Leo Lesser Cohn

Verlegeort
Berchtesgadener Str. 35
Bezirk/Ortsteil
Schöneberg
Verlegedatum
10. Juli 2023
Geboren
05. November 1892 in Gollub (Westpreußen) / Golub-Dobrzyń
Beruf
Drogist
Deportation
am 10. August 1944 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Leo Lesser Cohn kam am 5. November 1892 in Gollub (damals in der preußischen Provinz, heute Polen) zur Welt. Er hatte zwei Brüder: Eduard und Ludwig.

Im Ersten Weltkrieg war er Soldat und diente während der gesamten Dauer des Krieges in der Artillerie.

Am 5. November 1926 heiratete er Rosette Lump, die am 11. Juni 1903 in Wüstensachsen (Hessen/Nassau), nahe Fulda geboren war.

Sie hatten zwei Töchter: Dorothea Doris Hulda, geboren am 10. Februar 1928 in Hameln und Hanna, geboren am 9. Mai 1929 in Berlin-Heinersdorf.

Leo war Drogist. 1928 war das Ehepaar nach Berlin gezogen und hatte in der Kronprinzenstraße 12 in Heinersdorf eine Drogerie eröffnet. Rosette ließ sich ebenfalls zur Drogistin ausbilden und arbeitete mit ihrem Mann im Geschäft. Die Familie wohnte in einer Wohnung über der Drogerie. Heinersdorf war zu dieser Zeit noch sehr ländlich geprägt und wirkte wie ein Dorf nahe Berlin. (Die Straße wurde 1951 umbenannt in Romain Rolland-Straße, das Haus, in dem sich die Drogerie befand, existiert nicht mehr.)

Nach der Machtübernahme der Nazis ließen die Umsätze deutlich nach, weil viele ehemalige Kunden das jüdische Geschäft mieden. 1937 gaben sie das Geschäft auf.

Ob die Drogerie arisiert wurde oder ob sie gezwungen wurden, das Geschäft zu liquidieren, ist nicht mehr aufzuklären. Zu dieser Zeit waren etwa 60% der jüdischen Geschäfte zwangsgeschlossen.

Dennoch betrieb das Paar noch zwei weitere Drogerien, und zwar in der Kopenhagener Straße und in der Barbarossastraße. Beide wurden in der Pogromnacht im November 1938 geplündert und zerstört.

Ab Januar 1939 wurden sämtliche Betriebe jüdischer Eigentümer zwangsgeschlossen und Juden die Ausübung praktisch aller Berufe verboten. 

Leopold Lump, ein jüngerer Bruder von Rosette, war ebenfalls Drogist und führte ein Geschäft in der Prenzlauer Straße (heute Karl Liebknecht-Straße).

1938 wurde diese Drogerie während des Novemberpogroms ebenfalls  demoliert. Leopold floh 1939 nach Belgien und Frankreich, wurde im März 1943 verhaftet und über Gurs nach Majdanek deportiert, wo er ermordet wurde.

Die Familie war 1938 in die Berchtesgadener Straße 35 in das Gartenhaus, 2. OG gezogen. Die Wohnung hatte 2 ½ Zimmer. Am 23. Mai 1939 starb die Mutter von Rosette, worauf die Familie Rosettes Vater, Bernhard Lump, zu sich nach Berlin holte.

Rosette musste Zwangsarbeit bei Siemens-Schuckert in Siemensstadt leisten. Sie erhielt 25 Reichsmark in der Woche, so trug sie es in der Vermögenserklärung kurz vor ihrer Deportation ein.

Vermutlich hat auch Leo Zwangsarbeit leisten müssen als Chemiker in einer Rüstungsfabrik.

Am 1. August 1939 sandten die Eltern die beiden Töchter mit dem letzten der Kindertransporte nach England.

Dorothea erinnerte sich, dass auch ihre Eltern den Plan hatten, zu emigrieren. Als die Familie noch zusammen war, nahmen sie alle Spanischunterricht, weil sie planten, nach Südamerika zu emigrieren, doch zerschlug sich diese Möglichkeit.

Der Vater von Rosette, Bernhard Lump, wurde am 16. Dezember 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 13. Mai 1943 ermordet wurde.

Im Haus Berchtesgadener Straße 35 wohnten zur Zeit der Volkszählung im Mai 1939 43 jüdische Personen, von denen Anfang 1943 die meisten bereits deportiert oder verhaftet worden waren; drei Familien waren emigriert.

Am 1. März 1943 ist Leo Cohn untergetaucht und kurz zuvor Rosette, nämlich im Januar 1943 – so tragen sie es in ihre jeweiligen Vermögenserklärungen ein.

Wahrscheinlich stand ihre eigene Deportation kurz bevor:

Entsprechend gibt es ein Schreiben an die Gestapo vom 18. Mai 1943, dass Leo Cohn am 27. Februar „evakuiert“ worden sein sollte. Er werde aber in der Kartei abgeschobener Juden nicht geführt. Man bitte um Mitteilung, ob die Abschiebung erfolgt sei.

Rosette und Leo Cohn lebten versteckt bei Bekannten in Berlin. Vermutlich wurden sie von einem Juden an die Gestapo verraten, der dadurch seine eigene Deportation vermeiden wollte. So erzählte es die Tochter Dorothea in einem Interview, das sie am 27. April 2017 dem United States Holocaust Memorial Museum gab. Sie war zu dieser Zeit 89 Jahre alt. Dorothea: „Sie hätten es fast geschafft. Sie wurden von Nicht-Juden versteckt. Ein anderer Jude hat das Versteck gemeldet, und alle wurden verhaftet, auch diejenigen, die die Eltern versteckt hatten.“

Rosette wurde in der Blindenanstalt von Otto Weidt am 15. Oktober 1943 verhaftet. Zu Otto Weidt hatte sie wahrscheinlich Kontakt bekommen, weil Bewohnerinnen des Hauses Berchtesgadener Straße 35 in der Werkstatt von Otto Weidt untergekommen waren. Alice Licht arbeitete seit 1941 in der Werkstatt als Sekretärin. Alice wurde mit ihren Eltern im Februar 1943 in einem Lagerraum versteckt, den Otto Weidt angemietet hatte. Acht Monate später erfuhr die Gestapo von dem Versteck. Die Familie wurde im November 1943 in das Ghetto Theresienstadt und sechs Monate darauf nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

Auch die Zwillingsschwestern Anneliese und Marianne Bernstein wurden durch Vermittlung von Otto Weidt versteckt. Sie überlebten das Kriegsende.

Die Verfügung über die Einziehung ihres Vermögens wurde Rosette am 27. Oktober 1943 in das Sammellager Große Hamburger Straße zugestellt.

Zwei Tage später, am 29. Oktober 1943, wurde Rosette Cohn mit dem 45. Osttransport mit 49 weiteren Personen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Erst neun Monate später wurde Leo Cohn verhaftet. Er trägt in die Vermögenserklärung, die er am 10. August 1944, also am Tag der Deportation ausfüllt, ein, dass er bis zum 1. März 1943 in der Berchtesgadener Straße gewohnt habe, dann „illegal“ lebte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er wohl – ebenso wie Rosette – Zwangsarbeit leisten müssen, doch trägt er dazu nichts in die Vermögenserklärung ein. (Ein Freund der Familie, der das Ehepaar besucht hatte, erzählte dies später der Tochter Dorothea.) Die Verfügung über den Einzug seines Vermögens war bereits am 1.5.44 ausgestellt worden; er erhält sie am 10. August in die Sammelstelle Schulstraße. (Anfang März 1944 war das Lager Große Hamburger Straße in die ehemalige Pathologie des Jüdischen Krankenhauses in der Schulstraße im Berliner Wedding umgezogen.)

 

Leo wurde am 10. August 1944 mit einem der letzten Deportationszüge nach Auschwitz deportiert. Es war der sogenannte 56. Osttransport mit lediglich 38 Personen.

Auf die Frage in der Vermögenserklärung „Welche Familienangehörigen sind schon ausgewandert? Wohin?“ schreibt Leo: „2 Kinder, England“ und Rosette schreibt: „Dori Sara C. und Hanna Sara C.: USA. (Möglicherweise wähnte Rosette die Töchter in Gefahr, falls es Deutschland gelänge, in England nach den Kindern zu suchen und schreibt deshalb, sie seien in den USA. (Den von den Nazis befohlenen Zweitnamen „Sara“ trägt sie (jedoch) sowohl für sich als auch für die Töchter ein.))

Sowohl Rosette als auch Leo tragen auf den sechzehn Seiten der Vermögenserklärung keinerlei Besitz ein – weder Möbel, noch Kleidung und schon gar keine Vermögenswerte. Die Wohnung in der Berchtesgadener Straße wird zweimal von Gerichtsvollziehern begutachtet (am 25.3.44 und 30.6.44). Beide Gerichtsvollzieher bestätigen, dass die Wohnung bis auf ein wertloses Bett leer war. Dieses Bett wurde dem Hauswart Schulz „unentgeltlich“ überlassen.

Es gab noch zwei Bankguthaben des Ehepaars:

Die Reichsvereinigung der Juden musste am 15.2.44 dem Finanzamt 398,27 RM, die Rosette Cohn gehört hatten, überweisen.

Von der Dresdner Bank wurden dem Finanzamt am 21. Juni 1943 ein Betrag von 1.429 RM von Leo Cohns Konto überwiesen.

Fragen bleiben offen: Wo und bei wem hat das Paar versteckt gelebt (und wer hat sie später verraten)? Wahrscheinlich wurden sie von verschiedenen Menschen versteckt. Vielleicht ist Rosette von Freunden Otto Weidts versteckt worden, in dessen Werkstatt sie auch von der Gestapo verhaftet wurde. Leo ist neun Monate später verhaftet worden. Wahrscheinlich war er sogar in einem Versteck, das Rosette gar nicht kannte, sonst hätte sie es bei ihrer Verhaftung der Gestapo (unter Folter) verraten müssen.

Warum war ihre Wohnung in der Berchtesgadener Straße vollkommen leer? Mitnehmen konnten sie in ihr Versteck nichts – schon gar nicht irgendwelche Möbel. Verkauft haben konnten sie sie wahrscheinlich auch nicht, denn dann wäre ihre Fluchtabsicht ans Licht gekommen.

Die Töchter Dorothea und Hanna, 11 und 10 Jahre alt, waren am 1. August 1939 von ihren Eltern zum Bahnhof gebracht worden. Die Familie hoffte, bald wieder vereint zu sein. Besonders die Kinder konnten nicht ahnen, dass sie ihre Eltern nie wiedersehen würden. Den letzten Brief erhielten sie von ihrem Vater; er schrieb ihn am 10. März 1943. Er und Rosette lebten da bereits versteckt in Berlin. Der Brief wurde vom Deutschen Roten Kreuz an die Kinder weitergeleitet. Leo schreibt darin an seine „Geliebten Puppen!“ und er endet mit dem Wunsch, bald wieder mit ihnen vereint zu sein.

 

Als London von den Nazis bombardiert wurde, wurde die Schule, in die Hanna und Dorothea gingen, geschlossen und alle Kinder wurden aufs Land geschickt, wo sie bei Familien unterkamen. Das bedeutete, dass auch die englischen Kinder von ihren Eltern getrennt wurden, so dass die Schwestern sich gegenüber den englischen Kindern gleichbehandelt fühlten. Sie wohnten bei einem älteren Ehepaar, und Dorothea behielt sie in liebevoller Erinnerung. Später zogen die Schwestern zu einer deutschen Freundin ihrer Eltern, die in Staines in der Nähe von London wohnte.

Anschließend zog Dorothea zur Familie einer Schulfreundin, die jüngere Hanna wohnte bei einer anderen Familie und besuchte 1945 bis zur Auswanderung in die USA die North Western Polytechnic School. Diese Institution war eingerichtet worden, um junge Männer und Frauen umfassend praktisch und wissenschaftlich auszubilden.

Eine der Schwestern der Mutter sorgte dafür, dass Dorothea und Hanna 1946 in die USA gelangten. Diese Tante, Lea, genannt Berta, war – wie fast alle der Geschwister Rosettes - nach Shanghai geflohen und von dort in die USA gezogen. Dorothea hat sie sehr geliebt – Berta und ihr Mann Hans waren wie Eltern für die Mädchen.

Sie wurden von ihren Onkeln und Tanten, die in New York wohnten, vom Schiff abgeholt und lebten in einem Zwei-Familienhaus in Brooklyn.

Dorothea – jetzt Doris – schloss bereits im Januar 1948 eine Ausbildung als Innendekorateurin der New York School of Interior Decoration ab. Sie heiratete (in zweiter Ehe) 1955 Stanford Fingerhood und bekam 1958 ihren Sohn Steven. Dorothea starb im Dezember 2020.

Hanna besuchte die Drake Business School und erhielt im Juni 1947 ein Zeugnis als Sekretärin. Sie heiratete Erich Jawetz. Sie bekamen zwei Töchter: Linda, geboren 1956 und Karen 1958. Hanna starb im Juni 2014.