein Bruder Ernst hatte im Sonnenweg 22 und Friedrich im Sonnenweg 31 eine Laube. Aufgrund der damals herrschenden Wohnungsnot wurden die Lauben als Wohnungen genutzt. Der Zusammenhalt der „Kolonisten“ war offenbar stark. Es gab ein Vereinshaus, es wurden gemeinsame Feste gefeiert, man unterstützte sich gegenseitig, wie uns eine Zeitzeugin berichtete. Der heutige Kleingartenverein Gartenfreunde umfasst Restflächen im Norden und Süden der ehemaligen Kolonie, ein großer Teil wurde Anfang der 1960er Jahre mit Wohnbauten von der GEWOBAG bebaut.<br />
<br />
Die Ereignisse, die zur Ermordung fast der ganzen Familie und ihrer Freunde führten, reichen ins Jahr 1933 zurück. In den letzten Jahren der Weimarer Republik gab es in Berlin heftige Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und der SA. Ernst Beuthke, offenbar ein sehr kämpferischer Mann, wie auch sein späteres Leben zeigt, wurde 1933 bei einer Auseinandersetzung mit SA-Leuten in der Gegend der heutigen General-Barby-Straße / Scharnweberstraße durch einen Bauchschuss schwer verwundet. Laut Aussage der Tochter Doris wurde er durch einen berühmten Arzt in der Charité, vielleicht Ferdinand Sauerbruch, gerettet. Nach seiner Genesung wurde es ihm nach der Machtübergabe an die NSDAP in Deutschland zu gefährlich und er floh in die Sowjetunion. Das muss Ende des Jahres 1933 gewesen sein, denn seine Tochter Doris wurde im August 1934 geboren. Seine Familie hörte danach offenbar nichts mehr von ihm. Nur seine Frau Ella hat nach Angaben der Tochter davon erfahren, dass er in der Sowjetunion ein Kind mit einer anderen Frau hatte. Das war sicher die Ursache für die Scheidung im Jahr 1941. <br />
<br />
Ernst Beuthke nahm im Thälmann-Bataillon am Spanischen Bürgerkrieg teil, kehrte als Offizier in die Sowjetunion zurück und arbeitete dort in einem Panzerwerk im Kaukasus Im Jahr 1943 gelangte er über Umwege nach London. Von dort flog er mit einem britischen Flugzeug nach Berlin und sprang mit einem Funkgerät westlich der Stadt ab. Er wandte sich an seine Familie. Verwandte und Freunde brachten ihn in wechselnden Quartieren unter und verpflegten ihn. Das war ziemlich unvorsichtig und führte schließlich zur Katastrophe. So tauchte er z.B. in der Gartenkolonie auf, wo ihn viele kannten.<br />
<br />
Seine Tochter berichtete uns, dass sie dort ein fremder Mann – sie war damals neun Jahre alt – angesprochen und geküsst habe. Ihre Familie erklärte ihr daraufhin, das sei ihr Vater gewesen, den sie nur dieses eine Mal gesehen hat. Die ganze Familie – bis auf Ella – habe sich in der Laube der Großeltern und des Bruders Walter getroffen. Ein Denunziant informierte die Gestapo. Nach der Verhaftung der Familienmitglieder seien dann Männer mit Knüppeln zum Haus des Denunzianten gezogen, um diesen zu erschlagen. Er habe aber vorher einen Herzinfarkt erlitten.<br />
<br />
Nach den Unterlagen in der Entschädigungsakte für Walter Beuthke wurde als erster Ernst Beuthke verhaftet, danach seine geschiedene Frau Ella. Diese wurde aber nach zehn Tagen wieder freigelassen, weil man ihr glaubte, dass sie von der ganzen Angelegenheit nichts gewusst habe. In der Haft soll ihr Ernst vorgeführt worden sein. Sie habe ihn aber kaum erkannt, weil er durch Folterungen schwer verletzt und entstellt war.<br />
<br />
Vermutlich etwa zum selben Zeitpunkt wurden am 18. Mai 1943 alle Unterstützer von Ernst Beuthke verhaftet: seine Eltern Richard und Anna, seine Brüder Walter und Friedrich, dessen Frau Charlotte und deren Eltern, der Porzellandreher Emil Becker und seine Frau Anna, die in der Schubartstraße 36 (heute 61) lebten. Von den Familienmitgliedern wurde einzig Walters hochschwangere Frau Charlotte verschont. Inhaftiert wurden außerdem Wally und Fritz Radoch, vermutlich Freunde von Walter Beuthke. Sie wohnten in Wittenau in der Kolonie An der Höhe, Waidmannsweg 82, am heutigen Mauschbacher Steig. Fritz Radoch, geboren am 3. Juni 1903, war von Beruf KFZ-Schlosser, der sich durch eine Zusatzprüfung im Bereich Kalkulation als Werkmeister qualifiziert hatte. Seine Frau Wally, geboren am 21. Mai 1904, arbeitete als Verkäuferin im Kaufhaus Hertie am Dönhoffplatz. Ebenfalls verhaftet wurde die Schwester von Wally, Charlotte Hundt, geboren am 20. Juni 1900, eine gelernte Kontoristin. Diese war eine aufrechte, tatkräftige, politisch bewusste Frau, wie uns ihre Tochter Marianne berichtete. Charlotte Hundt nahm alle Schuld auf sich, sodass ihr ebenfalls verhafteter Mann Willy nach einigen Tagen freigelassen wurde und in sein Haus am Hügel zu den beiden Töchtern zurückkehren konnte. Allerdings wurde bis Kriegsende ein Spitzel in seinem Haus einquartiert.<br />
<br />
Zu den Verhafteten gehörten außerdem Dora Baumann und Ella Trebe aus Berlin sowie Heinrich Müller und seine Ehefrau Lina, als deren letzter Wohnsitz Freiburg im Breisgau angegeben wurde. Die Schicksale der vier Letztgenannten wurden von uns nicht recherchiert, weil sie nicht im Bezirk Reinickendorf lebten und somit für eine Stolpersteinverlegung in Reinickendorf nicht in Betracht kamen.<br />
<br />
Für Ella Trebe, die damals in Wedding wohnte und als KPD-Mitglied bis 1933 der Weddinger Bezirksverordnetenversammlung angehörte, liegt bereits ein Stolperstein in der Togostraße 78 in Wedding. <br />
<br />
Alle Verhafteten wurden in die Gefängnisse in der Prinz-Albrecht-Straße und am Alexanderplatz gebracht. Ob sie dort, ebenso wie Ernst Beuthke, gefoltert wurden, ist nicht bekannt. Angehörige und Freunde konnten sie mit Kleidung und Lebensmitteln versorgen, durften aber nicht mit den Inhaftierten sprechen. Lediglich die Tochter von Charlotte Hundt, Marianne, berichtet von einem letzten Zusammentreffen mit ihrer Mutter, bei dem auch ihr Onkel Fritz Radoch anwesend war.<br />
<br />
Auf ausdrücklichen Befehl Heinrich Himmlers wurden dann die Gefangenen aus Berlin ins KZ nach Sachsenhausen überführt,am 10. August 1943 die Männer und am 11 die Frauen in der dortigen Genickschussanlage ermordet.. Eine Gerichtsverhandlung hat es nicht gegeben. <br />
<br />
Die Familien wurden erst später und erst auf Anfrage über den Tod ihrer Angehörigen informiert. Die Schwester von Walter Beuthkes Ehefrau Charlotte und wohl auch Charlotte selbst sprachen in der Prinz-Albrecht-Straße bei einem Kommissar Strübing vor, erhielten aber keine konkreten Auskünfte, sondern wurden lediglich hin- und hergeschickt. Daraufhin fuhren sie selbst ins KZ Sachsenhausen, und schließlich wurden den Familien kommentarlos die Sterbeurkunden vom Standesamt Oranienburg übersandt. Auf den Urkunden waren lediglich Zeit und Ort des Todes verzeichnet. Die persönlichen Gegenstände der Ermordeten, einschließlich der Eheringe, wurden eingezogen. Die Herausgabe der Urnen wurde verweigert. Nichts sollte an die Toten erinnern.<br />
<br />
Dies änderte sich auch nach 1945 nicht wesentlich. Nach Kriegsende war ganz Berlin kurze Zeit allein von den Sowjets besetzt. In dieser Zeit wurde in Borsigwalde die General-Barby-Straße in Ernst-Beuthke-Straße umbenannt. Die Franzosen machten dies aber nach Übernahme ihres Sektors schnell rückgängig. Die Kommunisten, kurze Zeit unter den Sowjets Helden, galten wieder als Staatsfeinde wie zuvor bei den Nationalsozialisten. Eine gewisse Ausnahme bildete die Kolonie Gartenfreunde. Hier gab es lange Zeit eine Ausstellung für die Familie Beuthke, und noch heute erinnert eine Gedenktafel an sie.<br />
<br />
Die Hinterbliebenen der Mordopfer mussten z.T. lange um eine gewisse Entschädigung kämpfen. Manche haben diese Entschädigung nicht mehr erlebt. Die Opfer des Faschismus wurden als solche registriert. Der Opferstatus brachte in den westlichen Bezirken aber wenig materielle oder andere Vorteile. Anders sah das in der damaligen SBZ und der späteren DDR aus. Hier genossen die Opfer des Faschismus, besonders natürlich die Kommunisten, hohes Ansehen .<br />
<br />
Nach Kriegsende übergab Charlotte, Walter Beuthkes Ehefrau, im ehemaligen KZ Sachenhausen, das von der Sowjetunion weiter als Lager genutzt wurde, Fotos und Dokumente über die Familie Beuthke. Diese wurden ins Russische übersetzt und liegen heute im Archiv in Moskau.<br />
<br />
Ernst Beuthke und seine Familie wurden in Sachsenhausen besonders geehrt. Der Kampf gegen die Faschisten, die Beteiligung am Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion, Kampf in Spanien und Aufopferung im Krieg – das machte ihn in den Augen der Kommunisten in der SBZ und späteren DDR zum Helden. Um die Erinnerung an ihn kümmerte sich besonders die VVN.<br />
<br />
In der heutigen Gedenkstätte Sachsenhausen erinnert eine kleine Sonderausstellung an einer Außenmauer an Ernst Beuthke und seine Unterstützer. <br />
<br />
Unsere Recherchen haben die tragische Geschichte der Familie Beuthke wieder ans Licht gebracht. Einige wenige Familienmitglieder und andere Zeitzeugen haben die Mordaktion bis heute überlebt. So leben noch die beiden Töchter von Walter Beuthke. Sie wollen jedoch mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Nach der Verlegung der Stolpersteine haben wir Kontakt gefunden zur Tochter von Ernst, die ja ihren Vater nur einmal gesehen, aber nicht erkannt hat. Es meldete sich auch eine Nachbarin aus der Kolonie, die die ganze Familie kannte und viele Details berichtete, die die Personen wieder zum Leben erweckt haben. Es fand sich auch eine Schulfreundin der Tochter von Ernst, die ebenfalls Details beigetragen hat. <br />
<br />
Die meisten Angaben entnahmen wir jedoch den Akten des Landesarchivs, besonders aber denen des Entschädigungsamtes. In Sachsenhausen liegen nur wenige Unterlagen vor. Darüber hinaus hat uns auch die aufgeführte Literatur weiter geholfen.<br />
<br />
Die Ermordeten haben keine Grabsteine, ihre Überreste wurden beseitigt. Ihre Verfolger und Mörder sind vermutlich niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Jetzt aber erinnern wenigstens die Stolpersteine an Menschen, die Gegner des Nationalsozialismus waren, ihm entgegentraten und für ihre Überzeugung starben. Selbstlos halfen sie einem der ihren, trotz der großen Gefahr, in die sie sich damit brachten. Nach 1945, als viele der Mittäter im Nationalsozialismus lautlos die Seiten wechselten, wollte man mit den Opfern nichts zu tun haben – schon gar nicht mit den Sozialisten und Kommunisten.<br />
<br />
Auf Menschen wie die Familie Beuthke und ihre Freunde und Kameraden kann man sich heute noch berufen, weil sie sich aktiv einem mörderischen System entgegenstellten.<br />
<br />
Es wurde Zeit, dass man sich an sie erinnert.
Die Opfer gehörten zur Familie Beuthke oder waren Freunde von ihnen.
Viele Jahre später, anlässlich der Ehrung langjähriger Mitglieder der SPD hatte eine der Geehrten, Frau Marianne Reiff-Hundt, Tochter der in Sachsenhausen ermordeten Charlotte Hundt, eine Kopie des oben genannten Schreibens mitgebracht und zeigte es Frau Gabriele Thieme-Duske, ebenfalls eine der Jubilarinnen. Diese versuchte dann mit Eckhard Rieke, beide in der Reinickendorfer AG Stolpersteine, die Hintergründe dieser Mordtat zu klären. Am 7. Juni 2013 wurden daraufhin elf Stolpersteine für diejenigen Opfer verlegt, die damals in Reinickendorf gelebt hatten.
Richard Beuthge wurde am 4. Juli 1880 in Berlin geboren. Laut Gestapoquelle war sein Beruf Hausdiener, an anderer Stelle wird er als Dreher bezeichnet. Als KPD-Mitglied hatte er aktiv an der Novemberrevolution 1918 teilgenommen. Er soll vor dem Reinickendorfer Rathaus die Revolution ausgerufen haben, und es finden sich sehr eloquente Redebeiträge von ihm im Berliner Arbeiter- und Soldatenrat. Später betrieb er ein Tabak- und Zigarrengeschäft in der Schubartstraße 36 (heute 61) in Borsigwalde. Über seine Frau Anna, geboren am 1. Juni 1883 als Anna Rossius in Viethmannsdorf in der Schorfheide, wissen wir sehr wenig. Das Ehepaar hatte drei Söhne: Ernst, geboren am 3. März 1903, Walter, geboren am 22. Juni 1904, und Friedrich, geboren am 19. Juni 1906.
Ernst erlernte als einziger der Söhne keinen Beruf. Er arbeitete zuerst als Lagerarbeiter und leitete dann bei Siemens ein Lager. Von 1928 bis 1933 war er arbeitslos. Im Jahr 1927 heiratete er Ella, geborene Dahlke. Das Ehepaar hatte eine Tochter Doris, geboren am 15. August 1934.
Der zweitälteste Sohn Walter war von Beruf Feinmechaniker und arbeitete nach dem Lehrabschluss in mehreren Betrieben, zuletzt als Werkmeister bei der Firma Patin am Charlottenburger Ufer. Verheiratet war er mit der am 13. April 1908 geborenen Charlotte Becker. Die Eheleute hatten zwei Töchter, Ingeborg (geboren 1934) und Bärbel (geboren 1943, fünf Tage vor dem Tod ihres Vaters), zudem hatten sie einen Jungen griechischer Herkunft adoptiert: Tussias Politarios, geboren 1927. Die Familie wohnte bis 1933 in der Schubartstraße 36 (heute 61), dem Wohnhaus von Walters Eltern.
Friedrich Beuthke, genannt Fritz, war der jüngste Sohn. Er ergriff einen Metallberuf, wurde Schweißer und arbeitete bei der Firma Flohr in Reinickendorf. 1933 heiratete er Charlotte Wielsch, geboren am 6. Juni 1909. Zu dieser Zeit war Friedrich schon länger arbeitslos. Das Paar hatte keine Kinder.
Die drei Söhne von Richard und Anna Beuthke lebten im Reinickendorfer Ortsteil Borsigwalde. Hier dominierte die Eisen- und Stahlindustrie (Rüstungsindustrie). Der Ortsname Borsigwalde zeigt es deutlich: Die Firma Borsig hatte den Ortsteil entstehen lassen. Der kommunistische Vater prägte die Söhne, auch sie wurden Kommunisten. Inwieweit das auch auf die Frauen zutraf, geht aus den Quellen nicht genau hervor. Die Frau von Ernst, Ella, war nach Aussage ihrer Tochter und einer Nachbarin ganz unpolitisch.
Der Erste Weltkrieg, die wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik mit Inflation und Arbeitslosigkeit trafen auch die Familie Beuthke hart: Immer wieder waren die Männer arbeitslos, z.T. jahrelang.
Lebensmittelpunkt der Familie war die Kleingartenkolonie „Gartenfreunde“. Sie erstreckte sich östlich der heutigen Otisstraße bis zum Fasanenweg und in dessen Verlängerung bis zur damaligen Promenade; die nördliche Begrenzung bildete die Wittestraße, im Süden die Seidelstraße. Die Kolonie war also erheblich größer als die heutige Kleingartenanlage.
Nach einer Darstellung des Berliner Polizeipräsidenten von 1933 hatte der Verein 1933 ca. 600 Mitglieder, davon galten ca. 80 Prozent als Kommunisten. Zweck des Vereins war neben der Pflege der Geselligkeit und des Sports die praktische Unterweisung zur Erweiterung des Wissens der Mitglieder. Nach der sogenannten Gleichschaltung des Vereins sah die neue Satzung von 1934 als Vereinszweck die Nutzung des Kleingartenlandes im Sinne der Verbundenheit von Blut und Boden als Grundlage für Staat und Volk vor. Vor 1933 und trotz der Gleichschaltung auch danach war die Gartenkolonie offenbar ein kommunistisches Biotop, deswegen wurde sie im Volksmund „Klein Moskau“ genannt. Hier hatten die Eltern Richard und Anna eine große Laube, sie befand sich in der Innungsstraße, nach damaliger Zählung in der Nummer 44. Hier lebte nach 1933 auch Sohn Walter mit seiner Familie. Sein Bruder Ernst hatte im Sonnenweg 22 und Friedrich im Sonnenweg 31 eine Laube. Aufgrund der damals herrschenden Wohnungsnot wurden die Lauben als Wohnungen genutzt. Der Zusammenhalt der „Kolonisten“ war offenbar stark. Es gab ein Vereinshaus, es wurden gemeinsame Feste gefeiert, man unterstützte sich gegenseitig, wie uns eine Zeitzeugin berichtete. Der heutige Kleingartenverein Gartenfreunde umfasst Restflächen im Norden und Süden der ehemaligen Kolonie, ein großer Teil wurde Anfang der 1960er Jahre mit Wohnbauten von der GEWOBAG bebaut.
Die Ereignisse, die zur Ermordung fast der ganzen Familie und ihrer Freunde führten, reichen ins Jahr 1933 zurück. In den letzten Jahren der Weimarer Republik gab es in Berlin heftige Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und der SA. Ernst Beuthke, offenbar ein sehr kämpferischer Mann, wie auch sein späteres Leben zeigt, wurde 1933 bei einer Auseinandersetzung mit SA-Leuten in der Gegend der heutigen General-Barby-Straße / Scharnweberstraße durch einen Bauchschuss schwer verwundet. Laut Aussage der Tochter Doris wurde er durch einen berühmten Arzt in der Charité, vielleicht Ferdinand Sauerbruch, gerettet. Nach seiner Genesung wurde es ihm nach der Machtübergabe an die NSDAP in Deutschland zu gefährlich und er floh in die Sowjetunion. Das muss Ende des Jahres 1933 gewesen sein, denn seine Tochter Doris wurde im August 1934 geboren. Seine Familie hörte danach offenbar nichts mehr von ihm. Nur seine Frau Ella hat nach Angaben der Tochter davon erfahren, dass er in der Sowjetunion ein Kind mit einer anderen Frau hatte. Das war sicher die Ursache für die Scheidung im Jahr 1941.
Ernst Beuthke nahm im Thälmann-Bataillon am Spanischen Bürgerkrieg teil, kehrte als Offizier in die Sowjetunion zurück und arbeitete dort in einem Panzerwerk im Kaukasus Im Jahr 1943 gelangte er über Umwege nach London. Von dort flog er mit einem britischen Flugzeug nach Berlin und sprang mit einem Funkgerät westlich der Stadt ab. Er wandte sich an seine Familie. Verwandte und Freunde brachten ihn in wechselnden Quartieren unter und verpflegten ihn. Das war ziemlich unvorsichtig und führte schließlich zur Katastrophe. So tauchte er z.B. in der Gartenkolonie auf, wo ihn viele kannten.
Seine Tochter berichtete uns, dass sie dort ein fremder Mann – sie war damals neun Jahre alt – angesprochen und geküsst habe. Ihre Familie erklärte ihr daraufhin, das sei ihr Vater gewesen, den sie nur dieses eine Mal gesehen hat. Die ganze Familie – bis auf Ella – habe sich in der Laube der Großeltern und des Bruders Walter getroffen. Ein Denunziant informierte die Gestapo. Nach der Verhaftung der Familienmitglieder seien dann Männer mit Knüppeln zum Haus des Denunzianten gezogen, um diesen zu erschlagen. Er habe aber vorher einen Herzinfarkt erlitten.
Nach den Unterlagen in der Entschädigungsakte für Walter Beuthke wurde als erster Ernst Beuthke verhaftet, danach seine geschiedene Frau Ella. Diese wurde aber nach zehn Tagen wieder freigelassen, weil man ihr glaubte, dass sie von der ganzen Angelegenheit nichts gewusst habe. In der Haft soll ihr Ernst vorgeführt worden sein. Sie habe ihn aber kaum erkannt, weil er durch Folterungen schwer verletzt und entstellt war.
Vermutlich etwa zum selben Zeitpunkt wurden am 18. Mai 1943 alle Unterstützer von Ernst Beuthke verhaftet: seine Eltern Richard und Anna, seine Brüder Walter und Friedrich, dessen Frau Charlotte und deren Eltern, der Porzellandreher Emil Becker und seine Frau Anna, die in der Schubartstraße 36 (heute 61) lebten. Von den Familienmitgliedern wurde einzig Walters hochschwangere Frau Charlotte verschont. Inhaftiert wurden außerdem Wally und Fritz Radoch, vermutlich Freunde von Walter Beuthke. Sie wohnten in Wittenau in der Kolonie An der Höhe, Waidmannsweg 82, am heutigen Mauschbacher Steig. Fritz Radoch, geboren am 3. Juni 1903, war von Beruf KFZ-Schlosser, der sich durch eine Zusatzprüfung im Bereich Kalkulation als Werkmeister qualifiziert hatte. Seine Frau Wally, geboren am 21. Mai 1904, arbeitete als Verkäuferin im Kaufhaus Hertie am Dönhoffplatz. Ebenfalls verhaftet wurde die Schwester von Wally, Charlotte Hundt, geboren am 20. Juni 1900, eine gelernte Kontoristin. Diese war eine aufrechte, tatkräftige, politisch bewusste Frau, wie uns ihre Tochter Marianne berichtete. Charlotte Hundt nahm alle Schuld auf sich, sodass ihr ebenfalls verhafteter Mann Willy nach einigen Tagen freigelassen wurde und in sein Haus am Hügel zu den beiden Töchtern zurückkehren konnte. Allerdings wurde bis Kriegsende ein Spitzel in seinem Haus einquartiert.
Zu den Verhafteten gehörten außerdem Dora Baumann und Ella Trebe aus Berlin sowie Heinrich Müller und seine Ehefrau Lina, als deren letzter Wohnsitz Freiburg im Breisgau angegeben wurde. Die Schicksale der vier Letztgenannten wurden von uns nicht recherchiert, weil sie nicht im Bezirk Reinickendorf lebten und somit für eine Stolpersteinverlegung in Reinickendorf nicht in Betracht kamen.
Für Ella Trebe, die damals in Wedding wohnte und als KPD-Mitglied bis 1933 der Weddinger Bezirksverordnetenversammlung angehörte, liegt bereits ein Stolperstein in der Togostraße 78 in Wedding.
Alle Verhafteten wurden in die Gefängnisse in der Prinz-Albrecht-Straße und am Alexanderplatz gebracht. Ob sie dort, ebenso wie Ernst Beuthke, gefoltert wurden, ist nicht bekannt. Angehörige und Freunde konnten sie mit Kleidung und Lebensmitteln versorgen, durften aber nicht mit den Inhaftierten sprechen. Lediglich die Tochter von Charlotte Hundt, Marianne, berichtet von einem letzten Zusammentreffen mit ihrer Mutter, bei dem auch ihr Onkel Fritz Radoch anwesend war.
Auf ausdrücklichen Befehl Heinrich Himmlers wurden dann die Gefangenen aus Berlin ins KZ nach Sachsenhausen überführt,am 10. August 1943 die Männer und am 11 die Frauen in der dortigen Genickschussanlage ermordet.. Eine Gerichtsverhandlung hat es nicht gegeben.
Die Familien wurden erst später und erst auf Anfrage über den Tod ihrer Angehörigen informiert. Die Schwester von Walter Beuthkes Ehefrau Charlotte und wohl auch Charlotte selbst sprachen in der Prinz-Albrecht-Straße bei einem Kommissar Strübing vor, erhielten aber keine konkreten Auskünfte, sondern wurden lediglich hin- und hergeschickt. Daraufhin fuhren sie selbst ins KZ Sachsenhausen, und schließlich wurden den Familien kommentarlos die Sterbeurkunden vom Standesamt Oranienburg übersandt. Auf den Urkunden waren lediglich Zeit und Ort des Todes verzeichnet. Die persönlichen Gegenstände der Ermordeten, einschließlich der Eheringe, wurden eingezogen. Die Herausgabe der Urnen wurde verweigert. Nichts sollte an die Toten erinnern.
Dies änderte sich auch nach 1945 nicht wesentlich. Nach Kriegsende war ganz Berlin kurze Zeit allein von den Sowjets besetzt. In dieser Zeit wurde in Borsigwalde die General-Barby-Straße in Ernst-Beuthke-Straße umbenannt. Die Franzosen machten dies aber nach Übernahme ihres Sektors schnell rückgängig. Die Kommunisten, kurze Zeit unter den Sowjets Helden, galten wieder als Staatsfeinde wie zuvor bei den Nationalsozialisten. Eine gewisse Ausnahme bildete die Kolonie Gartenfreunde. Hier gab es lange Zeit eine Ausstellung für die Familie Beuthke, und noch heute erinnert eine Gedenktafel an sie.
Die Hinterbliebenen der Mordopfer mussten z.T. lange um eine gewisse Entschädigung kämpfen. Manche haben diese Entschädigung nicht mehr erlebt. Die Opfer des Faschismus wurden als solche registriert. Der Opferstatus brachte in den westlichen Bezirken aber wenig materielle oder andere Vorteile. Anders sah das in der damaligen SBZ und der späteren DDR aus. Hier genossen die Opfer des Faschismus, besonders natürlich die Kommunisten, hohes Ansehen .
Nach Kriegsende übergab Charlotte, Walter Beuthkes Ehefrau, im ehemaligen KZ Sachenhausen, das von der Sowjetunion weiter als Lager genutzt wurde, Fotos und Dokumente über die Familie Beuthke. Diese wurden ins Russische übersetzt und liegen heute im Archiv in Moskau.
Ernst Beuthke und seine Familie wurden in Sachsenhausen besonders geehrt. Der Kampf gegen die Faschisten, die Beteiligung am Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion, Kampf in Spanien und Aufopferung im Krieg – das machte ihn in den Augen der Kommunisten in der SBZ und späteren DDR zum Helden. Um die Erinnerung an ihn kümmerte sich besonders die VVN.
In der heutigen Gedenkstätte Sachsenhausen erinnert eine kleine Sonderausstellung an einer Außenmauer an Ernst Beuthke und seine Unterstützer.
Unsere Recherchen haben die tragische Geschichte der Familie Beuthke wieder ans Licht gebracht. Einige wenige Familienmitglieder und andere Zeitzeugen haben die Mordaktion bis heute überlebt. So leben noch die beiden Töchter von Walter Beuthke. Sie wollen jedoch mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Nach der Verlegung der Stolpersteine haben wir Kontakt gefunden zur Tochter von Ernst, die ja ihren Vater nur einmal gesehen, aber nicht erkannt hat. Es meldete sich auch eine Nachbarin aus der Kolonie, die die ganze Familie kannte und viele Details berichtete, die die Personen wieder zum Leben erweckt haben. Es fand sich auch eine Schulfreundin der Tochter von Ernst, die ebenfalls Details beigetragen hat.
Die meisten Angaben entnahmen wir jedoch den Akten des Landesarchivs, besonders aber denen des Entschädigungsamtes. In Sachsenhausen liegen nur wenige Unterlagen vor. Darüber hinaus hat uns auch die aufgeführte Literatur weiter geholfen.
Die Ermordeten haben keine Grabsteine, ihre Überreste wurden beseitigt. Ihre Verfolger und Mörder sind vermutlich niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Jetzt aber erinnern wenigstens die Stolpersteine an Menschen, die Gegner des Nationalsozialismus waren, ihm entgegentraten und für ihre Überzeugung starben. Selbstlos halfen sie einem der ihren, trotz der großen Gefahr, in die sie sich damit brachten. Nach 1945, als viele der Mittäter im Nationalsozialismus lautlos die Seiten wechselten, wollte man mit den Opfern nichts zu tun haben – schon gar nicht mit den Sozialisten und Kommunisten.
Auf Menschen wie die Familie Beuthke und ihre Freunde und Kameraden kann man sich heute noch berufen, weil sie sich aktiv einem mörderischen System entgegenstellten.
Es wurde Zeit, dass man sich an sie erinnert.