Erich Reuss

Verlegeort
Müllerstraße 38
Bezirk/Ortsteil
Wedding
Verlegedatum
17. Februar 2022
Geboren
29. Oktober 1887 in Ostfriesland
Beruf
Arzt
Flucht
1938 USA
Überlebt

Erich wurde am 29. Oktober 1887 in Ostfriesland geboren. Er war der erstgeborene Sohn von Heinrich und Selma Reuss. Heinrich, sein Vater, war Lehrer und Schriftsteller. 1894 zog die junge Familie nach Aurich. Hier fand Heinrich eine Stelle als Lehrer. Im Jahr 1908 zogen sie erneut um, diesmal nach Berlin. Inzwischen hatte die Familie fünf weitere Kinder, Gunther, Kurt, Irma, Hilda und Franz, bekommen.

1909 erhielt Erich ein Stipendium für ein Medizinstudium an der Universität in Frankfurt/Main. Er war klug und hatte auch Glück. Es war ungewöhnlich, als jüdischer Student ein Stipendium zu bekommen. 1913 ging Erich wieder nach Berlin zurück, um sein Studium abzuschließen. 

1914 musste er in den Ersten Weltkrieg ziehen. Er kam an die Westfront. Erich erhielt für seine Verdienste das Eiserne Kreuz.

Nach dem Krieg eröffnete er seine allgemeinmedizinische Praxis im Westen Berlins.

Seine zukünftige Frau Martha hatte Erich 1923 in Graz kennengelernt. Sie heirateten weniger als ein halbes Jahr darauf, am 16. Oktober 1923 in Österreich.

Nun verheiratet, zogen Erich und Martha in die Müllerstraße 38 im Wedding in eine große Wohnung, die sowohl Arztpraxis war als auch für das Privatleben geeignete Räume bot. Im Februar 1925 wurde die Tochter Eva geboren. Besonders Erich war begeistert von ihr. Fünf Jahre später, im April 1930, kam der Sohn Heinrich zur Welt.

Mit der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Ausschaltung der Demokratie und der rechtlichen Diskriminierung der Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Erichs jüngster Bruder und seine beiden Schwestern waren bereits nach Palästina ausgewandert.
1936 reiste Erich nach Palästina, um sie zu besuchen und zu sehen, ob er und seine junge Familie dorthin auswandern sollten.

Aufgrund der antijüdischen Gesetzgebung, war es jüdischen Kindern zunehmend erschwert, öffentliche Schulen zu besuchen, so dass viele Familien auf rein jüdische Schulen ausweichen mussten. Martha betonte, dass es Zeit war, das Land zu verlassen. Aber Erich fühlte sich als Deutscher und vertrat die Meinung, das politische Klima würde sich wieder ändern.

Doch Martha ließ sich nicht von ihrem Wunsch abbringen, zu gehen. Wegen der sogenannten „Reichsfluchtsteuer“ war es Auswanderern kaum möglich, ihr Vermögen außer Landes zu schaffen. Dies betraf ab 1933 vor allem die jüdische Bevölkerung in Deutschland. Martha jedoch hörte von einem Mann, der über die Niederlande Geld an jeden gewünschten Ort der Welt transferieren konnte. Unter erheblichem Risiko überredete sie den Direktor ihrer Bank, ihr all ihre Ersparnisse auszuzahlen. In gutem Glauben übergab sie ihr Vermögen an den Helfer.  Es war entweder ein Akt großen Vertrauens oder großer Naivität. Sie musste hoffen, dass ihr Geld es wirklich in die Niederlande schaffte.

Nach einer persönlichen Anfeindungskampagne, in der Erich sogar mittels Plakaten in der unmittelbaren Nachbarschaft diffamiert wurde, fasste auch Erich den Entschluss, Berlin und Deutschland zu verlassen.

Die Familie entschied, in die USA auszuwandern. Doch Ende der 1930er Jahre war die Konkurrenz um amerikanische Visa groß und die Einwanderungsquoten des Landes gering. Aber die USA bevorzugten Ärzte bei der Einwanderung und so hatte Erich wieder einmal Glück.

Er hatte einen Patienten, der im Passamt arbeitete und ihm Familienpässe ausstellte, die nicht mit „Jude“ gekennzeichnet waren. Dieser helfende Akt erleichterte die Ausreise aus Deutschland erheblich. Erich reiste sechs Monate vor Martha und den Kindern ab. Der Plan war, dass er für seine Familie bereits eine stabile Basis in dem fremden Land aufbauen würde. Frau und Kinder würden ihm dann nachfolgen.

Erich ging wie geplant als erster. Er hatte in der Schule Englisch gelernt und fühlte sich bei der Prüfung zur Berufszulassung einigermaßen sicher. Mit 51 Jahren fing er in einem neuen Land komplett von vorn an. 

In New York und legte Erich dann die Medical Board Examen ab. Er bestand die Prüfungen und beschloss, sich in Brooklyn, New York, niederzulassen.

Nun verließen Martha und ihre beiden Kinder Berlin mit dem Zug. Kurz vor der Abfahrt, wurden Personen aus dem Zug geholt, weil ihre Pässe den Stempel „Jude“ trugen. Dank des helfenden Passfälschers konnte die Familie diese Gefahr umgehen. Kurz vor der Abreise kam noch Erichs Bruder Gunther, um sie zu verabschieden. Er war der letzte verbliebene Reuss-Verwandte in Berlin. Kurz darauf reiste er mit seiner Familie nach Südafrika aus.

Martha und die Kinder gingen nach London und blieben bei Verwandten. Der riskante Finanztransfer in die Niederlande hatte tatsächlich geklappt. Sie konnte das Geld von dort nach New York überweisen.

Die Familie Reuss ließ sich 1938 in Brooklyn nieder. Sie lebten in einer Wohnung, die der Berliner sehr ähnlich war. Sie war geteilt und besaß einen Bereich für die Praxis und einen für den Wohnbereich. Martha bestand mehrere Jahre darauf, dass zu Hause alle Englisch sprechen, um die Sprachkenntnisse der Kinder zu verbessern. Sobald die Kinder fließend sprachen, wurde zu Hause wieder Deutsch gesprochen.

Als sie Deutschland verließen, wussten sie keine Ahnung von der fürchterlichen Tragweite der nationalsozialistischen Judenpolitik. Als die Nachrichten bekannt wurden, waren sie schockiert und versuchten, etwas über Marthas Familie herauszufinden, die sich noch in Graz befand. Die meisten ihrer Verwandten konnten nicht fliehen und wurden in der Shoah ermordet.

1966 entschlossen sich Erich und Martha nach Phoenix umzuziehen. Martha hatte ihn überredet, sich aus dem Arztberuf zurückzuziehen und er hatte schließlich zugestimmt.

Erich starb 1970 in Scottsdale, Arizona. Alle seine lebenden Geschwister waren in den Monaten vor seinem Tod aus der ganzen Welt gekommen, um ihn zu besuchen. Gunther kam aus Südafrika, Hilda und Franz kamen aus Israel.

Martha zog nach Erichs Tod von Phoenix nach Scottsdale und führte viele Jahre lang ein aktives soziales Leben. Sie reiste nach Australien, um ihre Schwester und ihren Bruder zu besuchen, die sich vor dem Krieg dort niedergelassen hatten. Sie genoss es, Zeit mit ihren Kindern und Enkeln zu verbringen. Sie lebte noch 20 Jahre nach Erichs Tod und starb 1990.