Heinrich Reuss

Erich und Martha, die Eltern, hatten sich in Graz kennengelernt. Sie heirateten weniger als ein halbes Jahr später, am 16. Oktober 1923, außerhalb von Graz.
 
Nun verheiratet, zogen Erich und Martha in die Müllerstraße 38 im Wedding in eine große Wohnung, die sowohl Arztpraxis als auch für das Privatleben geeignete Räume bot.
Im Februar 1925 wurde ihre Tochter Eva geboren. Fünf Jahre später, im April 1930 kam ihr Sohn Heinrich zur Welt.

Mit der Machtergreifung im Jahr 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Ausschaltung der Demokratie. Als erste bekam es die jüdische Bevölkerung zu spüren.
 
Zu diesem Zeitpunkt durften die jüdischen Kinder die öffentlichen Schulen nicht mehr besuchen und konnten nur die jüdischen Schulen besuchen. Martha betonte, dass es Zeit war, zu gehen. Aber Erich fühlte sich als Deutscher und vertrat die Meinung das politische Klima würde sich wieder ändern.

Erich hatte sich Mitte der 1930er Jahre in der Berliner Kommunalpolitik engagiert. Irgendwann hängte jemand ein Plakat mit seinem Namen und abfälligen Informationen über ihn in seiner Nachbarschaft auf. Er konnte sie gar nicht schnell genug abnehmen, wie sie wieder neu angebracht wurden. Seine Kinder konnten jetzt lesen. Die Gründe zum Bleiben waren verschwunden. Jetzt hatte es sogar Erich eilig, Berlin zu verlassen.
 
Erich hatte einen Patienten, der im Passamt arbeitete und die Familienpässe ausstellte, die nicht mit „ Juden “ gekennzeichnet waren . Dieser einzige Akt erleichterte ihre Reise aus Deutschland erheblich. Erich ist sechs Monate vor Martha und den Kindern abgereist. Der Plan war, dass er die medizinische Prüfung (oder Prüfungen) in den USA ablegt und dann eine Wohnung sucht. Der Rest der Familie würde ihn dann treffen.

Erich ging wie geplant als erster. Er hatte in der Schule Englisch gelernt und fühlte sich bei der ärztlichen Prüfung einigermaßen sicher, obwohl er kontinuierlich lernte. Er war 51 Jahre alt. Er fing komplett neu an, in einer neuen Sprache, in einem neuen Land.

Sechs Monate später verließen Martha und ihre beiden Kinder Berlin mit dem Zug. Bevor sie gingen, wurden Juden aus dem Zug entfernt, weil sie den Stempel ,,Juden“ hatten. Da die Familie Reuss keinen Stempel hatte, saßen sie still und blieben im Zug. 
Martha und die Kinder gingen nach London und blieben bei Verwandten. Sie konnte das Geld von Holland nach New York überweisen.

Die Familie Reuss ließ sich 1938 in Brooklyn nieder, in einer Wohnung, die der Berliner Wohnung sehr ähnlich war. Sie war geteilt und ermöglichte einen Bereich für die Praxis und den anderen Bereich für das Wohnen. Martha bestand mehrere Jahre darauf, dass zu Hause alle Englisch sprechen, um die Sprachkenntnisse der Kinder zu verbessern. Sobald die Kinder fließend sprachen, wurde zuhause wieder Deutsch gesprochen.
Die Kinder nahmen amerikanisierte Namen an und hießen nun Eve und Henry. Eve hatte es leichter, Freunde zu finden und blühte in ihrer neuen Umgebung auf.

Henry trat den Pfadfindern bei und das bot ihm die beste Möglichkeit, Freunde im neuen Land zu finden. Auch in der Schule war er gut und wurde wie sein Vater Arzt. Er hat sich auf Geburtshilfe/Gynäkologie spezialisiert.

Er heiratete Phyllis Funk, eine Ärztin, und sie bekamen eine Tochter, Suzanne, in Brooklyn, bevor ihn die US Air Force nach Arizona schickte.

Henry schuldete der US Air Force Zeit, nachdem er sein Medizinstudium abgeschlossen hatte und er wurde auf einem Luftwaffenstützpunkt in Arizona eingesetzt. Nachdem er seine zwei Jahre dort verbracht hatte, beschlossen er und seine Frau, in Arizona zu bleiben. Es war 1961, der Staat war jung und es gab enormes Potenzial für einen jungen, fleißigen Arzt und seine Familie. Inzwischen hatte er eine weitere Tochter, Judith, und eine dritte, Sharon, war auf dem Weg.

1968 kehrten Henry und seine Frau für einen Urlaub nach Deutschland zurück. Sie besuchten die Müllerstraße 38 und viele der Nachbarn, die Henry kannte, wohnten noch immer dort. Leider wurde er nicht herzlich begrüßt; es war noch zu nah am Krieg. Die Nachbarn machten sich Sorgen, dass er etwas von ihnen wollte. Er wollte nur Hallo sagen. Er war erst 8 Jahre alt, als er ging, und seine Erinnerungen waren bemerkenswert angenehm. 
 
Ein Jahr später ließ sich Henry und Phyllis scheiden und Henry heiratete Diane Wynia.

Drei Wochen nach Erichs Tod gebar Henrys zweite Frau Diane einen Sohn, Eric. Drei Jahre später wurde die Tochter Michelle geboren.

Henry reiste viel mit seiner Frau Diane. Sie leisteten medizinische Missionsarbeit in Kenia. Seine Kinder und Enkel waren ihm eine ständige Quelle der Freude. Er starb 2019 in Scottsdale.