Martha Lewent geb. Grosz

Verlegeort
Marburger Str. 12
Bezirk/Ortsteil
Charlottenburg
Verlegedatum
19. Juni 2012
Geboren
14. Juni 1885 in Leipzig
Deportation
am 17. Mai 1943 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Martha Lewent geb. Grosz wurde am 14. Juni 1885 in Leipzig geboren. Ihre Mutter Anna, geb. Schauer, war Jahrgang 1861, ihr Vater, Bernhard Grosz, Jahrgang 1854. Das Grab von Marthas Eltern, die 1921 und 1926 starben, befindet sich auf dem alten israelitischen Friedhof in Leipzig. Martha hatte eine fünf Jahre ältere Schwester, Ella Gertrud (geb. 8. Juli 1880).

Ihr Vater war Direktor und Miteigentümer der „Kunstanstalt B. Grosz", einer großen Fabrik und Aktiengesellschaft mit über hundert Angestellten in Leipzig-Reudnitz. Sie stellte hochwertige Reproduktionen von Ölgemälden in einem komplizierten Ölfarben-Druckverfahren sowie Goldleisten und Rahmen her; später kamen Glasdrucke, Spiegel, Fotorahmen und ein Kunstverlag hinzu. Marthas Vater hatte klein angefangen: Zunächst hatte er nur Bilder gekauft, sie neu gerahmt und dann weiterverkauft. Zusammen mit seinem Bruder Sigmund hatte er diese Geschäftsidee dann binnen weniger Jahren zu einer riesigen, mit Dampfkraft betriebenen Fabrik ausgebaut, die ein Vermögen abwarf. Der Jahresumsatz betrug etwa eine Million Mark. Die Kunstanstalt Grosz war um die Jahrhundertwende anscheinend die einzige Fabrik in Deutschland, die Gemäldereproduktionen samt Rahmen komplett im eigenen Haus herstellte. Sie exportierte ihre Produkte in aller Herren Länder: Hier wird ein buntfarbiger Hausaltar in Dutzenden nach einem südamerikanischen Platze versandtfertig gemacht, dort sind farbenprächtige Öldruckbilder in Barockrahmen zur Reise nach Montevideo bereit; Genrebilder und Landschaften in Öldruck wandern nach allen vier Himmelsgegenden, schwärmt ein sächsisches Industriehandbuch 1892.

Die Familie Grosz lebte im Herzen der Leipziger Innenstadt, Täubchenweg 1. Das Haus steht noch und wurde vor einigen Jahren aufwendig restauriert.

Vor 1907 heiratete Martha Grosz den fünf Jahre älteren Berliner Fabrikanten Ernst Lewent und zog mit ihm in die Oranienstraße nach Berlin-Kreuzberg, in Fußentfernung zu Ernsts Möbelfabrik. Am 5. Februar 1907 bekam das Ehepaar einen Sohn, Heinrich Max. Bald darauf zog die junge Familie nach Charlottenburg in die Marburger Straße 12. Dort kam am 29. April 1913 ihre Tochter Irene zur Welt. Die Möbelfabrik florierte, auch besaß Marthas Mann mehrere Mietshäuser in Berlin, unter anderem in der Rückertstraße in Charlottenburg und in der Stierstraße in Friedenau, die er wohl auch selbst verwaltete und, wenn nötig, bauliche Veränderungen plante und ausführen ließ.

Über das Leben der Familie nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten sind nur wenige Details bekannt. Im Zuge der „Arisierung" verlor Marthas Mann seine Firma, die 1939 liquidiert wurde. Beiden Kindern der Lewents gelang in den 1930er-Jahren die Flucht nach Großbritannien, und sie verbrachten dort wohl den Rest ihres Lebens. Irene lebte zunächst in London, wo sie 1939 den Pelzhändler Leon Reichwald heiratete. Sie starb 1979. Heinrich starb 1963 in Henden/Middlesex. Ob Ernst und Martha Lewent ebenfalls zu emigrieren versuchten, ist nicht bekannt.

Im Zuge der „Arisierung" verlor Ernst Lewent auch alle seine Mietshäuser, wahrscheinlich durch Zwangsverkäufe unter Wert. Von einem dieser Mietshäuser, wir wissen nicht von welchem, scheint er allerdings den Schlüssel behalten zu haben, wohl weil er mit dem Käufer, einem nichtjüdischen Rechtsanwalt, befreundet war.

Spätestens Anfang 1943 hatten die Lewents im Dachboden dieses Hauses ein Versteck mit zwei Zimmern gebaut und eingerichtet. Wir wissen nicht, ob sie dieses Versteck selbst nutzten oder nutzen wollten. Im Februar 1943 stellten sie die Hälfte der verborgenen Wohnung der jüdischen Familie Goldstein zur Verfügung, die in dem Haus Mieter waren. Ernst Goldstein war bis zu den Berufsverboten Zigarrenvertreter gewesen und hatte mit seiner Frau Herta eine vierjährige Tochter, Evy. Evy war krank, und wenn sie hustete, brachte man sie immer an verschiedene Stellen im Dachboden, damit die Hausbewohner das Geräusch nicht orten konnten. Sechs Wochen später flog das Versteck trotzdem auf. Als die Hausmeisterin die Gestapo in den Dachboden führte, lockte das Ehepaar Lewent, das zu dem Zeitpunkt ebenfalls im Haus war, die Gestapo-Männer in ein Zimmer, das keine zweite Tür hatte. Ernst Goldstein drehte von außen den Schlüssel um und konnte mit Frau und Tochter im letzten Augenblick fliehen. Wahrscheinlich hat das Ehepaar Lewent Herta und Evy Goldstein durch diese Verzweiflungstat das Leben gerettet: Sie überlebten dank weiteren Helferinnen und Helfern in verschiedenen Verstecken den Holocaust. Ernst Goldstein wurde gefasst und in Auschwitz ermordet. Die Geschichte folgt dem Bericht von Evy Goldstein Woods, die wiederum den Erzählungen ihrer Mutter folgt; unabhängig verifizieren lässt er sich naturgemäß nicht. 

Am 17. Mai 1943 wurden Ernst und Martha Lewent aus ihrer Wohnung in der Marburger Straße 12 deportiert. Am Bahnhof Grunewald pferchte man sie mit 393 anderen Berliner Jüdinnen und Juden in Viehwaggons und brachte sie im 38. Osttransport nach Auschwitz. Wahrscheinlich wurden sie dort gleich nach der Ankunft vergast. Ihre Todesdaten sind unbekannt. Ernst wurde 63, Martha 57 Jahre alt. 

Marthas große Schwester Ella hatte in Leipzig den polnischstämmigen Rauchwaren-Großhandelskaufmann Heinrich Cohn-Grosz geheiratet. Unter Rauchwaren versteht man rohe oder gegerbte Felle für die Kürschnerei. 1901 hatte das Ehepaar eine Tochter bekommen, Annelise. Ella und ihrer Familie gelang die Flucht in die USA. Sie starb dort 1968.